Empfehlung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft (gemäß Artikel 99 EG-Vertrag)
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (gemäß Artikel 128 EG-Vertrag)
KOM (2005) 141 endg.; Ratsdok. 8008/05
Der Bundesrat hat in seiner 811. Sitzung am 27. Mai 2005 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die vom Europäischen Rat am 22./23. März 2005 beschlossene Neuausrichtung der Strategie von Lissabon auf Wachstum und Beschäftigung in erstmals Integrierten Leitlinien ihren Niederschlag findet. Der Bundesrat sieht darin Chancen für mehr Wachstum und Beschäftigung, eine darauf bezogene größere Kohärenz der drei Dimensionen der Lissabonner Strategie und nicht zuletzt auch einen wichtigen Schritt in Richtung Straffung und Vereinfachung der zahlreichen Koordinierungen auf Gemeinschaftsebene.
Er stellt fest, dass - verbunden mit entsprechenden Berichtspflichten für die Mitgliedstaaten -
- - in der Leitlinie 12 mit der Forderung nach der Steigerung der Studentenzahlen in technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen den Mitgliedstaaten eine von ihnen "durchzuführende" Einzelmaßnahme vorgeschrieben wird, die der Rat zwar am 5. Mai 2003 als europäischen Durchschnittsbezugswert angenommen, zu der er aber erklärt hat, dass damit "keine Festlegung einzelstaatlicher Ziele" verbunden sei und "keine Entscheidungen vorgegeben werden, die von den jeweiligen Regierungen getroffen werden müssen";
- - in den Leitlinien 12 "Mehr und effizienter in FuE investieren", 13 "Innovation und IKT-Integration fördern" sowie 15 "Zur Schaffung einer soliden industriellen Basis in Europa beitragen" weit reichende Aussagen zu Zielen und Inhalten gemacht werden, über die erst im Zuge der Beschlussfassung zum Siebten Forschungsrahmenprogramm entschieden werden kann;
- - vor allem in den Leitlinien-Vorschlägen 22 "Investitionen in Humankapital steigern und optimieren" und 23 "Aus- und Weiterbildungssysteme auf neue Qualifikationsanforderungen ausrichten" explizite Aussagen zu den Bereichen Bildung und Ausbildung gemacht werden.
- 2. Der Bundesrat verweist grundsätzlich auf die veränderte Sachlage nach dem Europäischen Rat vom 22./23. März 2005 und die damit vorgenommene Neubelebung der Lissabon-Strategie in Gestalt einer Fokussierung auf die Bereiche Wachstum und Beschäftigung. Vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten gewesen, dass die Integrierten Leitlinien sich auf diese Kernbereiche beschränken und nicht - wie in den vorherigen Leitlinien-Kommissionsvorschlägen - entgegen der Intention des Europäischen Rates erneut im Rahmen beschäftigungspolitischer Leitlinien bildungspolitische Forderungen an die Mitgliedstaaten stellen. Das prioritäre Instrument für die europäische Bildungskooperation (unter Einschluss arbeitsmarkt- und beschäftigungsrelevanter Aspekte) ist das Arbeitsprogramm "Bildung und Ausbildung 2010". Darauf hat der Europäische Rat am 22./23. März 2005 ausdrücklich hingewiesen. Hier haben die Bildungsminister der Mitgliedstaaten vereinbart, auf freiwilliger Basis alle zwei Jahre über die Weiterentwicklung der Bildungssysteme der EU-Mitgliedstaaten zu berichten. Damit liegt in der Berichtspflicht auf Grund der Integrierten Leitlinien eine überflüssige und vom Europäischen Rat nicht mehr gewollte Doppelung der Berichterstattung zu identischen Sachverhalten vor.
- 3. Der Bundesrat weist darauf hin, dass nach seiner ständigen Feststellung die Bereiche von Bildung und Forschung jeweils eigene Regelungsmaterien sind und nicht der Wirtschafts- und Sozialpolitik unterstellt werden dürfen. Die Tatsache, dass Beschäftigung und Wirtschaftswachstum auch von den Erfolgen der Bildung und Forschung abhängen, unterwirft diese Politikbereiche nicht den vertraglichen Rechtsgrundlagen für die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik; diese sehen andere gemeinschaftliche Handlungsmöglichkeiten vor, als dies die speziellen Vorschriften des Vertrags zur Forschungs- und Bildungspolitik zulassen. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Verantwortung für die Bildung und Forschung in dem dafür vorgesehenen gemeinschaftlichen Rahmen wahr und bringen diese dann auch in diesem Rahmen in die gemeinschaftliche Förderung der Beschäftigungspolitik ein. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, diese Klarstellung zu den Rechtsgrundlagen in geeigneter Weise in den weiteren Beratungen zu verdeutlichen.
