Punkt 2 der 878. Sitzung des Bundesrates am 17. Dezember 2010
Der Bundesrat möge beschließen, zu dem vom Deutschen Bundestag am 3. Dezember 2010 beschlossenen Gesetz die Einberufung des Vermittlungsausschusses gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes mit dem Ziel der grundlegenden Überarbeitung des Gesetzes zu verlangen.
Begründung:
Mit seinem Urteil vom 9. Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht mehrere Vorschriften aus dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt und den Gesetzgeber aufgefordert, bis spätestens zum 31. Dezember 2010 eine Neuregelung zu treffen.
Mit dem vom Deutschen Bundestag am 3. Dezember 2010 beschlossenen Gesetz soll das Urteil nun umgesetzt werden. Aus folgenden Gründen erachtet der Bundesrat das Gesetz in der derzeitigen Fassung für nicht zustimmungsfähig und verlangt er dessen grundlegende Überarbeitung:
I. Verfassungsrechtlich problematische Regelungen des Gesetzes
- 1. Ermittlung der Regelsätze
- a) Nach wie vor fehlt eine saubere Berechnungsgrundlage für die Regelsätze. Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf, auf Basis der unteren 20 Prozent der Einkommen von Menschen, die vom Lohn ihrer Arbeit leben, den Regelsatz zu berechnen.
- b) Die einzurechnenden Bedarfspositionen sind an den tatsächlichen Bedarfen, d.h. an sämtlichen Verbrauchsausgaben der Haushalte, zu orientieren.
- c) Die derzeit verwendeten Daten zur Berechnung des Kinderregelsatzes sind nicht geeignet, die Bedarfe von Kindern abzubilden. Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf, einen Expertenkreis mit dem Auftrag zu betrauen, die Daten bereits der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 zu überprüfen und darüber hinaus Vorschläge für eine sachgerechte Ermittlung der Kinderregelsätze vorzulegen. Die bisher ermittelten Regelsätze müssen einer Plausibilitätskontrolle unterworfen und gegebenenfalls angepasst werden.
- d) Im Rahmen der Regelbedarfsermittlung wären grundsätzlich auch die Bedarfe haushaltsangehöriger Erwachsener aus den Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe abzuleiten gewesen.
Die erstmalige Ableitung der Bedarfe haushaltsangehöriger Erwachsener erst im Zuge künftiger Regelbedarfsbemessungen hält der Bundesrat nur unter der Voraussetzung für vertretbar, dass es sich nach entsprechender Prüfung als unmöglich erweist, die erforderlichen Voraussetzungen dafür noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren zu schaffen.
Der Bundesrat hält es für erforderlich, rechtzeitig vor Beginn der Vorbereitungen für die nächste Regelbedarfsbemessung eine konsolidierte Grundlage für die Ableitung der Bedarfe erwachsener Haushaltsangehöriger und für die Abgrenzung der Generalunkosten der Haushalte zu schaffen. Damit sind unverzüglich Experten zu beauftragen. Über die künftig anzuwendende Methodik ist im Einvernehmen mit den Ländern zu entscheiden.
- 2. Teilhabe von Kindern
Auch die für mehr Teilhabe von Kindern vorgesehenen Regelungen bleiben hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht aufgezeigt hat, zurück.
- a) Das Teilhabepaket muss mehr Kindern zugute kommen
Kinder von Geringverdienenden müssen gleichermaßen unterstützt werden. Auch sie sollen ein Mittagessen bekommen und die Möglichkeit erhalten, zum Beispiel in den Sportverein oder die Musikschule zu gehen. Deshalb muss das Teilhabepaket auch auf Kinder von Wohngeldempfängern (140 000 Kinder zusätzlich) ausgeweitet werden.
Die Leistungen des so genannten Bildungs- und Teilhabepakets dürfen die bereits vorhandenen Leistungen in den Ländern und Kommunen, die dem Zweck dienen, die Bildung von Schülerinnen und Schülern an allgemein- oder berufsbildenden Schulen sowie die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu fördern, nicht verdrängen. Aus diesem Grund bedarf es einer rechtssicheren und eindeutigen Regelung zur Nichtanrechnung dieser Leistungen.
