Der Regierende Bürgermeister von Berlin Berlin, 28. April 2015
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Volker Bouffier
Sehr geehrter Herr Präsident,
der Senat von Berlin hat in seiner Sitzung am 28. April 2015 beschlossen, die als Anlage beigefügte
Entschließung des Bundesrates für Maßnahmen zur Rehabilitierung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten gemäß §§ 175, 175a Nr. 3 und 4 des Strafgesetzbuches und gemäß § 151 des Strafgesetzbuches der DDR verurteilten Männer beim Bundesrat einzubringen.
Ich bitte Sie, den Antrag gemäß § 36 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Bundesrates den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Müller
Entschließung des Bundesrates für Maßnahmen zur Rehabilitierung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten gemäß §§ 175, 175a Nr. 3 und 4 des Strafgesetzbuches und gemäß § 151 des Strafgesetzbuches der DDR verurteilten Männer
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die in beiden deutschen Staaten auf §§ 175, 175a Nr. 3 und 4 des Strafgesetzbuches und gemäß § 151 des Strafgesetzbuches der DDR beruhenden Urteile, die zwischen 1945 und dem 10. Juni 1994 getroffen wurden, aufzuheben.
Begründung:
Der Deutsche Bundestag hat mit Gesetz vom 23. Juli 2002 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NsAufhGÄndG), BGBl. 2002 Teil I Seite 2714) bereits die Urteile aufgehoben, die zwischen 1933 und 1945 nach den §§ 175, 175a Nr. 4 des Strafgesetzbuches ergangen waren. Nachfolgend wurde auch eine Entschädigungsregelung getroffen.
Männer, die während der Zeit des Nationalsozialismus wegen homosexueller Handlungen strafgerichtlich verurteilt wurden, waren damit rehabilitiert und konnten unter Umständen eine materielle Entschädigung bewirken. Männer, die aufgrund derselben Vorschriften in der Bundesrepublik Deutschland verurteilt wurden, sind bis heute nicht rehabilitiert. Dies ist ein Widerspruch. Es bedarf wegen des Alters der Betroffenen einer zügigen Rehabilitierung der Betroffenen. Die Betroffenen verdienen die deutliche Erklärung des Rechtsstaates, dass die damaligen Verurteilungen Unrecht waren und aufgehoben werden.
In der Bundesrepublik Deutschland galt die von den Nationalsozialisten zum 1. September 1935 in Kraft getretene verschärfte Gesetzgebung zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Handlungen durch Männer (§ 175 und § 175a StGB) bis zur Strafrechtsreform zum 31. August 1969 fort. Demnach waren sämtliche sexuelle Handlungen, einschließlich erotisch interpretierbarer Annäherungen, unter Männern strafbar.
Darüber hinaus bestanden bis zur endgültigen Abschaffung des § 175 StGB zum 11. Juni 1994 unterschiedliche strafrechtliche Schutzaltersgrenzen für homosexuelle Handlungen unter Männern und für heterosexuelle Handlungen. In der Deutschen Demokratischen Republik kehrte man nach einem Urteil des Obersten Gerichts 1950 zu der vornationalsozialistischen Fassung des § 175 StGB zurück. Dies bedeutete, dass beischlafähnliche homosexuelle Handlungen bestraft wurden. Mit dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches der DDR am 1. Juli 1968 waren einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern nicht mehr strafbar, doch bestanden auch hier nach § 151 StGB-DDR weiterhin unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für homo- und heterosexuelle Handlungen.
Diese Vorschriften griffen in beiden Teilen Deutschlands in das Leben tausender Männer ein, die aufgrund ihrer Homosexualität verurteilt wurden: In der Bundesrepublik Deutschland lag die Zahl der Verurteilungen bis zur Strafrechtsreform 1969 bei ca. 50.000 (Rainer Hoffschildt in: Invertito 4, Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, Hamburg, S. 140-149). Für das Gebiet der DDR sind Fallzahlen schwer zu ermitteln; als nachgewiesen angesehen werden können 1.292 Verurteilungen in den Jahren 1946 bis 1959 (Günter Grau: Zur strafrechtlichen Verfolgung der Homosexualität in der DDR, in: § 175 StGB. Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer. Herausgeberin: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, Berlin 2012, S. 49f).
