885. Sitzung des Bundesrates am 8. Juli 2011
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz (AV), der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (U), der Verkehrsausschuss (Vk) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat unterstützt das Ziel der Kommission, den Zustand der Biodiversität in Europa weiter zu verbessern.
- 2. Die globale Bedeutung des Umwelt-, Natur- und Klimaschutzes erfordert es, dass Maßnahmen zum Schutz von [Boden,] Wasser, Luft, Klima und Biodiversität auf europäischer Ebene ergriffen werden, um die Wohlfahrt der europäischen Bürgerinnen und Bürger nachhaltig zu gewährleisten. Daher begrüßt der Bundesrat die Mitteilung der Kommission zur Biodiversitätsstrategie der EU für das Jahr 2020 und stellt fest, dass hierdurch die notwendigen politischen Anstrengungen unternommen werden, um den Verlust der natürlichen Vielfalt zu stoppen und den Trend umzukehren.
- 4. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, bei den weiteren Beratungen der Mitteilung in europäischen Gremien darauf hinzuwirken, dass
- - international eingegangene Verpflichtungen zur Biodiversität in der EU 1:1 umgesetzt werden und in eine globale Strategie einzubinden sind,
- - die Grundsätze der Subsidiarität und der Verwaltungsvereinfachung angemessen berücksichtigt werden.
- 5. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, dass im Zuge der Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie 2020 keine Verschärfungen der EU-Richtlinie 92/43/EWG (FFH-Richtlinie) und der EU-Richtlinie 2009/147/EG (Vogelschutz-Richtlinie) herbeigeführt sowie diese Richtlinien vor einer Änderung einer grundlegenden Evaluierung unterzogen werden. Daher sollte geprüft werden, ob die in den Richtlinien enthaltenen Bestimmungen den Regelungszweck - auch unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erreicht haben und ob sie der wirtschaftlichen Entwicklung und vor allem der Infrastrukturplanung der Mitgliedstaaten unangemessene Hindernisse bereiten.
Im Zusammenhang mit der EU-Biodiversitätsstrategie 2020 zum Schutz und zur Verbesserung der biologischen Vielfalt ist zu untersuchen, ob die Art der vorgesehenen Umsetzung zu unangemessenen Belastungen der wirtschaftlichen Entwicklung - insbesondere in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland - führen kann.
Die in der Strategie genannten Maßnahmen sind in ihren rechtlichen und ökonomischen Auswirkungen nicht transparent. Es besteht daher die Gefahr, dass die begrenzten finanziellen Ressourcen unverhältnismäßig zu Lasten der anderen, ebenfalls für eine nachhaltige Gesellschaft lebenswichtigen Belange beansprucht werden - so beispielsweise der sozialen Sicherungssysteme oder der nachhaltigen Energieversorgung. Auch besteht die Gefahr erheblicher Verschärfungen der geltenden Bestimmungen insbesondere mit der Konsequenz, dass die wirtschaftliche Entwicklung erschwert und vor allem die weitere Infrastrukturplanung unzumutbaren Einschränkungen ausgesetzt sein wird.
Im Zentrum der EU-Biodiversiätsstrategie 2020 steht unter anderem eine Verschärfung der Überwachungs- und Berichtspflichten der Habitat- und Vogelschutz-Richtlinie (Maßnahme 4a). Allerdings können schon mit den derzeit vorhandenen finanziellen Mitteln die bestehenden Anforderungen der FFH- und Vogelschutz-Richtlinie nicht vollständig erfüllt werden. Daher kann der kostenaufwändige Ausbau des Monitorings- und Berichtswesens ohne eine vorhergehende Überprüfung der Wirksamkeit bestehender Regelungen nicht ausreichend begründet werden. Derartige zusätzliche Anforderungen an die Naturschutzverwaltung setzen zudem deren Kapazität für die fachliche Begleitung von Infrastrukturvorhaben herab.
Gleichzeitig besteht das Risiko, dass durch die EU-Biodiversitätsstrategie 2020 verschärfte Anforderungen auch an FFH-Verträglichkeitsprüfungen im Zusammenhang mit Infrastrukturvorhaben entstehen. Eine Ausweitung der zu bearbeitenden Naturschutzfragen in FFH-Verträglichkeitsprüfungen, die regelmäßig bereits eine enorme Komplexität und einen erheblichen Umfang aufweisen, wäre unangemessen. Sie erhöht die Rechtsunsicherheit der Planfeststellung und verzögert Gerichtsverfahren. Verschärfte Prüfanforderungen wären allenfalls dann begründbar, wenn zuvor der Anpassungsbedarf der FFH-Richtlinie transparent im Zuge ihrer Evaluierung ermittelt worden wäre.
Eine Evaluierung der FFH- und Vogelschutz-Richtlinie müsste nach Auffassung des Bundesrates auch die Frage klären, ob die Richtlinien unangemessene Hindernisse für einen notwendigen Ausbau der Infrastruktur darstellen, beispielsweise von Stromleitungen oder Verkehrswegen. Es hat sich herausgestellt, dass bei der Planung von Infrastrukturvorhaben und etwaigen Konflikten mit dem Naturschutz das Interesse an den Vorhaben und anderen Belangen - wie etwa dem Lärmschutz - nicht ausreichend gewichtet werden kann. Die Planung muss unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse den Beweis führen können, dass von dem Vorhaben keine erheblichen Beeinträchtigungen von FFH-Gebieten ausgehen. Vernünftige Zweifel gehen zu Lasten des Vorhabens. Mangels hinreichender Kenntnisse in der Ökosystemforschung führt diese Beweisregel zu vorsorglichen Worst-Case-Betrachtungen. Im Ergebnis entstehen hierdurch Verfahrensverzögerungen, hohe Kosten und ein hoher Aufwand, außerdem ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit.
