COM (2018) 270 final
Der Bundesrat hat in seiner 969. Sitzung am 6. Juli 2018 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat erinnert daran, dass der von der Kommission vorgelegte Vorschlag auf die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 14. Dezember 2017 zurückgeht, in denen dieser dazu aufgerufen hat, die "Förderung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der gegenseitigen Anerkennung von Hochschulabschlüssen und Schulabschlüssen der Sekundarstufe in einem angemessenen Rahmen" weiter voranzubringen.
- 2. Die Kommission verfolgt das Ziel, dass bis 2025 allen Studierenden, Auszubildenden sowie Schülerinnen und Schülern, die einen Lernaufenthalt im Ausland absolviert haben, Abschlüsse und Qualifikationen aus diesen Erfahrungen für die Zwecke ihrer weiteren Ausbildung anerkannt werden und dabei ein gesondertes Anerkennungs- bzw. Äquivalenzprüfverfahren ausgeschlossen wird. Mit der vorgeschlagenen Empfehlung sollen die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen werden, sich politisch für eine solche automatische Anerkennung einzusetzen.
- 3. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass die EU-weite Lernmobilität in allen Bereichen des formalen, nonformalen und informellen Lernens von überragender Wichtigkeit ist und großen Nutzen entfaltet. Für die Lernenden fördern Lernerfahrungen im europäischen Ausland den Erwerb von Wissen, Fertigkeiten und (insbesondere Sprach-)Kompetenzen. Persönliche, soziale und interkulturelle Kompetenzen können dadurch ausgebaut werden. Dies gilt auch für das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl und die Herausbildung einer europäischen Identität. Gerade in Zeiten, in denen die europäische Idee einer Wertegemeinschaft großer Skepsis in weiten Teilen der Bevölkerung begegnet, nationalistischen Bestrebungen Vorschub geleistet wird und Kenntnisse über die EU in Teilen der Bevölkerung augenscheinlich nicht ausreichend sind, sind die Sammlung von Lernerfahrungen in einem anderen Mitgliedstaat, der Austausch von Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden und Studierenden unterschiedlicher Mitgliedstaaten sowie die Erfahrung des Aufenthalts im europäischen Ausland von essentieller Bedeutung und müssen gefördert werden.
- 4. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission auch darin überein, dass Lernerfahrungen und Abschlüsse, die im Ausland erworben werden, nicht losgelöst von der Ausbildung im Inland betrachtet werden dürfen, sondern vielmehr für diese förderlich sein müssen. Auslandsaufenthalte dürfen nicht zum Nachteil für die eigene Bildungsbiographie gereichen.
- 5. Er weist darauf hin, dass der Europäische Rat in den oben genannten Schlussfolgerungen vom 14. Dezember 2017 das Ziel einer automatischen Anerkennung von Bildungsabschlüssen im oben genannten Sinne nicht ausdrücklich formuliert hat.
- 6. Der Bundesrat unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass der Europäische Rat durch seine Vorgaben die Verantwortung für alle weiteren Schritte eindeutig den Mitgliedstaaten zuweist.
- 7. Der Bundesrat betont, dass gemäß Artikel 165 AEUV Maßnahmen der EU im Bildungsbereich die Tätigkeit der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems nur unterstützen und ergänzen. Folgerichtig weist die Kommission auch darauf hin, dass der vorgelegte Vorschlag unverbindliche Instrumente beinhaltet. Diese Unverbindlichkeit ist allerdings nicht mit einem gleichzeitig ausgerufenen verbindlichen Ziel der Erreichung einer automatischen gegenseitigen Anerkennung von Abschlüssen bis zum Jahr 2025 vereinbar.
- 8. Der Bundesrat erinnert daran, dass die Schul- und Ausbildungssysteme in den Mitgliedstaaten der EU sehr unterschiedlich strukturiert sind, da sie auf unterschiedlichen, historisch gewachsenen Bildungsmodellen beruhen. Dadurch hat sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Abschlüssen mit unterschiedlichen Grundlagen und Voraussetzungen entwickelt. Diese Diversität ist allerdings kein Malus, den es zu überwinden gälte, sondern positiver Ausdruck einer vielfältigen europäischen Bildungslandschaft. Diese Vielfalt wird auch in der Mitteilung der Kommission "Ein stärkeres Europa aufbauen: Die Rolle der Jugend-, Bildungs- und Kulturpolitik" (BR-Drucksache 194/18 (PDF), Seite 2) als eine Besonderheit Europas ausdrücklich hervorgehoben und richtigerweise als Quelle der Innovation und Kreativität bezeichnet.
