992. Sitzung des Bundesrates am 3. Juli 2020
A
Der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik (AIS) und der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (U) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Mitteilung der Kommission und den damit vorgelegten Fahrplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte (soziale Säule). Sozialstaatlichkeit und Solidarität prägen die europäischen Gesellschaften.
- 2. Der Bundesrat begrüßt insbesondere die Bemühungen der Kommission, die soziale Dimension der EU zu stärken und durch konkrete Maßnahmen und Ansätze mit Leben zu erfüllen.
- 3. Der Bundesrat unterstützt daher das Vorhaben der Kommission, sich für mehr Aufwärtskonvergenz, soziale Gerechtigkeit und gemeinsamen Wohlstand einzusetzen.
- 4. Angesichts der umfassenden sozialen, ökologischen, technologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft sind gemeinsame ambitionierte Maßnahmen und entschiedenes Handeln auf europäischer Ebene nötig. In der Stärkung der sozialen Dimension der EU sieht der Bundesrat ein bedeutendes Element des Integrationsprozesses und ein zentrales Reformziel zur Zukunft der EU.
- 5. Der Bundesrat begrüßt das Vorhaben der Kommission, einen breit angelegten Diskussionsprozess zur ambitionierten Umsetzung der sozialen Säule mit den Mitgliedstaaten, Parlamenten, Sozialpartnern, Verbänden und Akteuren der Zivilgesellschaft anzustoßen, in dem diese sich zu weiteren erforderlichen Maßnahmen äußern und die nationalen Systeme hinsichtlich möglicher Sicherungslücken auf den Prüfstand stellen. Der Bundesrat merkt an, dass sichergestellt werden muss, dass dieser Diskussionsprozess ergebnisoffen geführt wird und die daraus resultierenden Ergebnisse für die Bürgerinnen und Bürger in angemessener Weise vorgestellt werden. Er verbindet damit die Erwartung, dass das mit der sozialen Säule ausdrücklich angestrebte und neu geweckte Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger für gemeinsame soziale Rechte und Grundsätze in der EU weiterentwickelt und ausgeformt wird.
- 6. Ferner begrüßt der Bundesrat, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Vorstellungen und Wünsche für ein soziales Europa über eine dafür eingerichtete Website einreichen können. Er weist an dieser Stelle darauf hin, dass leicht auffindbare, interaktive und nutzerfreundliche Plattformen, die durch eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit begleitet werden, mehr Menschen zur Teilnahme einladen könnten.
- 7. Der Bundesrat hält die Bezeichnung der Mitteilung und die getroffenen Aussagen zur Sozialstrategie der Kommission für problematisch. Diese beschränken sich darauf, den Übergang in Bezug auf Klimaneutralität, Digitalisierung und demografischen Wandel sozialverträglich und gerecht zu gestalten. Dies ist zu kurz gegriffen und wird dem Anspruch der sozialen Säule und den sozialen Entwicklungszielen der VN-Agenda 2030 nicht gerecht. Neben den wichtigen Maßnahmen zur gerechten Ausgestaltung des Übergangs dürfen alle diejenigen, die ganz unabhängig vom Übergang aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen und von Armut, sozialer Ausgrenzung und Ungleichheiten betroffen sind, nicht aus dem Blick geraten.
- 8. Etwa jeder sechste Arbeitnehmer in der EU ist ein Niedriglohnempfänger. Die Tendenz ist steigend. Zwar gibt es in 22 Ländern der EU einen gesetzlichen Mindestlohn; die Höhe zwischen den einzelnen Staaten variiert jedoch stark. Der Bundesrat betont, dass ein Mindestlohn gerecht ist, wenn er vor dem Hintergrund nationaler wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen einen angemessenen Lebensstandard für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU gewährleistet und Armut trotz Erwerbstätigkeit verhindert. Er begrüßt daher die Initiative der Kommission zu gerechten Mindestlöhnen in der EU. Wie von der Kommission angekündigt, sollte dabei kein einheitliches Mindestlohnniveau festgelegt werden. Die soziale Säule stellt klar, dass alle Löhne und Gehälter gemäß den nationalen Verfahren und unter Wahrung der Tarifautonomie auf transparente und verlässliche Weise festgelegt werden.
