Der Bundesrat hat durch seine Europakammer am 12. Dezember 2017 die aus der Anlage ersichtliche Stellungnahme gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG beschlossen.
Der Beschluss ist gemäß § 45i der Geschäftsordnung des Bundesrates zustande gekommen.
Anlage
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der europäischen Identität durch Bildung und Kultur - Beitrag der Europäischen Kommission zum Gipfeltreffen in Göteborg am 17. November 2017 - COM (2017) 673 final
- 1. Der Bundesrat konstatiert, dass die Mitteilung den Themen Bildung und Kultur einen hohen Stellenwert einräumt. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung von Bildung und Kultur für das Individuum und die Gesellschaft begrüßt der Bundesrat, dass diese Themen hoch auf der politischen Agenda stehen und ihnen somit größere Sichtbarkeit verliehen wird.
- 2. Er hält fest, dass die Mitteilung als Beitrag zum neuen Entscheidungsfindungsprozess des Europäischen Rates, der sogenannten "Leaders' Agenda", gedacht ist. Hinsichtlich der diesbezüglichen Entwicklungen auf der Ebene des Europäischen Rates hegt der Bundesrat grundlegende Bedenken. Insbesondere sieht er mit Sorge, dass Bildung und Kultur, die am wenigsten vergemeinschafteten Politikfelder, diesem neuen Entscheidungsfindungsprozess unterworfen werden sollen. Nach Auffassung des Bundesrates ist zwingend zu gewährleisten, dass die für Bildung und Kultur zuständigen Fachgremien des Rates auf Minister- sowie auf Arbeitsebene weiterhin federführend mit sämtlichen entsprechenden Themen befasst werden, die auf europäischer Ebene diskutiert werden (siehe auch die Stellungnahme des Bundesrates vom 4. November 2016 (BR-Drucksache 475/16(B) , Ziffer 6). Eine Umgehung dieser Gremien ist nicht nur in fachlicher Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die formalen Zuständigkeiten und den Grundsatz der Subsidiarität höchst problematisch.
- 3. Der Bundesrat stellt fest, dass die Mitteilung Bildung und Kultur als die besten Mittel zur Stärkung der europäischen Identität hervorhebt. Auch aus seiner Sicht stellen Bildung und Kultur einen entscheidenden Faktor für die Entwicklung eines europäischen Gemeinschaftsempfindens dar. Ganzheitliche Bildung richtet sich jedoch stets an Individuen und muss die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen im Blick haben. Das von der Kommission wiederholt vertretene utilitaristische Bildungsverständnis, sei es zur Schaffung von "Humankapital" oder zur Stärkung der europäischen Identität, steht mit dem Eigenwert von Bildung nicht im Einklang.
- 4. Ähnliche Bedenken bestehen hinsichtlich einer verengten Perspektive auf die Kultur: In der Mitteilung, die sich mit der Schaffung von Identitäten auseinandersetzt, ist zwar mehrfach von der ökonomischen Bedeutung von Kultur die Rede, nur in Ansätzen aber vom künstlerischen Austausch. Der Bundesrat betont den Eigenwert von künstlerischer und kultureller Produktion.
- 5. Er sieht die in der Mitteilung präsentierten Vorstellungen der Kommission im Bildungs- wie auch im Kulturbereich mit Sorge. Die Artikel 165, 166 und 167 AEUV geben einen engen Rahmen für Aktivitäten der EU vor. Der Bundesrat fordert vor diesem Hintergrund eine strikte Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen. Maßnahmen der EU dürfen nur unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung erfolgen. Aus Sicht des Bundesrates überschreiten insbesondere die Vorstellungen der Kommission zu Fremdsprachenkenntnissen, Abschlusszeugnissen, Lehrplangestaltung und Lehrerausbildung diesen Rahmen deutlich.