- 4. Der Bundesrat fordert deshalb, in Bezug auf Bildungsangelegenheiten den topdown-Prozess der Integrierten Leitlinien durch den Ansatz des Arbeitsprogramms "Bildung und Ausbildung 2010" zu ersetzen. Dieser besteht darin, durch gegenseitigen Informations- und Erfahrungsaustausch sowie die Identifizierung bewährter Verfahren Ansätze im Hinblick auf Herausforderungen zu erarbeiten, mit denen sich die Bildungssysteme gegenwärtig konfrontiert sehen. In Bezug auf Angelegenheiten der Forschung weist der Bundesrat darauf hin, dass durch die Mitteilung der Kommission für die Mitgliedstaaten keine Verpflichtungen geschaffen werden können, die über die Maßnahmen des Sechsten und künftigen Siebten Forschungsrahmenprogramms hinausgehen.
- 5. Der Bundesrat weist nachdrücklich Vorgaben zurück, die über den gegenwärtigen Stand der Ergebnisse des Arbeitsprogramms "Bildung und Ausbildung 2010" hinausgehen (z.B. Entwicklung von Transparenz- und Qualifikationsrahmen bzw. von Rahmen zur Validierung nichtformalen und informellen Lernens sowie Vorgaben zur Beteiligung von Lernenden an den Kosten z.B. der Sekundarschulbildung) bzw. die Diskussion bezüglich der Forschungsrahmenprogramme auf die Ebene wirtschaftspolitischer Leitlinien verlagern.
- 6. Der Bundesrat begrüßt, dass künftig auch die nationalen Aktionspläne und -berichte im Rahmen der sozialpolitischen Koordinierungen in das nationale Reformprogramm eingehen sollen und somit die Modernisierung des Sozialschutzes und die Förderung des sozialen Zusammenhalts Bestandteile sind. Er bittet um geeignete Darlegung des Fortschritts für die soziale Dimension. Der Bundesrat begrüßt, dass neben den Aufgaben, Beschäftigung, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, auch sozialpolitische Aspekte in die neuen Leitlinien einfließen sollen. Dies stellt zum einen sicher, dass die Sozialschutzsysteme die Ziele von Wachstum und Beschäftigung unterstützen können. Zum anderen wird damit gewährleistet, dass die Förderung von Wachstum und Beschäftigung zum sozialen Zusammenhalt beiträgt.
- 7. Die Integrierten Leitlinien zielen auf eine Bündelung diverser Politikbereiche für den Arbeitsmarkt und den sozialen Zusammenhalt ab. Der Bundesrat hebt positiv hervor, dass die Leitlinien grundsätzlich darlegen, was erreicht werden soll, aber den Mitgliedstaaten offen lassen, wie und welche Prioritäten erreicht werden sollen. Auch ist der gewählte Zeitraum von drei Jahren angemessen, um einerseits ausreichend Zeit für die Überprüfung der Wirksamkeit einer mittelfristig angelegten Arbeits- und Beschäftigungspolitik zu geben und andererseits Anpassungen an nicht vorhersehbare Veränderungen vornehmen zu können. Dies darf allerdings zu keiner Ausweitung von Berichtspflichten führen.
- 8. Der Bundesrat begrüßt deshalb die Rückführung der vielfältigen Berichtspflichten und die Bündelung der Strategie in Richtung des Lissabon-Prozesses.
- 9. Hinsichtlich der Änderungen gegenüber den bisherigen Leitlinien im Einzelnen sieht der Bundesrat folgenden Änderungs- bzw. Klärungsbedarf:
- 10. Mit Blick auf die Leitlinien 3 und 12 ist einer Umschichtung der Mittel zugunsten wachstumsfördernder Faktoren, wie Forschung und Entwicklung vom Ansatz her zuzustimmen. Allerdings bleibt offen, zu wessen Lasten eine solche Umschichtung gehen soll.
- 11. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die Anhebung des Beschäftigungsniveaus ein wichtiges Mittel ist, um Wirtschaftswachstum zu generieren und die Wirtschaftssysteme sozial integrativ zu gestalten. In diesem Zusammenhang unterstützt der Bundesrat auch die Beschäftigungsquotenziele 2010 der EU bei der Gesamtbeschäftigung in Höhe von 70 %, bei der Frauenbeschäftigung von 60 % und bei der Beschäftigung älterer Arbeitskräfte (55 bis 64 Jahre) von 50 %. Der Bundesrat sieht gerade auch in Deutschland einen großen Handlungsbedarf zur Erreichung dieser Beschäftigungsquotenziele. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Beschäftigungsquote älterer Arbeitskräfte, die auch in Deutschland von allen Quoten am weitesten von der Zielvorgabe 2010 entfernt ist. Der Bundesrat unterstützt vor diesem Hintergrund den Vorschlag der EU, dass sich die Mitgliedstaaten nationale Beschäftigungsquotenziele für 2008 und 2010 vorgeben (vgl. Integrierte Leitlinie 16).