- 9. Der Bundesrat würde den Abschluss einer Rahmenvereinbarung der Europäischen Sozialpartner zu Mindestlöhnen begrüßen, die durch Beschluss des Rates als Rechtsakt der EU Rechtsverbindlichkeit erlangen könnte. Sollte diese nicht zustande kommen, spricht sich der Bundesrat dafür aus, dass die zentralen Fragestellungen, wie von der Kommission vorgeschlagen, in eine entsprechende EU-Maßnahme einfließen, die einen EU-Rahmen für Mindestlöhne bietet. Er betont, dass nationale Mindestlöhne nur eine sichernde Untergrenze darstellen und sich darüber die Tarifautonomie frei entfalten kann.
Begründung zu Ziffer 9 (nur gegenüber dem Plenum):
Die Befugnis der EU in Bezug auf die Beschäftigungspolitik in Titel IX AEUV umfasst auch Maßgaben zur Lohnpolitik bzw. Tarifpolitik und zur Lohnentwicklung, etwa in den beschäftigungspolitischen Leitlinien gemäß Artikel 148 Absatz 2 AEUV. Diese waren bislang in diesem Bereich nur vage formuliert und boten aufgrund der Heterogenität der mitgliedstaatlichen Mindestlohnniveaus und Mindestlohnregime kein allgemeinverbindliches Lösungsmodell. Grundsätzlich bietet auch Artikel 292 AEUV eine geeignete Rechtsgrundlage für eine Empfehlung des Rates auf Vorschlag der Kommission im Bereich der Beschäftigungspolitik.
- 10. Der Bundesrat begrüßt die Pläne der Kommission zur Einführung einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung. Die COVID-19-Pandemie beweist einmal mehr die Notwendigkeit eines entsprechenden Systems, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Selbständige und Unternehmen in der EU bei makroökonomischen Schocks besser zu schützen. Der Bundesrat anerkennt, dass mit dem europäischen Instrument zur vorübergehenden Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in der durch den COVID-19-Ausbruch verursachten Krise (SURE - vergleiche BR-Drucksache 175/20 (PDF) ) eine zeitlich befristete Notfall-Operationalisierung zur Verfügung steht. Er fordert, dass die Kommission ihre Pläne für ein permanentes Unterstützungssystem forciert. Ein solches System erscheint geeignet, die soziale Dimension der EU zu stärken und als Zeichen gelebter Solidarität ihren Zusammenhalt zu festigen. Der Bundesrat hält es daher für entscheidend, dass das System der europäischen Arbeitslosenrückversicherung nicht nur den Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes, sondern - wie SURE - allen Mitgliedstaaten zur Verfügung steht.
- 11. Im Jahr 2018 waren knapp 110 Millionen Menschen in der EU von Armut oder von sozialer Ausgrenzung bedroht; knapp 30 Millionen Menschen litten erhebliche materielle Entbehrung. Angemessener Sozialschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unabhängig von der Art und Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses sowie das Recht jeder Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, auf angemessene Mindesteinkommensleistungen in jedem Lebensabschnitt, die ein würdevolles Leben ermöglichen, sind Kernpunkte der sozialen Säule.
- 12. Der Bundesrat erinnert zudem an das Armutsbekämpfungsziel der VN-Agenda 2030, wonach bis zum Jahr 2030 extreme Armut für alle Menschen zu beseitigen und der Anteil der in Armut Lebenden mindestens um die Hälfte zu senken ist sowie Sozialschutzsysteme einschließlich eines Basisschutzes darauf auszurichten sind. Der Bundesrat unterstreicht die Feststellung der Kommission, dass für Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, Mindesteinkommensregelungen in Verbindung mit Unterstützungsdiensten das letzte Mittel darstellen, um ein Leben in Würde sicherzustellen.
