Der Bundesrat hat in seiner 850. Sitzung am 7. November 2008 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission im Bereich der Gesundheitsversorgung mit dem Vorschlag einer eigenen Richtlinie Rechtssicherheit für Patientinnen und Patienten, Ärzte und Krankenversicherungen schaffen und die Entwicklung in diesem Bereich nicht länger dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) überlassen will. Er unterstützt das Anliegen, die Umsetzung der EuGH-Urteile zur Patientenmobilität in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Deutschland hat diese Rechtsprechung bereits in nationales Recht umgesetzt (vgl. § 13 SGB V). Der Bundesrat stimmt auch der Festlegung zu, dass grundsätzlich die Leistungsvoraussetzungen desjenigen Mitgliedstaates zur Anwendung kommen sollen, in dem die Patientin oder der Patient versichert ist.
Ziel des Kommissionsvorschlags ist es darüber hinaus, einen Gemeinschaftsrahmen für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung zu schaffen und die europäische Zusammenarbeit bei der Gesundheitsversorgung zu verbessern. Der Bundesrat ist allerdings der Auffassung, dass einzelne Regelungen des vorliegenden Richtlinienvorschlags diesem Ziel genauso wie den geltenden primärrechtlichen Vorgaben nicht vollständig gerecht werden.
- 2. Der Bundesrat weist darauf hin, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie insbesondere im Verhältnis zur Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bzw. Verordnung (EG) Nr. 883/2004 klargestellt werden muss.
Artikel 3 Abs. 2 sieht vor, dass beide Systeme nebeneinander bestehen. Dabei ist nach Auffassung des Bundesrates jedoch zu befürchten, dass einzelne Fälle in der Praxis nicht eindeutig unter nur eine der Vorschriften subsumiert werden können und im Hinblick auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen der Regelungen Missverständnisse und Ungleichbehandlungen (z.B. Wartelisten, Behandlungsmethoden des jeweiligen Leistungskatalogs) drohen. Insbesondere in den Fällen, in denen Mitgliedstaaten für die stationäre Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat einen Genehmigungsvorbehalt vorsehen, bestünde kein Unterschied zur Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bzw. Verordnung (EG) Nr. 883/2004, während die Rechtsfolge erheblich divergieren würde, da nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der Regel die Sachleistung Rechtsfolge ist und nicht die Kostenerstattung.
Der Bundesrat hat daher die Sorge, dass die teilweise zu beobachtende Praxis, die Sachleistungsgewährung aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zu Lasten der Patientinnen und Patienten zu umgehen, durch den vorliegenden Richtlinienvorschlag möglicherweise verstärkt werden könnte. Der Bundesrat fordert daher, dass das von dem Richtlinienvorschlag angestrebte Nebeneinander von Richtlinie und Verordnung rechtssicherer ausgestaltet wird.
- 3. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, Leistungen der Sozialhilfe und der Kriegsopferfürsorge aus dem Richtlinienvorschlag herauszunehmen. Zudem verweist der Bundesrat darauf, dass die in Artikel 4 Buchstabe a vorgenommene Definition der Gesundheitsversorgung an das Vorliegen eines Gesundheitsberufs gemäß der Richtlinie 2005/36/EG anknüpft und dass von dieser Definition auch Tätigkeiten erfasst sind, die in Deutschland im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung erbracht werden, wie z.B. der Beruf der Altenpflegerin oder des Altenpflegers.
Der Bundesrat behält sich eine Stellungnahme zu der Frage vor, ob der Bereich der Pflege, der Rehabilitationsleistungen, der Rentenversicherung und der Leistungen der Unfallversicherung vom Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags mit erfasst werden soll. Das gleiche gilt für Sondersysteme wie z.B. die private Krankenversicherung und die beamtenrechtliche Beihilfe.
- 4. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass Artikel 95 EGV nicht als Rechtsgrundlage für alle in dem Richtlinienvorschlag enthaltenen Regelungen dienen kann. Insbesondere ist nicht ersichtlich, wie Regelungen über die Einrichtung eines Netzwerks von Europäischen Referenzzentren (vgl. Artikel 15) oder über die Zusammenarbeit im Bereich der Gesundheitstelematik (vgl. Artikel 16) der Verwirklichung von Grundfreiheiten dienen bzw. Wettbewerbsverzerrungen beseitigen könnten. Darüber hinaus betont der Bundesrat, dass die Wahl dieser Rechtsgrundlage nicht dazu führen darf, die in Artikel 152 EGV normierten Grenzen der Tätigkeit der Gemeinschaft im Gesundheitsbereich zu umgehen.
- 5. Der Bundesrat begrüßt, dass der Richtlinienvorschlag in Artikel 5 einleitend die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Organisation und Bereitstellung der Gesundheitsversorgung klarstellt, und fordert, diesem Grundsatz in der weiteren Ausgestaltung des Artikels 5 konsequenter als in der vorliegenden Fassung Rechnung zu tragen. Aus Sicht des Bundesrates stellen die in Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 enthaltenen Regelungen und die von Absatz 3 angestrebten europäischen Leitlinien einen unzulässigen Schritt in Richtung einer Einwirkung der Gemeinschaft auf die nationalen Gesundheitssysteme dar. Insbesondere können sich mit den durch Leitlinien gestellten Anforderungen mittelbar Finanzierungsfragen verbinden. Leitlinien können langfristig zu einer Nivellierung der Gesundheitssysteme auf einem niedrigen Niveau beitragen. Der Bundesrat lehnt dies ab und fordert daher, die Regelung des Artikels 5 Abs. 3 zu streichen.