Überdies besitzt die EU-Biodiversitätsstrategie 2020 einen ambitionierten Schwerpunkt außerhalb der Natura-2000-Gebiete (Maßnahmen 5 bis 7). Hierüber sollen flächendeckend Ökosysteme erhalten, verbessert sowie 15 Prozent der geschädigten Ökosysteme wiederhergestellt werden. Neu ist dabei auch die Erfassung von Ökosystemdienstleistungen.
Das Strategiepapier selbst verweist jedoch darauf, dass wichtige, durch Forschung zu schließende Wissenslücken auf dem Gebiet der Ökosystemdienstleistungen bestehen. Die Wissensdefizite sind groß. So existieren wissenschaftliche Ansätze, die - anders als das Strategiepapier - nicht auf den pauschalen Schutz der Biodiversität ausgerichtet sind. Im Vordergrund steht stattdessen ein intelligentes Flächenmanagement und -bewirtschaftungssystem durch geschlossene Stoffkreisläufe, nicht die "Sanktionierung" jeglicher Flächeninanspruchnahme. Die biologische Vielfalt ist eine Folge dieser nachhaltigen Flächennutzung.
Wie angesichts der Wissenslücken bei der Erfassung und Steuerung von Ökosystemdienstleistungen sowie der zum Teil nur allgemein und intransparent formulierten Maßnahmen ressourceneffizient die Wiederherstellung von mindestens 15 Prozent aller geschädigten Ökosysteme und ihrer Dienstleistungen erbracht werden soll, legt das Strategiepapier nicht dar. Vorrang sollte daher nach Auffassung des Bundesrates die Beseitigung der Wissensdefizite haben, um effiziente, Erfolg versprechende Maßnahmen realisieren zu können.
Es ist zu befürchten, dass die Finanzierung derartiger Maßnahmen insbesondere zu Lasten der Infrastrukturentwicklung geht. Durch die geplanten Ausgleichs- oder Entschädigungsregelungen werden Infrastrukturprojekte verteuert, obwohl die Wirksamkeit der Maßnahmen zum Erhalt der Ökosystemdienstleistungen auf Grund bestehender Forschungslücken nicht ausreichend belegt ist. Nicht auszuschließen ist dabei ferner eine Verschärfung des ohnehin umfassenden EU-Umweltrechts und auch der nationalen Eingriffsregelung gemäß § 15 Bundesnaturschutzgesetz - etwa verringerte räumliche Flexibilität beim Ausgleich, erhöhter Kompensationsaufwand.
Die Maßnahme 6 zur Verbesserung von mindestens 15 Prozent der geschädigten Ökosysteme kann zudem angesichts der Möglichkeit, innovative Finanzierungsquellen zu erschließen, zusätzliche Kosten selbst bei vorhandener Infrastruktur bewirken.
Angesichts der ökologischen Wissensdefizite und des bereits jetzt komplexen EU-Umwelt- und EU-Naturschutzrechts hält es der Bundesrat für geboten, dass sich die Bundesregierung gegenüber der Kommission für eine vorrangige Beseitigung der Wissenslücken und gegen eine weitere Verschärfung der rechtlichen Bestimmungen zu Lasten der wirtschaftlichen Entwicklung ausspricht. Zudem sollten die FFH- und Vogelschutz-Richtlinie vor ihrer Anpassung an die EU-Biodiversitätsstrategie 2020 einer grundlegenden Evaluierung unterzogen werden. Hierbei sollte insbesondere die Möglichkeit der Privilegierung ausgewählter Infrastrukturvorhaben - beispielsweise überregional bedeutsame Stromleitungen - erwogen werden, um zukünftig unangemessen hohe Prüfanforderungen, Rechtsunsicherheiten und Zeitverzögerungen zu vermeiden.
(bei Annahme entfallen Ziffern 6 bis 8) - 6. Die biologische Vielfalt und insbesondere die von ihr abhängigen Ökosystemdienstleistungen sind neben ihrem Eigenwert insbesondere auch von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Aus diesem Grund begrüßt der Bundesrat den hierdurch zu erzielenden Mehrwert in den in der Mitteilung genannten Bereichen Land- und Forstwirtschaft, Wasserwirtschaft und Fischerei wie auch zu den angegliederten Bereichen des Umweltrechts, des Klimaschutzes und der Landes[- und Verkehrs]planung.
(Entfällt bei Annahme von Ziffer 5) - 8. Der Bundesrat unterstützt die in der Mitteilung aufgeführten spezifischen Maßnahmen zur Zielerreichung, die dazu beitragen, den Verlust an biologischer Vielfalt und die Verschlechterung der Ökosystemdienstleistungen aufzuhalten.
(Entfällt bei Annahme von Ziffer 5) - 9. Der Bundesrat betont in diesem Zusammenhang u.a. die erforderlichen Beiträge der Land- und Forstwirtschaft zur Erhaltung und Verbesserung der Biodiversität und weist auf die Wichtigkeit der Ausgestaltung einer effektiven Ökologisierungskomponente im Rahmen der zukünftigen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) hin.
- 10. Der Bundesrat begrüßt, dass künftig nach den Vorschlägen der Kommission die Direktzahlungen stärker an die Bereitstellung öffentlicher Umweltgüter gekoppelt werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Cross-Compliance-Vorschriften vereinfacht und auf die Erreichung eines guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustandes zielgenauer ausgerichtet werden.
- 11. Fachpolitiken, wie unter anderem die Gemeinsame Fischereipolitik und die GAP, dürfen allerdings durch die Biodiversitätsstrategie nicht präjudiziert werden.