Zu der strafrechtlichen Verfolgung kam die gesellschaftliche Ausgrenzung der Betroffenen, die oftmals ihren Beruf aufgeben oder bei Bekanntwerden ihrer Homosexualität zumindest damit rechnen mussten, den Beruf zu verlieren und ins soziale Abseits gedrängt zu werden. In beiden Teilen Deutschlands herrschte zumindest bis 1968/69 durch die Kriminalisierung der männlichen Homosexualität ein Klima, das homosexuelle Menschen diskriminierte, sie an den Rand der Gesellschaft drängte und massiv in ihren Persönlichkeitsrechten verletzte. Bereits die reine Strafandrohung beeinträchtigte alle homo- und bisexuell orientierten Männer in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Eine besondere Härte war, dass in der Bundesrepublik die unter nationalsozialistischer Herrschaft verschärfte Fassung des § 175 StGB und der neu geschaffene § 175a StGB aufrechterhalten wurden und somit nationalsozialistisches Unrecht auch in der Bundesrepublik Deutschland Anwendung fand. Die Verschärfung von 1935 hatte zu einer immensen Ausweitung der Verfolgung geführt, die auch in der Bundesrepublik fortgesetzt wurde. Zwar waren nur homosexuelle Handlungen unter Männern strafbewehrt, doch waren von der gesellschaftlichen Ausgrenzung neben schwulen Männern auch lesbische Frauen betroffen.
Am 7. Dezember 2000 brachte der Deutsche Bundestag im Zusammenhang mit der Debatte um die Ergänzung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege in einer einstimmig mit den Stimmen aller Fraktionen verabschiedeten Resolution sein Bedauern über das durch die Homosexuellenverfolgung in beiden Teilen Deutschlands erfolgte Unrecht zum Ausdruck (Plenarprotokoll 014/140, Bundestagsdrucksache 014/4894). Die Verschärfung des § 175 und Neuschaffung des § 175a StGB wurde als Ausdruck nationalsozialistischen Gedankenguts anerkannt, und es wurde betont, dass die nach 1945 weiter bestehende Strafdrohung in diesem Umfang eine Verletzung der Menschenwürde homosexueller Menschen darstellte. Mit der Ergänzung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 23. Juli 2002 (NS-AufhÄndG, BGBl. I 2714) wurden pauschal die Urteile aufgehoben, die bis 1945 nach den §§ 175 und 175a Nr. 4 RStGB ergangen waren. Darüber hinaus erfolgte am 1. September 2004 eine Änderung der "Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetztes (AKG) vom 7. März 1988". Damit wurden auch Personen, die nach § 175 und § 175a Nr. 4 RStGB verurteilt worden waren, in die Lage versetzt, einen Anspruch auf Entschädigung geltend machen zu können. Dies alles wird den später im Nachkriegsdeutschland Verurteilten nicht zuteil.
Unterstützt wird das Anliegen der Rehabilitierung auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR). Die Bundesrepublik war der Europäischen Menschenrechtskonvention bereits im Jahr 1952 beigetreten. In zahlreichen Urteilen macht der EGMR seit 1981 deutlich, dass eine Gesetzgebung, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, menschenverachtend ist (vgl. Dudgeon v. Northern Ireland, no. 7525/76, Norris v. Irland, no. 10581/83, und Modinos v. Zypern, no. 15070/89). Es wird den Betroffenen ein entscheidender Teil ihrer Persönlichkeit abgesprochen. Gleiches gilt für Gesetze, die unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für sexuelle Handlungen zwischen Menschen gleichen und verschiedenen Geschlechts festsetzen. Die Aufhebung der einschlägigen Strafurteile durch eine gesetzliche Regelung ist deshalb zügig von der Bundesregierung zu umzusetzen.