- 9. Eine automatische Anerkennung von sekundären Schulabschlüssen unter striktem Ausschluss jeglicher Äquivalenzprüfungen für den Zugang zu einer weiterführenden Hochschulausbildung in einem anderen Mitgliedstaat wäre nur vorstellbar, wenn eine weitgehende Vergleichbarkeit und damit Harmonisierung der Bildungssysteme und Abschlüsse hergestellt würde. Eine automatische Anerkennung könnte andernfalls dazu führen, dass Ungleiches gleich behandelt und somit zu einer ungerechten Verfahrensweise führen sowie eine allgemeine Niveauabsenkung, das heißt in letzter Konsequenz auch Entwertung der Abschlüsse, zur Folge haben würde. Es ist allerdings so, dass die ausschließliche Kompetenz für die Ausgestaltung von Ausbildungsgängen, Lehrinhalten und Curricula im Schulbereich bei den Mitgliedstaaten liegt und eine Harmonisierung ausdrücklich nicht das Ziel einer europäischen Bildungspolitik sein darf (vergleiche Artikel 165 Absatz 1, Artikel 166 Absatz 1 AEUV).
- 10. Der Bundesrat stellt fest, dass in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland mit der Rahmenordnung für den Hochschulzugang sowie dem Bewertungsrahmen und den Bewertungsvorschlägen der Kultusministerkonferenz Instrumente einer gleichmäßigen Bewertung ausländischer Bildungsnachweise etabliert sind, die eine die europäische (und außereuropäische) Vielfalt der Bildungssysteme und ihrer Abschlüsse ernst nehmende, gerechte, zuverlässige und gleichmäßige Einstufung in das deutsche Bildungssystem bzw. -niveau ermöglichen. Insofern existiert in den Ländern bereits ein weit fortentwickeltes System der gegenseitigen Anerkennung von Sekundarabschlüssen. Der Aufbau weiterer Verfahrensstrukturen ist daher nicht notwendig und wird abgelehnt.
- 11. Die in dem Vorschlag genannten bereits bestehenden Vereinbarungen zur automatischen Anerkennung von Schulabschlüssen der Sekundarstufe II bestehen zwischen Mitgliedstaaten, deren Bildungssysteme auf ähnlichen historischkulturellen Wurzeln beruhen und dadurch inhaltlich sehr eng miteinander verwoben sind. Eine entsprechende Anerkennungspraxis im Verhältnis aller Mitgliedstaaten untereinander und eine diesbezügliche Vorbildwirkung sind wegen der oben dargestellten Unterschiedlichkeit der Bildungssysteme innerhalb der EU allerdings nicht möglich.
- 12. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission überein, dass auch im Bereich der beruflichen Sekundarbildung die Lernmobilität von großer Wichtigkeit ist und gefördert werden sollte. Eine essentielle Voraussetzung für die Attraktivität von Lernaufenthalten im Ausland ist auch hier eine einfache und möglichst vollständige Anerkennung von Lernzeiten und/oder Abschlüssen. Ein umfassender Automatismus hingegen ist in Anbetracht der Diversität der beruflichen Abschlüsse und Qualitätsanforderungen weder umsetzbar, noch wünschenswert. Zudem wird in dem Empfehlungstext vorgeschlagen, dass es für eine automatische Anerkennung einer Auslandslernzeit bereits genügen soll, dass die erworbenen Kompetenzen weitgehend mit den in den nationalen Lehrplänen definierten Kompetenzen übereinstimmen. Dies ist aus Sicht des Bundesrates nicht ausreichend, um die hohe Qualität der nationalen Aus- und Weiterbildung zu sichern und lässt eine Verwässerung der beruflichen Bildung befürchten.
- 13. Im Bereich der beruflichen Bildung gibt er zu bedenken, dass es - anders als im Bereich des Hochschulwesens mit dem Lissabonner Anerkennungsübereinkommen (Lissabon-Übereinkommen) und dem Bologna-Prozess - insoweit bislang noch keinen vergleichbaren Harmonisierungsprozess auf EU-Ebene gibt. Die Erfahrungen aus dem bereits im Jahre 1998 initiierten Bologna-Prozess haben gezeigt, dass eine Angleichung der nationalen Hochschulsysteme eine langfristige Herausforderung ist. Vor diesem Hintergrund bestehen nach Ansicht des Bundesrates durchgreifende Bedenken gegen eine automatische Anerkennung von Auslandslernzeiten bereits ab dem Jahr 2025.
