Punkt 45 der 992. Sitzung des Bundesrates am 3. Juli 2020
Der Bundesrat möge zu der Vorlage gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV wie folgt Stellung nehmen:
- 1. Der Bundesrat bekennt sich zu der im Bevölkerungsschutz notwendigen europäischen Solidarität. Er ist jedoch der Auffassung, dass der Beschlussvorschlag der Kommission die EU-Kompetenzen überschreitet, erheblich in die nationalen Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten eingreift und mit dem Grundsatz der Subsidiarität nicht im Einklang steht.
- 2. Der Vorschlag der Kommission entspricht nicht dem Regelungsgehalt von Artikel 196 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Danach hat sich die EU im Bereich des Katastrophenschutzes auf Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu beschränken. Auch wird durch Artikel 196 Absatz 2 AEUV jegliche Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet ausgeschlossen. Etwaige Maßnahmen der EU zur Unterstützung, Koordinierung und Ergänzung dürfen ferner gemäß Artikel 2 Absatz 5 AEUV nicht an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten treten.
Mit dem vorliegenden Beschlussvorschlag legt die Kommission im Anschluss an ihren Legislativvorschlag aus dem Jahr 2017 - der zur Neufassung des EU-Gemeinschaftsverfahrens ab dem 13. März 2019 führte - kaum ein Jahr nach Inkrafttreten erneut eine grundlegende Initiative im Bereich des Katastrophenschutzes vor. Dieser sieht im Wesentlichen erneut die Einrichtung eines Europäischen Katastrophenschutz-Systems vor, welches der Kommission den eigenständigen Erwerb von rescEU-Katastrophenbewältigungskapazitäten sowie deren autonome Unterhaltung und Entsendung erlaubt und ihr damit wesentliche Einsatz- und Finanzierungsentscheidungen überträgt. Darüber hinaus ist eine Stärkung der operativen Koordinierungs- und Überwachungsfunktionen des Lage- und Einsatzzentrums der Kommission (Emergency Response Coordination Centre/ERCC) vorgesehen. Das ERCC soll demnach mit den nationalen Krisenmanagementsystemen und den Katastrophenschutzbehörden eng zusammenarbeiten und insbesondere Zugang zu operativen Kapazitäten erhalten.
Als Motiv für die jüngste Neufassung führt die Kommission an, dass es angesichts der COVID-19-Krise zu Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Hilfe innerhalb der EU gekommen sei. Zudem seien die mitgliedstaatlichen Katastrophenbewältigungsmechanismen an ihre Grenzen gestoßen. Auch das derzeit rechtskräftige Katastrophenschutzverfahren der Union sei nicht in der Lage gewesen, auf eine Vielzahl der während des COVID-19-Ausbruchs eingegangenen Hilfsersuchen angemessen zu reagieren.
- 3. Vorbezeichnete Maßnahmen kollidieren in eindeutiger Weise mit dem Subsidiaritätsprinzip und der Zuständigkeitsordnung gemäß Artikel 196 AEUV.
Artikel 196 Absatz 1 Unterabsatz 2 Buchstabe a) räumt der EU zwar unter anderem eine Ergänzungszuständigkeit im Bereich des Katastrophenschutzes ein; diese bezieht sich jedoch auf Einsätze der Mitgliedstaaten in der Union und nicht auf Einsätze der Union selbst mit eigenen Ressourcen. Demnach ist es der EU verwehrt, einen eigenständigen Katastrophenschutz zu betreiben. Sie hat sich vielmehr auf akzessorische Maßnahmen zu beschränken, die die Mitgliedstaaten nicht aus ihrer primär verantwortlichen Rolle herausdrängen. Normzweck und rechtspolitische Intention des Artikels 196 AEUV als "Unterstützungskompetenz" beschränken die EU mithin darauf, den Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Schutzverantwortung an der Seite zu stehen.
- 4. Auch der Umstand, dass der Ausbruch von COVID-19 im europäischen Raum die Mitgliedstaaten wie die Union vor ungeahnte Herausforderungen stellt, legitimiert nicht das Abrücken vom Grundsatz der Subsidiarität. Danach ist ein Tätigwerden der Union nur dann zulässig, sofern der Katastrophenschutz von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann und eine gemeinschaftliche Verwirklichung effektiver wäre. Das Herausgreifen eines - wenn auch drastischen - Ereignisses wie der COVID-19-Krise ist nicht geeignet, einen derartigen Schluss zu ziehen. Vielmehr müssen sich die existierenden nationalen wie gemeinschaftlichen Mechanismen im Schatten dieses Ereignisses erst bewähren und im Anschluss entsprechend weiterentwickelt werden. Das erst im Jahr 2019 mit der damaligen Neufassung eingeführte rescEU-Konzept der EU stellt hierfür eine angemessene und rechtskonforme Basis dar.
- 5. Gerade im Katastrophenschutzbereich sind aus Sicht des Bundesrates europäische Regelungen abzulehnen, die die Verantwortung von den Mitgliedstaaten weg auf die EU verlagern. Die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung möglichst nah bei den Betroffenen anzusiedeln, nämlich in erster Linie auf der lokalen Ebene, hat sich hier in besonderer Weise bewährt. Jeder Mitgliedstaat muss primär selbst für die Katastrophenvorsorge und die für den Katastrophenschutz erforderlichen Ressourcen (Personal und Gerätschaft) sorgen. Im Hinblick auf die in den Mitgliedstaaten bereits vorhandenen Katastrophenschutzressourcen sowie die gemeinschaftlichen Ressourcen des Katastrophenschutzpools und des rescEU-Instruments ist der Aufbau von EU-eigenen Kapazitäten weder erforderlich noch angemessen. Derartige Bestrebungen auf der Ebene der Union verstoßen in eindeutiger Weise gegen das Subsidiaritätsprinzip.
- 6. Davon abgesehen erachtet der Bundesrat die solidarische Hilfeleistung der Mitgliedstaaten untereinander als selbstverständlich; sie ist eine tragende Säule der Gemeinschaft, kann jedoch nationale Anstrengungen nicht ersetzen, sondern diese im Bedarfsfall lediglich wirksam ergänzen. Diesem Ziel dient das geltende EU-Katastrophenschutzverfahren gemäß des derzeit gültigen Beschlusses Nr. 1313/2013/EU vom 17. Dezember 2013. Der Bundesrat befürwortet eine weitere Verbesserung dieser gegenseitigen Unterstützung. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten zur Verhütung und Bewältigung von Katastrophen sowie das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip müssen aber strikt beachtet werden.