Beschluss des Bundesrates
Entschließung des Bundesrates: Neuregelung der Kostenheranziehung nach dem SGB VIII

Der Bundesrat hat in seiner 993. Sitzung am 18. September 2020 die aus der Anlage ersichtliche Entschließung gefasst

Anlage
Entschließung des Bundesrates: Neuregelung der Kostenheranziehung nach dem SGB VIII

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, zeitnah die Heranziehung junger Menschen, die sich in vollstationärer Betreuung durch eine Pflegefamilie oder eine Pflegeeinrichtung befinden, zu einem Kostenbeitrag (§ 94 Absatz 6 SGB VIII) neu zu regeln. Dabei sollen die Jugendlichen von der Abführung an das Jugendamt freigestellt werden.

Begründung:

Nach § 94 Absatz 6 SGB VIII haben junge Menschen und Leistungsberechtigte nach § 19 SGB VIII bei vollstationären Leistungen nach Abzug der in § 93 Absatz 2 SGB VIII genannten Beträge 75 Prozent ihres Einkommens als Kostenbeitrag einzusetzen.

Legitimiert wird die Erhebung eines Kostenbeitrags damit, dass der Lebensunterhalt dieser Personen bei allen vollstationären Leistungen durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe sichergestellt werde und die Leistungen in Einrichtungen auch einen Barbetrag zur persönlichen Verfügung umfasse (s. Rd.

Nr. 10 Praxiskommentar Möller - 2. Auflage - und etwa Kommentar Wiesner Rd. Nr. 26 - 4. Auflage - zu § 94 Absatz 6 SGB VIII).

Mit dem Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz (KJVVG) wurden im Dezember 2013 im § 94 Absatz 6 die Sätze 2 und 3 SGB VIII eingefügt. Damit ist die Möglichkeit geschaffen worden, den Kostenbeitrag zu mindern oder gänzlich von ihm abzusehen. So kann ein geringerer Kostenbeitrag erhoben oder gänzlich von der Erhebung des Kostenbeitrages abgesehen werden, wenn das Einkommen aus einer Tätigkeit stammt, die dem Zweck der Leistung dient. Dies gilt insbesondere, wenn es sich um eine Tätigkeit im sozialen oder kulturellen Bereich handelt, bei der nicht die Erwerbstätigkeit, sondern das soziale oder kulturelle Engagement im Vordergrund steht.

Begründet wurde das damit, dass eine Kostenbeteiligung stationär untergebrachter Kinder und Jugendlicher in Einzelfällen zu dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe im Widerspruch stehen kann, junge Menschen in die Gesellschaft zu integrieren und sie zu einem eigenständigen, selbstverantwortlichen Leben zu erziehen und zu motivieren. Diesem Auftrag läuft es zuwider, wenn jungen Menschen die (gegebenenfalls ohnehin geringe) finanzielle Anerkennung für eine Tätigkeit genommen wird, die gerade dem pädagogischen Zweck der Jugendhilfeleistung dient. Hierzu gehören Tätigkeiten, in denen der junge Mensch Eigeninitiative ergreift und sich verantwortungsbewusst gegenüber seinem Leben und seiner Zukunft zeigt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der junge Mensch besonderes gesellschaftliches Engagement zum Beispiel in Form einer ehrenamtlichen Tätigkeit übernimmt. Ausdruck besonderer Eigenverantwortung mit Blick auf das Ziel der Verselbständigung kann aber beispielsweise im Einzelfall auch die Übernahme einer Tätigkeit als Zeitungsbote zur Finanzierung des Führerscheins sein.

Jugendämter können im Rahmen ihres Ermessens mithin darüber entscheiden, bei jungen Menschen in stationären Einrichtungen oder in Pflegefamilien von der Kostenheranziehung aus einem Einkommen abzusehen.

In der Praxis der Jugendämter hat sich allerdings gezeigt, dass keine einheitliche Handhabung dieser Ermessenvorschrift zu verzeichnen ist, zu einem signifikant hohen Teil sogar gänzlich auf die Ausübung des Ermessens verzichtet wird (Wortprotokoll der 51. Sitzung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages am 9. März 2020, Seiten 18 und 57 mit weiteren Nachweisen).

Die geltende Regelung der Kostenheranziehung nimmt Jugendlichen damit die Motivation und bremst junge Menschen auf ihrem Weg in die Arbeitswelt und auf ihrem Weg in die finanzielle Selbständigkeit aus. Die bestehenden Ausnahmeregelungen reichen nicht aus, um die negativen Effekte der Kostenheranziehung auszugleichen.

Das Kinder- und Jugendhilferecht soll auf der Basis des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) weiterentwickelt werden. Entgegen der Zusage des BMFSFJ wurde der Gesetzentwurf nach Abschluss des Beteiligungsprozesses "Mitreden - Mitgestalten" nicht im Frühjahr dieses Jahres vorgelegt. Die im KJSG geplante Verbesserung einer Absenkung des Kostenbeitrags von 75 auf 50 Prozent des bereinigten Einkommens reicht jedoch nicht aus. Es soll betroffenen Jugendlichen daher realistisch ermöglicht werden, durch eigene Initiative und Leistung einen finanziellen Grundstock anzusparen, um nicht nur aktuelle Bedürfnisse (Ferienfreizeiten) zu befriedigen, sondern auch Investitionen, die nachhaltig in ihre Zukunft wirken können (Führerschein) oder auch das Startkapital für die erste eigene Wohnung für die Zeit nach der Kinder- und Jugendhilfe, zu ermöglichen. Für den Fall einer völligen Freistellung wären dann auch weitere Änderungen in den §§ 91, 92 und 94 SGB VIII notwendig.