- 14. Der Bundesrat erinnert daran, dass im Bereich der Hochschulbildung mit dem Bologna-Prozess, an dem unter anderem alle Mitgliedstaaten der EU teilnehmen, der Aufbau eines Europäischen Hochschulraumes umgesetzt wird und bereits große Fortschritte erzielt worden sind. Verpflichtungen, die die Bologna-Staaten im Rahmen dieses intergouvernementalen Prozesses eingegangen sind (etwa die Dreistufigkeit der Hochschulbildung) können nach seiner Ansicht nicht Gegenstand von Empfehlungen auf EU-Ebene sein. Eine Verpflichtung, die Hochschulsysteme im Einklang mit den Strukturen des Bologna-Prozesses zu organisieren, wird deshalb abgelehnt.
- 15. Der Bundesrat stellt fest, dass im Hochschulbereich mit dem Lissabon-Übereinkommen bereits ein wirksames Instrumentarium für eine einfache und unbürokratische gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen zum Zwecke der Fortsetzung der akademischen Ausbildung innerhalb des Bologna-Raumes existiert. Wie dem aktuellen Bericht zum Stand der Implementierung der Ziele des Bologna-Prozesses in den Bologna-Staaten ("The European Higher Education Area 2018"), der anlässlich der Bologna-Ministerkonferenz Ende Mai 2018 vorgelegt wurde, zu entnehmen ist, erfolgt die Umsetzung dieses Übereinkommens noch nicht in jedem Bologna-Staat in idealer Weise. Dies ist der wesentliche Grund, weshalb unter Geltung des Lissabon-Übereinkommens noch unerwünschte Hindernisse bei der Anerkennung beobachtet werden. Der Bundesrat hält ausdrücklich fest, dass entgegen der Darstellung der Kommission bereits erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Ziel muss es also sein, die konsequente Anwendung des Lissabon-Übereinkommens weiter voranzutreiben und bereits existierende Instrumente zu nutzen. Bi- und multilaterale Vereinbarungen sind hingegen kein geeignetes Instrumentarium.
- 16. Er weist darauf hin, dass eine Umsetzung der von der Kommission vorgeschlagenen Empfehlungen im Bereich der Hochschulbildung sich auf die Verbesserung der Anerkennungspraxis zwischen den Mitgliedstaaten beschränken würde. Dies ist mit den Zielen des Bologna-Prozesses und des Lissabon-Übereinkommens, die Mobilität im gesamten Europäischen Hochschulraum und darüber hinaus zu verbessern, nicht vereinbar.
- 17. Auch der Hochschulbereich ist im Vergleich der Mitgliedstaaten von Diversität geprägt. Eine automatische gegenseitige Anerkennung unter Ausschluss jeglichen Prüfverfahrens würde eine weitgehende Angleichung der Lerninhalte erfordern. Eine solche Angleichung ist nicht gewünscht und kann schon aufgrund des verfassungsrechtlich verankerten Grundsatzes der Hochschulautonomie den Hochschulen nicht vorgegeben werden. Der Bundesrat fordert daher dazu auf, in der Empfehlung klarzustellen, dass eine automatische Anerkennung von Hochschulabschlüssen bzw. von Ergebnissen einer Auslandslern-zeit auf Hochschulebene ausschließlich meint, dass in einem anderen Mitgliedstaat erworbene Lernergebnisse auf der Basis der Prinzipien des Lissabon-Übereinkommens anzuerkennen sind. Dabei ist sicherzustellen, dass dieselben Verfahrensgrundsätze gelten wie bei der Anerkennung von im jeweiligen Mitgliedstaat erworbenen Kompetenzen.
- 18. Der Bundesrat hebt hervor, dass Äquivalenzüberprüfungsverfahren von Bildungsabschlüssen insbesondere auch dazu dienen, eine belastbare Prognose zu treffen, ob die betreffenden Lernenden aufgrund der bisherigen Vorkenntnisse und Qualifikationen für den angestrebten Bildungsgang geeignet sind. So sollen Misserfolgserlebnisse möglichst schon von vornherein ausgeschlossen werden. Eine automatische Anerkennung im oben genannten Sinne würde eine solche in pädagogischer Hinsicht sehr sinnvolle Erfolgsprognose nicht mehr ermöglichen.