Auf Antrag des Landes Berlin forderte der Bundesrat mit Entschließung vom 12. Oktober 2012 (BR-Drs. 241/12 (PDF) ) die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung für die nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher sexueller Handlungen Verurteilten vorzuschlagen. Dies ist bislang nicht geschehen.
Eine Aufhebung der Schuldsprüche kann nur durch ein generalkassierendes Gesetz erfolgen, denn es stehen keine anderweitigen gesetzlichen Möglichkeiten zur Verfügung:
- - Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Strafnormen wäre gemäß Artikel 93 Absatz 3 BVerfGG binnen eines Jahres, eine Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der einzelnen Urteile gemäß Artikel 93 Absatz 1 Satz 1 BVerfGG sogar binnen eines Monats zu erheben und zu begründen gewesen.
- - Eine Wiederaufnahme der Verfahren gemäß § 359 StPO scheitert daran, dass keiner der in der Vorschrift genannten Wiederaufnahmegründe vorliegt. Eine Erweiterung des Katalogs der Wiederaufnahmegründe ließe wiederum aus rein praktischen Gründen die Wiederaufnahme scheitern, denn jedwedes Verfahren, das eine Einzelfallentscheidung erfordert, würde daran kranken, dass aufgrund der verstrichenen Zeit die Verfahrensakten regelmäßig vernichtet sein werden. Selbst wenn die Akten noch vorlägen, ließe das Erfordernis von Einzelfallentscheidungen einen erheblichen Arbeitsanfall bei den Gerichten besorgen, was zu einer weiteren Verzögerung der Aufhebung der Urteile und damit einer Aufrechterhaltung des verfassungswidrigen Zustandes führen würde.
Soweit als Gegenargument gegen eine pauschale Aufhebung der Urteile durch ein Gesetz Bedenken hinsichtlich des Gewaltenteilungsprinzips (Artikel 20 Absatz 2 GG) vorgebracht werden, ist dies rechtlich nicht haltbar. Zwar ist es grundsätzlich Sache der Gerichte, im Rahmen der bestehenden Gesetze als falsch erkannte Strafurteile aufzuheben. Eine Generalkassation bestehender Urteile durch ein Gesetz ist jedoch dann nicht ausgeschlossen, wenn hierfür eine Rechtfertigung besteht (Straßmeir/Ullerich, Umgang mit nachkonstitutionellem Unrecht, Zeitschrift für Rechtspolitik, 2013, S. 76ff.). Erkennt der Gesetzgeber, dass Strafurteile aus früherer Zeit eklatant gegen die Menschenwürde verstoßen, ist es ihm nicht nur unbenommen, sondern auch geboten, diesen Verstoß durch ein generellabstraktes Gesetz, mit dem er sich gerade nicht an die Stelle des Gerichts im jeweiligen Einzelfall setzt, zu beseitigen (Straßmeir/Ullerich a.a. O.). Die richterliche Unabhängigkeit des seinerzeit erkennenden Gerichts wird dadurch in keiner Weise berührt.
Zu den Vorzügen des Rechtsstaats gehört es, staatlich begangene Fehler zu korrigieren. Im vorliegenden Fall kann dies nur durch den Gesetzgeber erfolgen.
Die Gewaltenteilung hat zum Ziel, staatliche Entscheidungen durch die jeweils zuständige Staatsgewalt erfolgen zu lassen. Dabei spielen die Gewalten jedoch zusammen, sind gewissermaßen verzahnt. Erfolgen, wie vorliegend, aufgrund dieses Zusammenspiels der Gewalten gesetzgeberische und in deren Konsequenz gerichtliche Entscheidungen, die seinerzeit nicht als Verstoß gegen die Menschenwürde erkannt wurden, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, diesen von ihm erkannten Unrechtszustand - auch rückwirkend - zu beseitigen (Lautmann, Wie korrigiert der Rechtsstaat sein falsches Recht, Recht und Politik 1/2015, S. 12, 16).
