Der Bundesrat hat in seiner 863. Sitzung am 6. November 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Bemühen der Kommission, durch Weiterentwicklung des Modells der statistischen Erhebungen verstärkt Potenziale moderner Methodik und Informationstechnik auszuschöpfen, um Effizienzgewinne zu erzielen und zugleich die Auskunftspflichtigen zu entlasten. Der vorgeschlagene Weg über die weitere Abkehr von primärstatistischen Erhebungen und die noch stärkere Nutzung von anderen Datenquellen, insbesondere von vorliegenden Verwaltungsdaten, ist grundsätzlich zielführend und wird in Deutschland bereits seit einigen Jahren verfolgt. Allerdings kann der Rückgriff auf Verwaltungsdaten auch Qualitätsprobleme mit sich bringen. So ist z.B. beim Zensus 2011 eine Haushaltsstichprobe bei 10 Prozent der Bevölkerung erforderlich, um u. a. die in den Melderegistern enthaltenen Fehler (Über-/Untererfassungen) statistisch zu korrigieren. D. h., eine vorbehaltslose Verwaltungsdatennutzung ist problematisch bzw. kann zu statistischen Ungenauigkeiten führen.
- 2.
Der Bundesrat hat gegen die Mitteilung unter Subsidiaritätsgesichtspunkten erhebliche Vorbehalte und sieht in ihr eine nicht angebrachte Zentralisierung des gesamten europäischen Systems der amtlichen Statistik. Insbesondere fehlen eindeutige und belastbare Hinweise zur künftigen Wahrung der nationalen bzw. föderalen Eigenständigkeit hinsichtlich der Organisationsentscheidung und der Ausgestaltung der Durchführung der amtlichen Statistik sowie zur Sicherstellung regionaler und angemessen fachlich tief gegliederter Daten. Bei der "Vision" besteht die Befürchtung, dass durch die "neue Methode der europäischen Systeme für die Statistik", die sich bei der Erstellung von EU-Statistiken weitgehend - und von Artikel 16 der Verordnung über europäische Statistiken nicht gedeckt - von den nationalen Statistikergebnissen lösen will, die nationalen Statistikämter zu "Außenstellen" degradiert werden. Dies kann von den Mitgliedstaaten gerade auch in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht wirklich gewollt sein. Zwar müsste Deutschland als größtes EU-Land auch im Rahmen von europäischen Stichproben nicht befürchten, ohne eigene Statistikergebnisse dazustehen; dies gilt jedoch mit Sicherheit nicht für die Länder und erst recht nicht für tief gegliederte, regionale Ergebnisse. Dieses Argument wiegt umso schwerer, als mehrere Länder mehr Einwohner haben als zwei Drittel aller EU-Mitgliedstaaten. Vordergründig mag der angebliche Einspareffekt einer europäischen Stichprobe bei der Statistikerstellung ein Anreiz sein, der Argumentation der "Vision" zu folgen. Die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Länder können damit aber nicht adäquat bedient werden. Europäische Stichproben sollten deshalb - wenn überhaupt - nur ausnahmsweise für kurzfristig aufgetretene Erfordernisse, zeitlich begrenzt und nach vorheriger Anordnung durch eine Verordnung zur Anwendung kommen; auf jeden Fall muss verhindert werden, dass für die auskunftspflichtigen Unternehmen und Personen lediglich eine weitere Erhebung durch eine weitere Stelle, nämlich Eurostat, hinzutritt und die Gesamtbelastung erhöht.
- 3. Der Bundesrat mahnt die Wahrung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und der europarechtlichen Vorschriften zum Datenschutz an. Die in der "Vision" angedachten vielfältigen Verknüpfungen von Mikrodaten - sei es aus Primärerhebungen, sei es aus Verwaltungsdaten - dürften mit den datenschutzrechtlichen Regelungen, insbesondere dem Grundsatz der Zweckbindung, ebenso wenig in Einklang zu bringen sein wie der angesprochene Zugriff Eurostats auf "alle verfügbaren Datenquellen" sowie die Einrichtung eines Netzes von Datenbanken, aus dem alle einschlägigen Daten abgerufen werden. In diesem Zusammenhang könnte die angedachte Flexibilisierung des Rechtsetzungsansatzes weitere Fragen aufwerfen.
Die in der "Vision" angeführten Maßnahmen bedeuten in Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung einen erheblichen organisatorischen, administrativen und finanziellen Zusatzaufwand gegenüber dem Status quo. Zur konkreten mittel- bis langfristigen Kostenrelevanz kann in Anbetracht der vage gehaltenen Detaillausführungen noch keine bezifferte Aussage gemacht werden. Schon aus diesem Grund und weil letztlich die Länder das Gros der zusätzlichen Kosten in Deutschland zu tragen hätten, bedarf die "Vision" einer vertiefenden und auf realen Grundlagen geführten Diskussion. Visionen sind die eine Seite der Medaille, aussagekräftige Statistikergebnisse für "alle" Beteiligten, die mit vertretbarem wirtschaftlichen Aufwand und bei Einhaltung des derzeitigen Niveaus des Datenschutzes in Deutschland ermittelt wurden, die andere.
- 4. Der Bundesrat betont zugleich, dass neben den Informationsbedürfnissen auf europäischer Ebene auch weiterhin regionale Ergebnisse zur Verfügung stehen müssen. Der Bundesrat weist darauf hin, dass
- - bei der Weiterentwicklung des Systems der europäischen amtlichen Statistik dafür Sorge zu tragen ist, dass neben den Aspekten der Kostenreduktion und der Belastungsverringerung auch der Datenbedarf der Länder, Kommunen, der Wissenschaft und Wirtschaft sowie die Interessen der Stadt-, Regional- und Landesplanung ausreichend berücksichtigt werden,
- - auch nach der neuen Methode ein ausreichendes Angebot an vergleichbaren regionalstatistischen Daten zur Verfügung stehen muss, weil auch in Zukunft statistische Ergebnisse, die nach einheitlichen Verfahren erstellt und methodisch wie inhaltlich konsistent sind, für Länder und Kommunen erforderlich sind,
- - vor der Entscheidung über den Abbau oder den Methodenwechsel in der Statistik die neuen Herangehensweisen ergebnisoffen auf ihre Eignung zur Sicherstellung der oben genannten Anforderungen zu überprüfen sind und bei der Beurteilung neuer Verfahren das Verhältnis von Entlastungseffekten auf der einen und den gegebenenfalls zu erwartenden Informationsverlusten auf der anderen Seite zu bewerten ist.
- 5. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die genannten Anliegen im weiteren Verfahren auch gegenüber der Kommission mit Nachdruck zu vertreten.
- 6. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.