- 13. Der Bundesrat bedauert, dass die Kommission das Ziel wirksamer, integrierter und tragfähiger nationaler Sozialschutz- und Grundsicherungssysteme in allen Mitgliedstaaten und die damit unmittelbar verknüpfte Bekämpfung von Armut, sozialer Ausgrenzung und Ungleichheiten nicht zu zentralen Anliegen ihrer Amtszeit erklärt hat. Seiner Ansicht nach müssen auch auf europäischer Ebene gezielte und ehrgeizige Anstrengungen mit dieser Zielrichtung unternommen werden.
- 14. Der Bundesrat spricht sich für einen europäischen Rahmen für wirksame, integrierte und tragfähige nationale Sozialschutz- und Grundsicherungssysteme aus. Zur Unterstützung und Ergänzung der Tätigkeit der Mitgliedstaaten und unter Beachtung ihrer Befugnis, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen und dieses vor einer erheblichen Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts zu schützen, sollte eine grundsätzliche Verständigung herbeigeführt werden, dass alle Mitgliedstaaten ein wirksames, integriertes und tragfähiges nationales Sozialschutz- und Grundsicherungssystem einschließlich eines Basisschutzes umsetzen und ein transparentes und nachvollziehbares Verfahren zur Bestimmung und Anpassung der Leistungen festlegen sollten. Die Angemessenheit der Leistungen sollte in den Mitgliedstaaten unter der Maßgabe bewertet werden, dass sie ein würdevolles Leben ermöglichen und erhebliche materielle Entbehrung verhindern. Die Verständigung sollte sich auch darauf beziehen, zu welchen erforderlichen Gütern und Dienstleistungen der Zugang gewährleistet werden sollte. Der Bundesrat würde es begrüßen, wenn darüber hinaus eine Verständigung zu gemeinsamen ambitionierten sozialen Mindeststandards erfolgen könnte, und verweist insoweit auf die Grundsätze wirksamer und verlässlicher Sozialleistungssysteme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) vom 17. September 2015.
Begründung zu Ziffer 14 (nur gegenüber dem Plenum):
Eine entsprechende Richtlinie, die Mindestvorschriften vorgibt, die schrittweise anzuwenden sind, wäre kompetenzrechtlich gemäß Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe c und Absatz 2 Unterabsatz 3 AEUV ausdrücklich zulässig, soweit sie sich auf den Bereich der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im sozialversicherungsrechtlichen Sinne bezieht. Gemäß Artikel 292 AEUV kommt insoweit auch eine Empfehlung in Betracht.
Auch was darüber hinaus die Existenzsicherung des Einzelnen im Sinne von allgemeinen Leistungen zum Lebensunterhalt anbetrifft, ist die weitere Koordinierung auf EU-Ebene bis hin zur allmählichen Angleichung dem Bundesverfassungsgericht zufolge nicht ausgeschlossen (vergleiche Urteil vom 30. Juni 2009 (Aktenzeichen 2 BvE 2/08, RN 259)). Um diesen Prozess zu unterstützen, ist mit Blick auf das Ziel eines angemessenen sozialen Schutzes im Sinne der Artikel 3 EUV sowie 9 und 151 Absatz 1 AEUV eine einstimmige Empfehlung des Rates auf Vorschlag der Kommission auf der Basis des Artikels 352 AEUV rechtlich zulässig und nötig. In diesem Fall ist ein einstimmiges Handeln des Rates erforderlich und angemessen. Dies wäre ein wesentlicher Beitrag für die Umsetzung des Kapitels III der sozialen Säule sowie der VN-Agenda 2030, im Speziellen des SDG 1 "Keine Armut". EU und Mitgliedstaaten haben sich zur Umsetzung der VN-Agenda 2030 verpflichtet.
- 15. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft für eine entsprechende europäische Initiative stark zu machen.