Das BVerfG versagte seinerzeit in rechtswidriger Weise bei der Überprüfung der politisch legislatorischen Fehlentscheidung, die §§ 175 und 175 a StGB in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung weiter bestehen zu lassen, und verkannte zudem die Schutzwirkung elementarer Grundrechte, insbesondere die des Art. 1 GG, der die Würde des Menschen schützt. Das BVerfG argumentierte auch vom damaligen Standpunkt aus in nicht hinnehmbarer Kontinuität nationalsozialistischer Begründungen für die Strafbarkeit der Homosexualität.
Auch § 31 Abs. 1 BVerfGG, wonach die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden binden, steht einer Aufhebung der Urteile und einer Rehabilitierung der Betroffenen nicht entgegen. Die Schwere der Verletzung seiner Pflichten durch das BVerfG rechtfertigt vielmehr die nachträgliche Aufhebung der Strafgerichtsurteile.
Die Generalkassation durch Gesetz widerspricht auch nicht dem Grundsatz der Rechtssicherheit, wonach gerichtliche Entscheidungen und sonstige staatliche Akte beständig und damit für die Bevölkerung verlässlich sein müssen, insbesondere wenn durch das staatliche Tun Begünstigungen oder sonstige für den Bürger positive und auf sein Leben Einfluss nehmende Rechtslagen geschaffen werden. Strafurteile sind jedoch ein Akt des Staates gegen Einzelne aufgrund eines Verhaltens, dass staatlicherseits für strafwürdig erachtet wird. Erkennt der Staat die Rechtswidrigkeit dieser Strafverfolgung, kann er sich nicht auf den Grundsatz der Rechtssicherheit berufen. Vielmehr hat er den von ihm geschaffenen und aufrechterhaltenen grundrechtswidrigen Zustand zu beseitigen.
Die Urteile, die in beiden deutschen Staaten aufgrund der §§ 175, 175a StGB bzw. § 151 StGB-DDR ergangen sind, sind auch unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten nicht mit Urteilen vergleichbar, bei denen Strafrechtsnormen zur Anwendung kamen, die aufgrund eines eingetretenen Wertewandels inzwischen aufgehoben wurden, z.B. Kuppelei oder Ehebruch. Bei homosexuellen Männern ist die Homosexualität kein von ihnen frei gewähltes Persönlichkeitsmerkmal, sondern Teil ihres Seins. Anders als ein sich bewusst für das seinerzeit gesellschaftlich geächtete und strafbewehrte Tun entscheidender Ehebrecher wurde bei homosexuellen Männern das Leben ihrer gesamten Lebensform unter Strafe gestellt, und zwar ohne dass Dritte davon berührt worden wären.
Fußt die jeweilige Verurteilung nicht nur auf den §§ 175, 175a StGB bzw. § 151 StGB-DDR, sondern auch auf anderen Strafnormen (z.B. bei tateinheitlicher Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern), ist der Schuldspruch nur aufzuheben, soweit er sich auf die inzwischen aufgehobenen Vorschriften bezieht.
Den Verurteilten ist in erster Linie an einer Rehabilitierung gelegen, nicht an materieller Entschädigung. Eine Entschädigung kann in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Im Falle einer Entschädigung verdient eine kollektive Entschädigung, zum Beispiel durch eine Einmalzahlung an die Bundesstiftung Magnus-Hirschfeld, den Vorzug vor Einzelfallentschädigungen. Einzelfallentschädigungen würden aufgrund der vielfach nicht mehr vorliegenden Strafakten ohnehin zahlreiche praktische Probleme aufwerfen.