- 6. Der Bundesrat begrüßt die Intention der Kommission, mit der Einführung eines Mechanismus für die Kostenberechnung (Artikel 6 Abs. 4) die Transparenz für Patientinnen und Patienten bezüglich der im Ausland entstehenden Behandlungskosten erhöhen zu wollen. Es ist allerdings eine Klarstellung erforderlich, dass Artikel 6 Abs. 4 von den Mitgliedstaaten nur verlangt, einen Mechanismus für die Berechnung der Höhe der Kostenerstattung im eigenen System des jeweiligen Versicherungsmitgliedstaates festzulegen.
- 7. Die Länder sind in besonderer Weise für die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen und wohnortnahen Krankenhausversorgung auch finanziell verantwortlich. Eine unreglementierte Patientenmobilität könnte regional zur Abwanderung führen und die vorzuhaltenden Strukturen schwächen. Daher begrüßt der Bundesrat die Möglichkeit des Genehmigungsvorbehalts als Steuerungsinstrument und sieht diesen als unverzichtbar an. Soweit die sehr eng gesetzten Voraussetzungen für einen Genehmigungsvorbehalt über den vom EuGH gesteckten Rahmen hinausgehen, hält der Bundesrat sie nicht für sachgerecht. Er hat die Befürchtung, dass dieses Steuerungsinstrument nicht im notwendigen Maße greifen könnte. Ein Genehmigungsvorbehalt kann auch die Patientinnen und Patienten unterstützen, eine informierte Entscheidung unter Einbeziehung auch der finanziellen Aspekte zu treffen.
- 8. Der Bundesrat hält die in Artikel 8 des Richtlinienvorschlags vorgenommene Definition der Krankenhausbehandlung für zu eng. Er verweist darauf, dass teilstationäre und ambulante Krankenhausbehandlungen davon genauso wenig erfasst wären wie die Behandlung von psychisch kranken Patientinnen und Patienten in Tagesklinken. Die Definitionshoheit muss in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Die vorgesehene Liste von hoch spezialisierten und kostenintensiven Behandlungen, die ebenfalls unter Genehmigungsvorbehalt gestellt werden können, muss von den Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung erstellt werden. Eine Erstellung durch die Kommission wäre nach Auffassung des Bundesrates ein Verstoß gegen die in Artikel 152 Abs. 5 EGV normierte Verantwortung der Mitgliedstaaten für ihr nationales Gesundheitssystem.
- 9. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass eine gesetzliche Regelung zu Europäischen Referenznetzen nicht von Artikel 95 EGV gedeckt ist. Zwar wird die Weiterentwicklung eines Netzwerks Europäischer Referenzzentren grundsätzlich begrüßt und verspricht einen europäischen Mehrwert durch den Austausch hochqualitativer Expertise, der sowohl dem Wissenschafts- und Gesundheitsstandort Europa im Sinne der Lissabon-Strategie als auch dem einzelnen Patienten mit seinen spezifischen Versorgungsbedürfnissen zugute kommt. Allerdings muss die Kommission dabei die Grenzen des Artikels 152 EGV beachten und darf lediglich unterstützend tätig werden sowie die Netzwerkbildung fördern.
- 10. Der Bundesrat hält die zahlreichen Informationspflichten der Gesundheitsdienstleister, Versicherungsmitgliedstaaten und Behandlungsmitgliedstaaten Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c, Artikel 8 Abs. 5, Artikel 9 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und 3, Artikel 10, Artikel 12 Abs. 2 Buchstabe a, b und c sowie Abs. 3 Buchstabe c in diesem Umfang für nicht erforderlich. Sachgerecht ist es, dass die Verantwortlichen den Versicherten ihres Landes Informationen bezüglich ihrer Rechte und Pflichten zur Verfügung stellen (Artikel 10). Der Bundesrat spricht sich dafür aus, dass insbesondere Artikel 10 Abs. 3 gestrichen wird, da die Ausgestaltung des Informationsanspruchs allein der Verantwortung der Mitgliedstaaten vorbehalten ist.
- 11. Der Bundesrat erkennt auch grundsätzlich die Notwendigkeit an, dass nationale Kontaktstellen (Artikel 12) benannt werden, die Grundinformationen über ihr eigenes nationales System und - soweit möglich - die voraussichtlich entstehenden Behandlungskosten (Artikel 6 Abs. 4) aufbereiten und als Ansprechpartner für Ratsuchende aus anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen. Inwieweit der Beratungsanspruch im Detail ausgestaltet wird, ist nationale Entscheidung. Der Bundesrat spricht sich insofern für die Änderung des Artikels 12 Abs. 2 und 3 aus.
- 12. Der Bundesrat lehnt die Sammlung von Daten in dem in Artikel 18 geforderten Umfang ab, da keine Spezifizierung und Konkretisierung der zu erhebenden Daten vorliegt. Informationssysteme für Aufgaben der Statistik müssen auf das notwendige Maß beschränkt bleiben und Routinedaten einbeziehen.
- 13. Der Bundesrat lehnt die Einführung eines neuen bürokratischen Verfahrens und die Schaffung eines neuen Ausschusses unter Leitung der Kommission (Artikel 19) ab, weil hier legislative Kompetenzen in ein Expertengremium verlagert werden.
- 14. Auf Grund der Komplexität des Regelungsinhalts des Richtlinienvorschlags hält der Bundesrat eine Umsetzungsfrist von drei Jahren für zwingend erforderlich.
- 15. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, seine Stellungnahme bei den Verhandlungen auf Ratsebene zu berücksichtigen, und behält sich eine ergänzende Stellungnahme im weiteren Verlauf der Beratungen vor.
- 16. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.