Die Abwicklung des Bildungs- und Teilhabepakets über die Jobcenter ist widersinnig. Dass 1 300 zusätzliche Stellen mit einem Kostenvolumen von ca. 135 Millionen Euro bei der Bundesagentur für Arbeit geschaffen werden, nur um das Bildungs- und Teilhabepaket administrieren zu können, ist unverhältnismäßig und zeigt, dass hier ein unnötiges bürokratisches Monstrum geschaffen werden soll. Zentralistische Vorgaben und aufwändige Vereinbarungen zwischen Behörden und Vereinen sind der falsche Weg.
Die Hilfen sollen direkt bei den Kindern ankommen. Die Umsetzung soll von den Kommunen organisiert und vom Bund finanziert werden.
- b) Ausbau der Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur
Nur mit einer bedarfsdeckenden Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur vor Ort kann die Teilhabe aller Kinder sichergestellt werden. Vor allem der flächendeckende Ausbau der Schulsozialarbeit ist ein geeignetes Instrument, um die Bildungsteilhabe und soziokulturelle Teilhabe zu unterstützen. Denn Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen kennen die Kinder und ihre Familien und ihren individuellen Unterstützungsbedarf aus dem täglichen Erleben.
Zur Sicherung eines einheitlichen Mindeststandards ist eine bedarfsgerechte Versorgung mit Schulsozialarbeit erforderlich. Dazu soll mindestens an jeder Schule ein Schulsozialarbeiter / eine Schulsozialarbeiterin etabliert werden (derzeit rund 34 000 allgemeinbildende und 9 000 berufsbildende Schulen). Die Kosten in Höhe von rund 2 Milliarden Euro im Jahr sollen überwiegend vom Bund getragen werden. Zur besseren Bewältigung der notwendigen Ausbaukosten soll der weitere Ausbau schrittweise bis 2015 stattfinden.
- a) Das Teilhabepaket muss mehr Kindern zugute kommen
II. Unzumutbare Mehrbelastung für die Kommunen, für die ein adäquater Ausgleich fehlt
- 1. Das Gesetz berücksichtigt keinen Ausgleich für die erheblichen Kostenverschiebungen zu Lasten der Kommunen. Die im Gesetz enthaltenen Regelungen zur Erhöhung der Regelleistungen, zum Hinzuverdienst in § 1 1b Absatz 4 SGB II und zum Verhältnis der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu Sozialleistungen anderer Träger nach § 12a SGB II werden zu nicht unerheblichen Mehrkosten bei den Kommunen führen. Die Belastungen für die Kommunen betragen laut Gesetzentwurf infolge der neu ermittelten Regelleistungen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ca. 20 Millionen Euro und als Folge der Erhöhung des Erwerbsanreizes ca. 60 Millionen Euro im Jahr 2011 und ca. 115 Millionen Euro ab dem Jahr 2012. Infolge der Änderung in § 12a Satz 2 Nummer 2 SGB II fallen ausweislich des Gesetzentwurfs Mehrkosten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende für die Kommunen in Höhe von 75 Millionen Euro im Jahr 2011 und ca. 100 Millionen Euro ab dem Jahr 2012 an.
- 2. Zum Ausgleich dieser Kostenverschiebungen sieht das Gesetz jedoch keinerlei Mechanismus vor. Die derzeitige Regelung zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft und Heizung, die sich an der Änderung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften orientiert, vermag die Kostenverschiebungen durch die genannten Änderungen nicht abzufedern. Die Erhöhung der Regelleistungen, der Hinzuverdienstgrenzen und das geänderte Verhältnis zum Kinderwohngeld verursachen mehr Leistungsberechtigte, aber nicht automatisch in derselben Höhe mehr Bedarfsgemeinschaften. Die in § 46 Absatz 5 SGB II niedergelegte Entlastungsgarantie in Höhe von 2,5 Milliarden Euro kann mit der Anpassungsregelung in § 46 Absatz 7 SGB II nicht mehr erfüllt werden.