- 16. Aus Sicht des Bundesrates ist ein europäischer Rahmen für wirksame, integrierte und tragfähige nationale Sozialschutz- und Grundsicherungssysteme in Verbindung mit der angekündigten EU-Maßnahme für gerechte Mindestlöhne zu sehen. Diese wird zu verschiedenen Fragestellungen wichtige Vorarbeiten leisten. Gleichzeitig hält der Bundesrat es für entscheidend und stimmt der Kommission darin zu, im Rahmen des vorgeschlagenen Reformhilfeprogramms die Verwirklichung der sozialen Säule weiter zu fördern. Dies muss auch für die neue "Aufbau- und Resilienzfazilität" im Rahmen des aktuell vorgeschlagenen Aufbauinstruments "Next Generation EU" gelten. Ihr Anwendungsbereich sollte, wie beim Reformhilfeprogramm vorgesehen, die Systeme der sozialen Sicherheit mit einbeziehen. Widerstandsfähige Wirtschafts- und Sozialstrukturen in den Mitgliedstaaten sind eine Voraussetzung, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie zu bewältigen und den Prozess der sozialen und wirtschaftlichen Aufwärtskonvergenz zwischen den Mitgliedstaaten neu zu beleben.
- 17. Nach Auffassung des Bundesrates sollte berücksichtigt werden, dass der Bedarf an Investitionen in Mitgliedstaaten außerhalb des Euro-Währungsgebiets, die Anstrengungen zur Stärkung ihrer Wirtschafts- und Sozialstrukturen unternehmen, um sich besser auf die Mitgliedschaft im Euroraum vorzubereiten, keineswegs geringer ist als innerhalb der Euro-Gruppe. Für eine Einbeziehung von Investitionen im Rahmen des Reformhilfeprogramms auch für diese Mitgliedstaaten spricht insbesondere die vielfach enge Verknüpfung und nicht immer trennscharf mögliche Abgrenzung von Reform- und Investitionsmaßnahmen. Der Bundesrat begrüßt daher, dass die neue "Aufbau- und Resilienzfazilität" allen Mitgliedstaaten offenstehen und sowohl Reformen als auch Investitionen umfassen soll. Er bekräftigt seine Forderung, dass in der Förderperiode 2021 bis 2027 die Finanzierung von Maßnahmen zur Unterstützung von Reformzusagen der Mitgliedstaaten nicht zu Lasten der in geteilter Mittelverwaltung umgesetzten ESI-Fonds und der damit einhergehenden regionalen Gestaltungsfreiheit bei der Programmierung der Mittel erfolgen darf (vergleiche Stellungnahme des Bundesrates vom 19. Oktober 2018 (BR-Drucksache 240/18(B) ).
- 18. Aktuell zeigt sich die wichtige Rolle der Kohäsionspolitik bei der zügigen Ersthilfe zur solidarischen Bewältigung der Covid-19-Pandemie. Darüber hinaus unterstützen die ESI-Fonds in erheblichem Umfang Maßnahmen, die zur Verwirklichung der ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Ziele für nachhaltige Entwicklung beitragen. Der Bundesrat unterstützt daher eine nachhaltige Stärkung der Kohäsionspolitik und fordert die Bundesregierung auf, sich in diesem Sinne im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft für einen zügigen Abschluss der Verhandlungen über den nächsten MFR einzusetzen.
- 19. Die Jugendgarantie hat in zahlreichen Mitgliedstaaten wichtige Reformen angestoßen, Pilotprojekte auf den Weg gebracht und neue Ansätze zur Integration junger Menschen in den Arbeitsmarkt erprobt. Trotz der bislang guten Tendenz gibt es jedoch immer noch mehr als 5 Millionen junge Menschen in der EU, die weder arbeiten noch eine Schule besuchen oder eine Ausbildung absolvieren. Der Bundesrat begrüßt daher ausdrücklich, dass die Jugendgarantie weiter gestärkt werden soll, um junge Menschen noch gezielter beim Zugang zu den benötigten Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten zu unterstützen.
- 20. Insbesondere die Vermittlung von allgemeinen und berufsbezogenen Kompetenzen ist wesentlich, um wirtschaftliche Prosperität zu erhalten, eine Transformation der europäischen Wirtschaft im Sinne des europäischen Grünen Deals zu unterstützen und den europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gute berufliche Perspektiven zu eröffnen.
