Freistaat Thüringen Erfurt, 7. Dezember 2017
Der Ministerpräsident
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Regierenden Bürgermeister
Michael Müller
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Thüringer Landesregierung sowie die Landesregierungen der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt haben beschlossen, dem Bundesrat den als Anlage beigefügten Antrag für eine Entschließung des Bundesrates zur Entfristung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze zuzuleiten.
Ich bitte, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 963. Sitzung des Bundesrates am 15. Dezember 2017 zu setzen und anschließend den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Bodo Ramelow
Entschließung des Bundesrates zur Entfristung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die rechtlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung der Antragsfristen in den Gesetzen zur Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung in der DDR zu schaffen.
Begründung:
Zur Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung in der DDR hat der Bundesgesetzgeber ein umfängliches - zweistufiges - System von Maßnahmen geschaffen: Die Feststellung und damit zugleich Aufhebung einer rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechenden staatlichen Verfolgung sowie nachfolgend die Gewährung von letztlich sozialstaatlichen Aspekten geschuldeten Ausgleichsleistungen.
Die Antragstellung nach den drei Gesetzen zur Rehabilitierung von SED-Unrecht - Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG), Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG) und Berufliches Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) ist nur bis zum 31. Dezember 2019 bzw. bis zum 31. Dezember 2020 für Leistungen nach dem Zweiten und Dritten Abschnitt des BerRehaG möglich. Die Bundesregierung hatte die Fristenregelung seinerzeit als ausgewogenen Kompromiss zwischen dem Bedürfnis der Verwaltungen der Länder nach Planungssicherheit einerseits und dem Anspruch der Betroffenen auf materielle Gerechtigkeit andererseits befürwortet.
Die derzeit geregelten Fristen lassen sich mit drei Aspekten begründen, zum einen mit der von der Bundesregierung vertretenen Position, zum anderen mit der Annahme, dass nach den geltenden Zeitpunkten aus tatsächlichen Gründen gar keine Anträge mehr erwartet werden könnten. Schließlich können die Antragsfristen mit dem allgemeinen Interesse an der Schaffung eines Rechtsfriedens gerechtfertigt werden, wie es in vielen Rechtsgebieten in Gestalt von Verjährungs- bzw. Verwirkungstatbeständen oder auch Antragsfristen zur Geltung kommt.
Dem gegenüber steht hier jedoch das Interesse des berechtigten Personenkreises an einem Ausgleich staatlich verschuldeten Unrechts. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass viele Opfer und Betroffene erst langsam die Fähigkeit erlangen, über das vor 1990 in der DDR erlittene Unrecht zu sprechen und sich mit Fragen der Rehabilitierung und ihnen möglicherweise zustehenden Leistungen auseinanderzusetzen. Dem steht entgegen, dass die Antragstellung auf strafrechtliche, verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierung derzeit befristet ist. Hierfür gibt es aus Sicht des Bundesrates keinen Grund.
Die Abwägung und der Ausgleich der sich gegenüberstehenden Interessen ist sicher nicht rechnerisch zu ermitteln, sondern letztlich Gegenstand einer Wertentscheidung. Der Bundesrat vertritt diesbezüglich folgende Position:
Die Fristenregelung dient in erster Linie einem administrativen, gegebenenfalls auch fiskalischen, Zweck.
Es ist zu befürchten, dass durch den rein formal begründeten Ausschluss an sich berechtigter Ansprüche der Eindruck entsteht, dass hier ein gesellschaftspolitisch in hohem Maße relevantes Problem vor dem vollständigen Abschluss der Aufarbeitung - wenn man davon überhaupt sprechen kann - legislativ gewissermaßen "unter den Teppich" gekehrt wird. Denn die gesellschaftliche Bedeutung der Aufarbeitung des politisch motivierten staatlich verübten Unrechts in der DDR ist erheblich. Gerade in den Ländern, die auf dem Gebiet der DDR als Bestandteil der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik entstanden sind, stellt die einvernehmliche Überzeugung von der Bedeutung diesbezüglicher Vergangenheitsbewältigung einen gesellschaftlichen Grundkonsens dar, der in seiner konstitutiven Bedeutung für die Wertschätzung von Demokratie und Rechtsstaat nicht unterschätzt werden darf.
Auch die Antragszahlen der vergangenen zehn Jahre lassen nicht erkennen, dass der Prozess der Aufarbeitung und des Ausgleichs von Unrecht am 31. Dezember 2019 abgeschlossen sein wird. Zwar ist hier in der Tat ein signifikanter Rückgang der Antrags- und Bewilligungszahlen erkennbar, der den tatsächlichen Verhältnissen (Zeitablauf, Einführung eines letzten zahlenmäßig bedeutsamen Entschädigungstatbestandes nach § 17a StrRehaG im Jahr 2007) geschuldet ist. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass allein in Thüringen, das mit rund 2,2 Millionen Einwohnern nur einen kleinen Anteil an der Gesamtbevölkerung hat, noch im Jahr 2016 in allen Bereichen der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze (Anträge auf strafrechtliche, berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung) insgesamt 485 Anträge gestellt wurden, davon allein 167 Anträge auf strafrechtliche Rehabilitierung nach § 1 StrRehaG. Hiernach ist durchaus damit zu rechnen, dass - sofern die Antragsfrist aufgehoben wird - auch im und nach dem Jahr 2020 noch Betroffene, die bislang nicht tätig geworden sind, Anträge stellen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das eingangs beschriebene Phänomen, dessen Bedeutung durch die Erfahrungen der letzten Jahre und auch die wissenschaftliche Beschäftigung (siehe nur "Verborgene Wunden: Spätfolgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre transgenerationale Weitergabe", 2015, Herausgeber Stefan Trobisch-Lütge und Karl-Heinz Bomberg) mit der Problematik deutlich geworden ist:
Die Auswirkungen der erlittenen Unrechtsmaßnahmen in Haft und anderen Lebensbereichen haben oft zu psychischen Traumatisierungen geführt, deren Auswirkungen sich teilweise erst lange nach den auslösenden Ereignissen zeigen, teilweise auch die Betroffenen lange Zeit daran hindern, ihre Ansprüche geltend zu machen. Denn die Wiederbeschäftigung mit den Ereignissen im Rahmen administrativer Verfahren, Begutachtungen und ähnlichem birgt die Gefahr einer Retraumatisierung, so dass Betroffene erst spät den Mut finden, sich auf diese Weise erneut mit ihrer Geschichte zu befassen. Derartige Fälle können nicht quantifiziert werden; es kann allerdings festgehalten werden, dass die praktischen Erfahrungen beachtliche Indizien für dieses Problem ergeben haben.
Vor diesem Hintergrund hält es der Bundesrat nicht für angebracht, administrativen Interessen - Planungssicherheit - oder dem Interesse an einem durchaus fragwürdigen, eher vordergründig und formal begründeten Rechtsfrieden den Vorrang gegenüber dem möglichen Interesse Betroffener staatlichen (SED-) Unrechts an einer Rehabilitierung einzuräumen.