III. Der Bundesrat hält es für unverzichtbar,
dass flankierend zu den verfassungsrechtlich erforderlichen Nachbesserungen im Vermittlungsverfahren folgende Korrekturen vorgenommen werden:
- 1. Aufhebung der Sparbeschlüsse im Sozialbereich
Das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch enthält Teile des von der Bundesregierung mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2011 auf den Weg gebrachten "Sparpakets". Der Bundesrat fordert die Rücknahme folgender Sparmaßnahmen:
- a) Streichung des befristeten Zuschlags für Leistungsberechtigte der Grundsicherung für Arbeitsuchende,
- b) Aufhebung der Anrechnungsfreiheit des Elterngeldes,
- c) Wegfall der Versicherungspflicht der Leistungsberechtigten der Grundsicherung für Arbeitsuchende in der gesetzlichen Rentenversicherung,
- d) Wegfall der Heizkostenkomponente im Wohngeldrecht.
- 2. Bedürftigkeit vermeiden: Ausweitung der Mindestlöhne,
Verbesserung bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik
Das oberste Ziel ist und bleibt, arbeitslosen Menschen den Weg in Existenz sichernde sozialversicherungspflichtige Arbeit zu eröffnen und damit Bedürftigkeit zu vermeiden. Deshalb lehnt der Bundesrat die Kürzungen der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik durch die Bundesregierung ab und fordert die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns. Die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union zum 1. Mai 2011 und auch die von der Bundesregierung beschlossene Erhöhung der Zuverdienstmöglichkeiten sind zusätzliche Argumente für einen gesetzlichen Mindestlohn. Auf jeden Fall müssen weitere Branchen durch Mindestlöhne nach dem Entsendegesetz vor Lohndumping und Schmutzkonkurrenz geschützt werden.
- 3. Keine Pauschalierung der Kosten für Unterkunft und Heizung
Eine Pauschalierung der Kosten der Unterkunft und Heizung birgt sozialen Sprengstoff in sich: Sie ist entweder zu hoch und dann teuer für die Kommunen oder aber sie hat Leistungseinschränkungen für die Betroffenen zur Folge, wenn sie zielgerichtet zur Kostensenkung genutzt wird.
- 4. Keine Verschärfung der Sanktionen
Die Wirksamkeit von Sanktionen für eine erfolgreiche Integration in Arbeit ist in keiner Weise erwiesen, wichtiger ist die intensive Betreuung und Unterstützung bei der Vermittlung durch die Fallmanagerin bzw. den Fallmanager. Verfassungsrechtlich bedenklich sind die verschärften Sanktionsregelungen von unter 25- Jährigen. Sanktionen zu Lasten der Kosten der Unterkunft führen zu Mietschulden, Obdachlosigkeit und darüber hinaus zu hohen Folgekosten für die Kommunen.
- 5. Keine Rückforderung gegen Minderjährige in Bedarfsgemeinschaften
Minderjährige Kinder einer Bedarfsgemeinschaft sind bei der Rückforderung von gewährten Leistungen nicht zu berücksichtigen. Die Höhe des Anteils der Rückforderung der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erhöht sich entsprechend.
IV. Der Bundesrat bedauert,
dass die Bundesregierung und die Mehrheitsfraktionen im Deutschen Bundestag wertvolle Zeit haben verstreichen lassen. Statt die Chance zu nutzen und gemeinsam mit den Ländern und Kommunen ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Armut und zur Sicherstellung von Teilhabe von Kindern zu schaffen, haben sie im Alleingang und kurz vor Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist ein Gesetz vorgelegt, das verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Regelungen enthält und hinter den sozial- und bildungspolitischen Erfordernissen weit zurück bleibt.