Der Bundesrat hat in seiner 869. Sitzung am 7. Mai 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat unterstützt das Anliegen des Richtlinienvorschlags, dem illegalen Menschenhandel eine entschlossene Reaktion entgegenzusetzen. Er ist der Auffassung, dass es sich beim Menschenhandel - gerade wegen der damit regelmäßig einhergehenden massiven Menschenrechtsverletzungen und den offenkundigen Bezügen zur Organisierten Kriminalität - um eine besonders schwere Form der Kriminalität handelt, die es wirksam und nachdrücklich zu bekämpfen gilt. Deshalb begrüßt er das Ziel des Richtlinienvorschlags, die Strafverfolgung im Bereich des Menschenhandels zu verbessern, weiteren Menschenhandel möglichst zu verhüten, die Opfer des Menschenhandels weitestmöglich zu schützen und ein wirksames Kontrollsystem zu schaffen.
- 2. Zu einzelnen Regelungen der vorgeschlagenen Richtlinie weist der Bundesrat allerdings auf Folgendes hin:
Im deutschen Recht gibt es hinsichtlich der aufgrund des Richtlinienvorschlags zu sanktionierenden Verhaltensweisen bereits ein ausgewogenes, an der Schwere der jeweiligen Rechtsgutverletzung orientiertes System von Strafrahmen.
Durch die Verpflichtung zur undifferenzierten Übernahme von im Mindestmaß bestimmten Höchststrafen bestünde die Gefahr, dass die Kohärenz dieser Systematik empfindlich gestört würde.
Die Schwere der Rechtsgutsverletzung bestimmt sich im deutschen Recht unter anderem auch nach dem Alter des Opfers. Im deutschen Strafrecht wird, ungeachtet vereinzelt darüber hinausgehender Differenzierungen, dementsprechend zwischen Kindern (Personen unter 14 Jahren), Jugendlichen (Personen von 14 bis unter 18 Jahren) und Volljährigen (Personen ab 18 Jahren) unterschieden. Die pauschale Einordnung aller Personen unter 18 Jahren als Kinder würde eine Differenzierung nach dem Vorgenannten nur noch innerhalb schärferer Strafrahmen ermöglichen. Auch dies stellt eine Störung der nach deutschem Recht bestehenden Systematik dar.
- 3. Das deutsche Strafrecht ist, was den Regelungsbereich des Richtlinienvorschlags angeht, bereits sehr weitgehend auch auf extraterritoriale Sachverhalte anwendbar. So sind Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und zum Zwecke der Ausbeutung der Arbeitskraft sowie die Förderung des Menschenhandels nach dem Weltrechtsprinzip in Deutschland verfolgbar.
- 4. Die Stärkung der Rechte der Opfer von Menschenhandel ist zu begrüßen. Allerdings ist dies kein absolutes Ziel. Es wird begrenzt unter anderem durch die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen einem Tatverdächtigen zustehenden Rechte und durch den staatlichen Anspruch an der Verfolgung und Aufklärung von - auch von einem Opfer begangenen - Straftaten. Mithin darf nicht allein die behauptete Opfereigenschaft zwangsläufig zu einem Freibrief für begangene Straftaten führen. Die privilegierungswürdige Opfereigenschaft ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls durch das Tatgericht festzustellen, das im Weiteren darüber zu entscheiden hat, ob die Opfereigenschaft eine Strafbefreiung oder etwa nur eine Strafmilderung rechtfertigt. War das Opfer etwa nur einem geringen psychischen Druck seitens des Täters ausgesetzt, liegt eine Strafbefreiung ebenso fern wie in dem Fall, in dem das Opfer eines Menschenhändlers selbst eine schwere Straftat begangen hat. Es erscheint daher geboten, die Voraussetzungen, unter denen eine Privilegierung des Opfers erfolgen kann oder zu erfolgen hat, zu konkretisieren.
- 5. Weitere erhebliche Folgen für die bestehende Systematik des Strafprozessrechts würden sich aus der Verpflichtung zur Gewährleistung der Verwertbarkeit von Videoaufnahmen von sämtlichen - also auch polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen - Vernehmungen eines kindlichen Opfers ergeben.
- 6. Die Zielrichtung des Richtlinienvorschlags, dem kindlichen Opfer weitere belastende Anhörungen zu ersparen und die tatnahe authentische Aussage zu konservieren, ist zu begrüßen. Die Formulierung des Artikels 14 Absatz 4 des Richtlinienvorschlags schließt aber in der deutschen Sprachfassung die Interpretation nicht zweifelsfrei aus, dass sämtliche Vernehmungen des Opfers oder Zeugen im Kindesalter bei Straftaten der Artikel 2 und 3 auf Videoband aufgenommen werden müssten, um sie als Beweismaterial in Gerichtsverhandlungen verwenden zu können. Der Bundesrat bittet insoweit die Bundesregierung, bei den weiteren Verhandlungen darauf hinzuwirken, dass das missverständliche Tatbestandsmerkmal "sämtliche" in Artikel 14 Absatz 4 gestrichen und auch in der deutschen Fassung sprachlich klarer gefasst wird, dass die videografierte Vernehmung im Strafermittlungsverfahren durch den Vorschlag nicht generell angeordnet wird, sondern in jedem Einzelfall geprüft werden muss.