In diesem Zusammenhang unterstreicht der Bundesrat den besonderen Wert, den Freiwilligendienste hierbei haben. So erwerben zum Beispiel durch das Freiwillige Ökologische Jahr Jugendliche und junge Erwachsene wertvolle fachliche und persönliche Kompetenzen für eine anschließende Ausbildung oder ein Studium. Die Vermittlung von fachlichen Kompetenzen im Bereich der Nachhaltigkeit sowie des Umwelt- und Klimaschutzes kommt dabei auch den Zielen des europäischen Grünen Deals zugute, indem die Teilnehmenden für diese Aspekte sensibilisiert und bei ihrer Berufswahl für Berufe in diesem Bereich unterstützt werden. Damit leistet das Freiwillige Ökologische Jahr auch einen Beitrag zur Bekämpfung des bestehenden Fachkräftemangels.
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass eine Unterstützung von Freiwilligendiensten der Mitgliedstaaten in den Themenfeldern Nachhaltigkeit sowie Umwelt- und Klimaschutz auch weiterhin durch Mittel der EU möglich sein und ein Ausbau der Freiwilligendienste angestrebt werden sollte.
- 21. Der Bundesrat unterstützt uneingeschränkt die Zielrichtung der angekündigten Kindergarantie, den Armutskreislauf zu durchbrechen und Ungleichheiten zu verringern. Tatsächlich sind mehr als ein Viertel aller Kinder in der EU von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Da Armut, wie die Kommission feststellt, alle Mitglieder einer Familie gleichermaßen betrifft, bedauert der Bundesrat jedoch, dass die Kommission zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung keine weiteren Initiativen in Aussicht stellt und jetzt erst breit angelegte Überlegungen zu den vielfältigen und miteinander verknüpften Ursachen der Armut und zum weiteren Vorgehen ankündigt. Das Engagement der Kommission im Bereich der Armutsbekämpfung darf keinesfalls hinter dem für den Klimaschutz gezeigten Engagement zurückstehen. Die Initiative der Kommission sollte - wie bei der Jugendgarantie - die unterschiedliche Ausgangslage in den Mitgliedstaaten berücksichtigen.
- 22. Der Bundesrat begrüßt die Entwicklung eines Aktionsplans für die Sozialwirtschaft zur Förderung und Steigerung des Potenzials der Sozialunternehmen bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. In der EU herrscht ein erheblicher Mangel an Investitionen in die soziale Infrastruktur, in Sozialunternehmen sowie in soziale Dienste, Ideen und Qualifikationen. Mikrofinanzierung und Sozialunternehmen sind Teile eines aufkommenden Marktes, der noch nicht vollständig entwickelt ist. Soziale Startups leisten mit innovativen Lösungen für gesellschaftliche und ökologische Fragen einen wichtigen Beitrag für Wirtschaft und Gesellschaft.
- 23. Der Bundesrat begrüßt die durch die Kommission bereits vorgestellte Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020 bis 2025 und verweist auf seine Stellungnahme hierzu (vergleiche Stellungnahme des Bundesrates vom 15. Mai 2020 (BR-Drucksache 117/20(B)).
- 24. Die Rechtsvorschriften zum Beschäftigungsschutz müssen für faire und angemessene Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sorgen, insbesondere im Hinblick auf Digitalisierung, neue Technologien sowie neue, atypische Beschäftigungsformen, welche neue Herausforderungen betreffend Arbeitsplatzsicherheit und Sozialschutz mit sich bringen. Mit Interesse werden daher die Vorschläge im Bereich der Plattformökonomie und die Überarbeitung der Arbeitsschutzstrategie erwartet. Erforderlich sind neben Verbesserungen der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitern auch Regelungen zum Beschäftigungsstatus und zur sozialen Absicherung der Beschäftigten. Gleichzeitig ist für faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Plattformen in der EU zu sorgen.
- 25. Die Sozialpartner sind unter uneingeschränkter Achtung ihrer Autonomie in besonderer Weise berufen, sich maßgeblich in die anstehenden beschäftigungspolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Reformen einzubringen und diese mitzugestalten und zu unterstützen. Tarifverträge der Sozialpartner sollten maßgeblich zur Verwirklichung der Grundsätze der sozialen Säule beitragen. Daher sollten der soziale Dialog effektiver gestaltet, Kollektivverhandlungen weiter gefördert und die Tarifbindung ausgeweitet werden.