- 12. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich in Richtung der "Offenen Methode der Koordinierung" (OMK) für ein transparentes Benchmarking auf der Ebene der EU-25 und gegen quantitative Vorgaben für die Mitgliedstaaten von Seiten der EU einzusetzen.
- 13. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, Existenzgründungen, insbesondere auf wissensintensiven Gebieten noch stärker als bisher zu unterstützen. Grundlegende Neuentwicklungen werden häufig von neuen Unternehmen oder von nach Betriebsübernahmen neu ausgerichteten Unternehmen angestoßen. Im Zuge des demografischen Wandels wird die Zahl der "jungen Erwachsenen" im Alter von 25 bis 39 Jahren, die bisher eine besonders hohe Gründungsneigung aufweisen, zwischen 2010 und 2030 EU-weit um 16 % zurückgehen. Dies wird erhebliche Konsequenzen für die allgemeine Wirtschaftsdynamik und die Entwicklung von Innovationen haben. Außerdem wird erwartet, dass in den nächsten zehn Jahren europaweit rund ein Drittel aller Unternehmer einen Nachfolger suchen. Diese Entwicklungen stellen nicht nur eine Gefahr für bestehende und die Schaffung neuer Arbeitsplätze dar, sondern könnten auch die kontinuierliche Modernisierung der Wirtschaft und das Hervorbringen von Innovationen negativ beeinflussen. In Anbetracht dessen müssen auch die Gründungspotenziale anderer Gruppen der Erwerbsbevölkerung, etwa der Frauen, der Älteren und der Migranten, in Zukunft sehr viel stärker ausgeschöpft werden, um einen Einbruch bei den Unternehmensgründungen zu verhindern und die Nachfolge bestehender Unternehmen zu sichern.
- 14. Der Bundesrat begrüßt den Vorschlag eines lebenszyklusbasierten Ansatzes in der Beschäftigungspolitik (vgl. Integrierte Leitlinie 17) und fordert die Bundesregierung auf, diese Aspekte künftig bei ihren politischen Maßnahmen konsequent zu berücksichtigen.
- 15. In diesem Zusammenhang fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass in den monatlichen Arbeitsmarktberichten der Bundesagentur für Arbeit auch die Zahl der ALG-II-Empfänger nach § 428 SGB III analog zur Darstellung bis Ende 2004 aufgeführt werden. Die neue Darstellung der Bundesagentur schafft neue Intransparenz bei der Frage der Inanspruchnahme von Vorruhestandsmodellen.
- 16. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Bundesregierung ihre Anstrengungen verstärken muss, arbeitssuchende und benachteiligte Menschen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren (vgl. Integrierte Leitlinie 18). In diesem Zusammenhang kommt einem spürbaren Abbau der hohen effektiven Grenzsteuersätze von Sozialleistungsempfängern auf Grund des Transferentzugs eine besondere Bedeutung zu.
- 17. Die "beschäftigungsfreundliche Gestaltung von Arbeitskosten" und "Anpassung arbeitsrechtlicher Vorschriften" wird in Leitlinie 21 zwar thematisiert, die Formulierungen hierzu sind aber sehr unbestimmt und geben somit spekulativen Interpretationen für die konkrete Umsetzung breiten Raum. Insbesondere wäre zu klären, wie die Forderung, das Lohntarifsystem nach Produktivitätsunterschieden und Arbeitsmarkttrends zu gestalten, ohne Eingriff in die Tarifautonomie zu verwirklichen ist.
- 18. Der Bundesrat teilt die Auffassung der EU, dass die berufliche Fort- und Weiterbildung gerade auch im Hinblick auf die Beschäftigungsfähigkeit der Erwerbspersonen zentrale Bedeutung hat. Dies gilt ganz besonders auch für Geringqualifizierte und ältere Arbeitskräfte aber auch für Wiedereinsteigerinnen in den Beruf nach einer längeren Erziehungsphase.
- 19. Zu den in den Integrierten Leitlinien angesprochenen Fragen des Arbeitsmarktzugangs von Drittstaatsangehörigen bzw. deren Begründung verweist der Bundesrat auf seine zahlreichen Beschlüsse (zuletzt BR-Drucksache 037/05(B) ).
- 20. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, Vorschläge zu unterbreiten, wie künftig die "gute Governance der Beschäftigungspolitik" sichergestellt werden kann. Dabei sollten auch Aussagen getroffenen werden, inwieweit die Bundesregierung beabsichtigt, überprüfbare Verpflichtungen und Zielvorgaben zu formulieren, die sich mit den EU-Leitlinien und Empfehlungen decken.
- 21. Die Bundesregierung wird weiter aufgefordert, die Länder bei der Erstellung des nationalen Reformprogramms (Lissabon-Aktionsplan) rechtzeitig und umfassend zu beteiligen.