- 19. Der Bundesrat lehnt die in dem Vorschlag enthaltenen umfassenden Dokumentations- und Berichtspflichten in allen Bereichen ab. So erfolgt bereits im Rahmen des Monitoring-Prozesses im Europäischen Hochschulraum eine umfangreiche Dokumentation zur Umsetzung des Lissabon-Übereinkommens. Im Schulbereich nehmen die Länder etwa regelmäßig an internationalen Schulleistungsstudien wie IGLU, TIMSS und PISA teil und tauschen aus diesem Anlass bereits umfangreich Informationen mit anderen Mitgliedstaaten aus.
- 20. In Bezug auf den Europäischen Qualifikationsrahmen warnt der Bundesrat nachdrücklich und zum wiederholten Mal (zuletzt BR-Drucksache 317/16(B) , Ziffer 5) vor einer Vermischung von Anerkennungs- und Transparenzinstrumenten.
- 21. Zusammenfassend stellt er fest, dass für die gegenseitige Anerkennung von Bildungsabschlüssen zum Zwecke des Zugangs zu weiterführenden Studien innerhalb der EU bzw. des Europäischen Hochschulraumes bereits wirksame Instrumentarien bestehen, die eine Anerkennung ohne wesentliche Hindernisse schon jetzt ermöglichen. Aufgrund der Diversität der europäischen Bildungslandschaft ist ein vollständiger Verzicht auf jegliche Äquivalenzprü-fungen nur realistisch bei einer weitgehenden inhaltlichen Angleichung der Bildungssysteme, was aufgrund der eindeutigen Kompetenzzuordnungen im Bildungsbereich nicht umsetzbar ist.
- 22. Nichtsdestotrotz ist eine weitere Verbesserung und Fortentwicklung der bestehenden Anerkennungssysteme und -instrumentarien wünschenswert, um noch bestehende Hindernisse zu beseitigen. Zentrales Ziel einer Ratsempfehlung sollte also die konsequente Umsetzung der bestehenden Instrumentarien, insbesondere des Lissabon-Übereinkommens, sein. Ziel kann es auch sein, die Verfahren weiter zu vereinfachen, die Transparenz sowie das gegenseitige Vertrauen zu erhöhen und den Austausch der Mitgliedstaaten zu fördern. Die Mitgliedstaaten müssen allerdings die Möglichkeit einer Äquivalenzprüfung bei Bedarf grundsätzlich behalten können. Ein vollständiger Verzicht hierauf kann nicht das Ziel sein.
- 23. Gleiches gilt für eine automatische Anerkennung von Lernzeiten im Ausland; hier bedarf es einer Übereinstimmung der dabei erworbenen Kompetenzen mit den nationalen Lehrplänen, was zwangsläufig mit einer individuellen Überprüfung, insbesondere im hochdifferenzierten Bereich der beruflichen Bildung, einhergehen muss. Eine automatische Anerkennung von Lernzeiten im Ausland ließe zudem außer Acht, dass das Vorrücken in die nächsthöhere Jahrgangsstufe in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich geregelt ist. Eine automatische Anerkennung nähme zudem den Schulen die Möglichkeit, ihrer pädagogischen Verantwortung für die einzelnen Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Nach derzeitiger Praxis in Deutschland beurlauben die Schulen die Schülerinnen und Schüler bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen für den Besuch einer Auslandsschule, sprechen Empfehlungen bei Rückkehr nach einem Jahr für die Fortsetzung der Schullaufbahn aus und empfehlen gegebenenfalls in Abstimmung mit der Zeugnisanerkennungsstelle beispielsweise eine Fächerbelegung.
- 24. Eine politische Festlegung auf einen die Bildungsbereiche übergreifenden Automatismus bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen lehnt der Bundesrat deshalb ab.
- 25. Er stellt fest, dass der Schwerpunkt des Empfehlungsvorschlags innerstaatlich in die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis der Länder auf dem Gebiet der schulischen und der Hochschulbildung fällt. Regelungen zu Hochschulzugangsberechtigungen fallen ebenfalls in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Stellungnahme des Bundesrates gemäß § 5 Absatz 2 EUZBLG von der Bundesregierung deshalb insoweit maßgeblich zu berücksichtigen ist. Da der Empfehlungsvorschlag zu einem erheblichen Teil die Anerkennung von Schulabschlüssen der Sekundarstufe II und schulischen Lernzeiten betrifft und damit die Ausgestaltung der schulischen Bildung berührt, ist die Bundesregierung verpflichtet, gemäß § 6 Absatz 2 Satz 6 EUZBLG die Verhandlungsführung in Abstimmung mit den Ländern auszuüben.
- 26. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.