827. Sitzung des Bundesrates am 3. November 2006
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die Intention des Entwurfs eines Rahmenbeschlusses, dem Recht auf Freiheit und der Unschuldsvermutung innerhalb der EU stärker Rechnung zu tragen, sowie das Ziel, bei gebietsfremden Beschuldigten in geringerem Umfang als bisher Untersuchungshaft zu vollziehen und stattdessen verstärkt Alternativmaßnahmen zu nutzen. Damit steht die Initiative in Einklang mit dem Aktionsplan des Rates zur Umsetzung des Haager Programms, der als Maßnahme im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die gegenseitige Anerkennung von Überwachungsmaßnahmen vorsieht.
- 2. Der Bundesrat unterstützt daher grundsätzlich das in der Vorlage zum Ausdruck gebrachte Anliegen der Kommission, auf der Grundlage des nach dem Europäischen Rat von Tampere entwickelten Maßnahmenprogramms zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, Maßnahmen zu ergreifen, die die Durchführung eines ordnungsgemäßen Gerichtsverfahrens bei gebietsfremden Beschuldigten sicherstellen sollen.
- 3. Ungeachtet zahlreicher Schwierigkeiten, die der Entwurf aus justizieller Sicht aufwerfen dürfte, bestehen gegen den Entwurf aus polizeipraktischer (wie auch allgemein aus grundrechtlicher) Sicht erhebliche Bedenken:
- 4. Erlässt ein deutsches Gericht gegen einen beschuldigten EU-Ausländer eine Überwachungsanordnung, obliegt es der Vollstreckungsbehörde des Mitgliedstaats, in der jener seinen regelmäßigen Aufenthalt hat, die Befolgung der mit der Anordnung verbundenen Pflichten zu überwachen (regelmäßig dürfte die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde diese Aufgabe der Polizei übertragen), mögliche Verstöße der Anordnungsbehörde zu melden sowie ggf. den Beschuldigten festzunehmen und zu überstellen. Es bestehen erhebliche Bedenken, ob die Einhaltung dieser Pflichten stets im gleichen Maße überwacht wird, wie dies bei rein innerstaatlichen Auflagen der Fall wäre.
- 5. Gerade vor dem Hintergrund des aktuellsten Monitoringberichtes der Kommission zu den (ab dem 1. Januar 2007) neuen Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien, in dem insbesondere ein effektiveres Polizei- und Justizwesen sowie eine wirksamere Bekämpfung der Korruption in der Verwaltung angemahnt wird, darf angezweifelt werden, ob die Einhaltung dieser Pflichten in allen Mitgliedstaaten ordnungsgemäß überwacht wird und bei Verstößen die Rücküberstellung gesichert ist.
- 6. Im umgekehrten Fall, in dem ein nichtdeutsches Gericht eine Überwachungsanordnung gegen einen Deutschen oder in Deutschland lebenden EU-Ausländer erlässt, obliegt die Einhaltung der mit der Anordnung verbundenen Pflichten (insbesondere Meldeauflagen) deutschen Strafverfolgungsbehörden, in der Praxis regelmäßig der Polizei. Es bedeutet für die deutschen Länderpolizeien im Vergleich zu einer ausschließlich im Staat des Tatorts vorgenommenen Sachverhaltsbearbeitung einen erheblichen Mehraufwand, wenn sie die Einhaltung der von ausländischen Justizbehörden erlassenen Anordnung überwachen müssen. Die Möglichkeit, die Anordnungsbehörde um Überprüfung der Überwachungsanordnung zu ersuchen (Artikel 13 Abs. 2), erscheint nicht ausreichend und dürfte im Übrigen wohl nur auf dem justiziellen Weg zu initiieren sein.
- 7. Hinsichtlich der vorgesehenen Regelung gibt der Bundesrat ferner Folgendes zu bedenken:
- - Aus deutscher Sicht erscheint der Anwendungsbereich des vorgeschlagenen Rahmenbeschlusses - was die Anzahl der in Betracht kommenden Fälle angeht - eher gering, weil bereits die Grundannahme der Kommission, gegen gebietsfremde Beschuldigte werde übermäßig Untersuchungshaft vollstreckt, so nicht zutrifft.
- - Die geplanten Maßnahmen versprächen in der Praxis nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie für die zuständigen Behörden mit vertretbarem Aufwand umzusetzen sind. Die vorgeschlagene Regelung erscheint demgegenüber - auch wenn das Verfahren formulargestützt ablaufen soll - überaus kompliziert. Der erforderliche Aufwand wäre in einer Reihe von Fällen nicht mehr verhältnismäßig und könnte von der Justiz kaum bewältigt werden, zumal nach der Intention der Kommission auch Fälle der so genannten Bagatellkriminalität, bei denen die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht zulässig ist, erfasst werden sollen. Solche Fälle können in aller Regel besser, schneller und vor allem ressourcenschonender auf andere Weise (beschleunigtes Verfahren, Erhebung von Sicherheitsleistungen, Einstellung gemäß § 153a StPO, Strafbefehlsverfahren etc.) erledigt werden. Jene Verfahrensweisen sind für den Beschuldigten im Übrigen auch weniger belastend. In gravierenden Fällen hingegen wird es - wie bei gebietsansässigen Beschuldigten auch - zumeist nicht sachgerecht sein, einen Untersuchungshaftbefehl außer Vollzug zu setzen und lediglich Überwachungsweisungen und - auflagen zu erteilen.
- 8. Allgemein ist aus rechtlicher Sicht gegen den Entwurf einzuwenden, dass die Voraussetzungen für den Erlass der Europäischen Überwachungsanordnung im Beschlusstext nicht ausreichend geregelt sind: Ausweislich der Begründung des Rahmenbeschlusses soll die Europäische Überwachungsanordnung als Option immer dann möglich sein, wenn der Anordnungsmitgliedstaat nach Maßgabe seines innerstaatlichen Rechts Untersuchungshaft anordnen kann. Diese Voraussetzung findet im Beschlusstext selbst keinen Niederschlag (auch eine Differenzierung nach den verschiedenen in der StPO vorgesehenen Haftgründen fehlt). Aus rechtsstaatlichen Gründen erscheint es nicht hinnehmbar, dass Maßnahmen, die so tief in Grundrechte von (EU-)Bürgern eingreifen können wie die Überwachungsanordnung, nahezu voraussetzungslos erlassen werden können.