Punkt 17 der 877. Sitzung des Bundesrates am 26. November 2010
Der Bundesrat möge zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung nehmen:
Zum Gesetzentwurf insgesamt
- 1. Der Bundesrat lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf aus folgenden Gründen ab:
- a) Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Grundsicherung vom 9. Februar 2010 bleibt weit hinter den verfassungsrechtlichen, sozial- und bildungspolitischen Erfordernissen zurück.
- b) Die Bundesregierung hat wertvolle Zeit verstreichen lassen. Statt die Chance zu nutzen und gemeinsam mit den Ländern und Kommunen ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Armut und zur Sicherstellung von Teilhabe von Kindern zu schaffen, hat sie im Alleingang einen völlig unzureichenden Gesetzentwurf vorgelegt.
- c) Das Bundesverfassungsgericht hat klare Vorgaben zur Ermittlung der Regelsätze gemacht. Diese sind im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht annähernd berücksichtigt. Auch die Vorschläge der Bundesregierung für mehr Teilhabe von Kindern bleiben weit hinter den Anforderungen zurück.
- 2. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, nach einem Gespräch auf politischer Spitzenebene unverzüglich in Verhandlungen einzutreten, um den Gesetzentwurf grundlegend zu überarbeiten. Dabei müssen die folgenden vier Ziele verwirklicht werden:
- a) Das Teilhabepaket soll mehr Kindern als bisher geplant zugutekommen
Kinder von Geringverdienenden müssen gleichermaßen unterstützt werden. Auch sie sollen ein Mittagessen bekommen und die Möglichkeit erhalten, zum Beispiel in den Sportverein oder die Musikschule zu gehen. Deshalb muss das Teilhabepaket auch auf Kinder von Wohngeldempfängern (140 000 Kinder zusätzlich) ausgeweitet werden.
Die Hilfen sollen direkt bei den Kindern ankommen. Die Umsetzung soll von den Kommunen organisiert und vom Bund finanziert werden.
- b) Bundesmittel für ein Programm Schulsozialarbeit
Nur mit einer bedarfsdeckenden Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur vor Ort kann die Teilhabe aller Kinder sichergestellt werden. Vor allem der flächendeckende Ausbau der Schulsozialarbeit ist ein geeignetes Instrument, um die Bildungsteilhabe und soziokulturelle Teilhabe zu unterstützen. Denn Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen kennen die Kinder und ihre Familien und ihren individuellen Unterstützungsbedarf aus dem täglichen Erleben.
Zur Sicherung eines einheitlichen Mindeststandards ist eine bedarfsgerechte Versorgung mit Schulsozialarbeit erforderlich. Dazu soll mindestens an jeder Schule ein Schulsozialarbeiter / eine Schulsozialarbeiterin etabliert werden (derzeit rund 34 000 allgemeinbildende und 9 000 berufsbildende Schulen). Die Kosten in Höhe von rund 2 Milliarden Euro im Jahr sollen überwiegend vom Bund getragen werden. Zur besseren Bewältigung der notwendigen Ausbaukosten soll der weitere Ausbau schrittweise bis 2015 stattfinden.
- c) Verfassungskonforme Regelsätze
Nach wie vor fehlt eine saubere Berechnungsgrundlage für die Regelsätze. Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf, auf Basis der unteren 20 Prozent der Einkommen von Menschen, die vom Lohn ihrer Arbeit leben, den Regelsatz zu berechnen.
Um die Ausgabepositionen "Tabak und Alkohol" methodisch korrekt auszuschließen, muss die gesamte Referenzgruppe um die Haushalte bereinigt werden, die Ausgaben dafür haben.
Die derzeit verwendeten Daten zur Berechnung des Kinderregelsatzes sind nicht geeignet, die Bedarfe von Kindern abzubilden. Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf, einen Expertenkreis einzurichten, der bereits die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 überprüfen muss und darüber hinaus Vorschläge für eine sachgerechte Ermittlung der Kinderregelsätze vorlegen soll. Die bisher ermittelten Regelsätze müssen einer Plausibilitätskontrolle unterworfen und gegebenenfalls angepasst werden.
- d) Bedürftigkeit vermeiden: Ausweitung der Mindestlöhne, Verbesserung bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik
Das oberste Ziel ist und bleibt, arbeitslosen Menschen den Weg in Existenz sichernde sozialversicherungspflichtige Arbeit zu eröffnen und damit Bedürftigkeit zu vermeiden. Deshalb lehnt der Bundesrat die Kürzungen der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik durch die Bundesregierung ab und fordert die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns. Die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union zum 1. Mai 2011 und auch die von der Bundesregierung beschlossene Erhöhung der Zuverdienstmöglichkeiten sind zusätzliche Argumente für einen gesetzlichen Mindestlohn. Auf jeden Fall müssen weitere Branchen durch Mindestlöhne nach dem Entsendegesetz vor Lohndumping und Schmutzkonkurrenz geschützt werden.
- a) Das Teilhabepaket soll mehr Kindern als bisher geplant zugutekommen
- 3. Der Bundesrat hält die Umsetzung auch der weiteren Punkte für unverzichtbar:
- a) Aufhebung der Sparbeschlüsse im Sozialbereich
Der Gesetzentwurf enthält Teile des von der Bundesregierung mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2011 (HBeglG 2011) auf den Weg gebrachten "Sparpakets". Der Bundesrat lehnt die folgenden Sparmaßnahmen ausdrücklich ab:
- - Wegfall des befristeten Zuschlags für Leistungsberechtigte der Grundsicherung für Arbeitsuchende, - Aufhebung der Anrechnungsfreiheit des Elterngeldes,
- - Wegfall der Versicherungspflicht der Leistungsberechtigten der Grundsicherung für Arbeitsuchende in der gesetzlichen Rentenversicherung,
- - Wegfall der Heizkostenkomponente im Wohngeldrecht,
- - Einsparungen bei den Mitteln für die aktive Arbeitsmarktpolitik.
Der Bundesrat fordert, diese Änderungen im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zum Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch aufzuheben.
- b) Weitere Forderungen für eine Ermittlung der Regelbedarfe für haushaltsangehörige Erwachsene aa) Der Bundesrat ist der Auffassung, dass im Rahmen der Regelbedarfsermittlung auch die Bedarfe haushaltsangehöriger Erwachsener grundsätzlich aus den Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe abzuleiten sind.
- bb) Der Bundesrat empfiehlt, die Ableitung bereits mit der Neubemessung der Regelbedarfe auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 vorzunehmen und die dazu erforderlichen Vorbereitungen umgehend zu treffen.
- cc) Die erstmalige Ableitung der Bedarfe haushaltsangehöriger Erwachsener im Zuge künftiger Regelbedarfsbemessungen hält der Bundesrat nur unter der Voraussetzung für vertretbar, dass es sich nach entsprechender Prüfung als unmöglich erweist, die erforderlichen Voraussetzungen dafür noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren zu schaffen.
- dd) Der Bundesrat hält es für erforderlich, rechtzeitig vor Beginn der Vorbereitungen für die nächste Regelbedarfsbemessung eine konsolidierte Grundlage für die Ableitung der Bedarfe erwachsener Haushaltsangehöriger und für die Abgrenzung der Generalunkosten der Haushalte zu schaffen. Damit sind unverzüglich Experten zu beauftragen. Über die künftig anzuwendende Methodik ist im Einvernehmen mit den Ländern zu entscheiden.
- a) Aufhebung der Sparbeschlüsse im Sozialbereich