- 26. Der Bundesrat spricht sich zur konsequenten Förderung einer fairen und transparenten Arbeitskräftemobilität, zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten einheimischer Unternehmen und zur weiteren Reduzierung des bürokratischen Aufwands - insbesondere für KMU - hinsichtlich des Nachweises, dass für entsandte Beschäftigte eine Sozialversicherung besteht, für den Aufbau eines europäischen Sozialversicherungsregisters aus. Dies würde Abfragen zum aktuellen Sozialversicherungsstatus der Beschäftigten im Herkunftsland in Echtzeit ermöglichen. Bürokratieabbau darf nicht zur Folge haben, dass mangels einer entsprechenden Nachweispflicht Sozialversicherungsbeiträge für entsandte Beschäftigte im Herkunftsland nicht abgeführt werden.
- 27. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, die in diesem Jahr auslaufende Agenda für Wachstum, Beschäftigung und soziale Eingliederung "Strategie-Europa-2020" einer abschließenden Bewertung zuzuführen. Das Ergebnis dieser Auswertung wird aufzeigen, dass das Armutsbekämpfungsziel als eines der ausgewiesenen fünf Kernziele deutlich verfehlt wird. Umso wichtiger ist es, eine nahtlos anschließende, zukunftsweisende, langfristige, kohärente und ehrgeizige Nachfolgestrategie vorzulegen, die außerdem ein entschlossenes Engagement der Kommission zur Umsetzung der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen VN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zum Ausdruck bringen und Kohärenz mit dem angekündigten Aktionsplan zur Umsetzung der sozialen Säule aufweisen sollte.
- 28. Der Bundesrat betont nochmals, dass es weiterhin eines europäischen Nachhaltigkeitsrahmens bedarf, in dem ambitionierte strategische Ziele zur Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele bis zum Jahr 2030, ein Indikatorensystem und ein wirksamer Umsetzungsmechanismus festgelegt werden (vergleiche Stellungnahme des Bundesrates vom 13. März 2020 (BR-Drucksache 655/19(B) ).
- 29. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, dass die Kommission jeden Entwurf einer Maßnahme oder eines Legislativvorschlags vor der Annahme einer umfassenden Nachhaltigkeitsprüfung unterzieht, welche die ökologischen, klimabezogenen und sozialen Auswirkungen des Vorschlags gleichermaßen bewertet. Die interinstitutionelle Vereinbarung vom 13. April 2016 über bessere Rechtsetzung sollte entsprechend weiterentwickelt werden.
- 30. Der Bundesrat begrüßt die beschriebenen Vorhaben der Kommission im internationalen Bereich. Die EU sollte menschenwürdige Arbeit und international anerkannte Arbeitsnormen bei ihren Handelspartnern weiter fördern und die bestehenden Abkommen mit Entschlossenheit durchsetzen. Die Möglichkeit, Anforderungen im Zusammenhang mit ökologischen und sozialen Aspekten entlang der Wertschöpfungskette einzuführen, sollte ebenfalls sorgfältig geprüft werden.
- 31. Nach Auffassung des Bundesrates gilt auch für die aktuellen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Bewältigung der sozioökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie, dass Arbeitsmärkte und Sozialsysteme aller Mitgliedstaaten gut und fair funktionieren müssen und sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt eng miteinander verknüpft und gleichermaßen wichtig sind. Die EU muss beim Neustart nach der Pandemie die soziale Dimension zentral mit in den Blick nehmen. Dies erscheint wesentlich, um in Zeiten der Krise das Vertrauen in die Zukunft der EU zu festigen. Ebenso muss ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit bei der Wirtschaftsentwicklung im Zuge der Wiederherstellung und Neuordnung der durch die Covid-19-Pandemie in die Krise geratenen europäischen Wirtschaft Hand in Hand gehen.
- 32. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
B
- 33. Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union, der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz, der Ausschuss für Frauen und Jugend, der Ausschuss für Familie und Senioren, der Gesundheitsausschuss, der Ausschuss für Kulturfragen und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.