- 6. Er begrüßt, dass die Kommission eine Aufstockung des Programms "Erasmus+", anstrebt. Das Ziel einer Verdoppelung der Teilnehmerzahl bis 2025 scheint zwar angesichts der unklaren finanziellen Ausstattung des Folgeprogramms ambitioniert. In Anbetracht zunehmender Skepsis gegenüber einem vereinigten Europa müssen die heranwachsenden Generationen jedoch für die europäische Idee gewonnen und zur aktiven Teilhabe am europäischen Einigungsprozess ermutigt werden - hierzu kann das Programm "Erasmus+" entscheidend beitragen. Der Bundesrat weist jedoch darauf hin, dass im Rahmen von "Erasmus+" Lernerfahrungen nicht immer an Mobilität geknüpft sind, sondern gerade im Schulbereich auch im Rahmen von Partnerschaften gesammelt werden können. Generell bedarf es im Schulbereich vor allem der Vereinfachung von Verfahren sowie der Reduzierung des bürokratischen Aufwands.
- 7. Bezüglich der Initiierung eines "Sorbonne-Prozesses" weist der Bundesrat auf die ständigen Fortschritte der Mitgliedstaaten bei der Anerkennung von Qualifikationen auf verschiedenen Bildungsebenen hin. Im Hochschulbereich werden Anerkennungsfragen bereits durch die Kooperation im Rahmen des Bologna-Prozesses weit über die Union hinaus behandelt. Zudem arbeiten die Mitgliedstaaten auf EU-Ebene bildungsbereichsübergreifend an der Sicherstellung der Transparenz von Qualifikationen, die als wichtige Entscheidungshilfe in nationalen Anerkennungsverfahren dienen. Der Bundesrat weist abermals darauf hin, dass er die Schaffung weiterer Instrumente zur Anerkennung weder als erforderlich noch als zielführend ansieht (siehe schon die Stellungnahme des Bundesrates vom 29. Januar 2016 (BR-Drucksache 510/15(B) , Ziffer 19)).
- 8. Angesichts der Vielzahl der in der Mitteilung in Aussicht gestellten neuen und der Verschärfung der etablierten Benchmarks erinnert der Bundesrat daran, dass alle Vorschläge für Durchschnittsbezugswerte einer äußerst sorgfältigen Prüfung im Hinblick auf den jeweils zu erwartenden europäischen Mehrwert und einer damit eingehenden Kosten-Nutzen-Analyse unter besonderer Berücksichtigung des damit verbundenen Verwaltungsaufwands zu unterziehen sind (vergleiche bereits die Stellungnahme des Bundesrates vom 16. Oktober 2015 (BR-Drucksache 386/15(B) , Ziffer 15) und die Stellungnahme des Bundesrates vom 13. Februar 2009 (BR-Drucksache 026/09(B) , Ziffer 12)) und somit nicht nach einem Top-Down-Ansatz ohne fachliche Prüfung festgelegt werden dürfen. Zudem dürfen keine Indikatoren und Durchschnittsbezugswerte definiert werden, die dem Harmonisierungsverbot im Bildungsbereich zuwiderlaufen (vergleiche die Stellungnahme des Bundesrates vom 16. Oktober 2015 (BR-Drucksache 386/15(B) , Ziffer 15) und die Stellungnahme des Bundesrates vom 11. Februar 2011 (BR-Drucksache 786/10(B) , Ziffer 3)). Darüber hinaus sind Veränderungen im Bereich der Durchschnittsbezugswerte zwingend mit den für Bildung zuständigen Gremien des Rates abzustimmen (siehe bereits die Stellungnahme des Bundesrates vom 16. Oktober 2015 (BR-Drucksache 386/15(B) , Ziffer 15)).
- 9. Bezüglich der Vorgabe eines Durchschnittsbezugswerts im Fremdsprachenbereich bekräftigt der Bundesrat seine bisherigen Stellungnahmen (so unter anderem in der Stellungnahme des Bundesrates vom 7. November 2008 (BR-Drucksache 691/08(B) , Ziffer 5) und in der Stellungnahme des Bundesrates vom 1. Februar 2013 (BR-Drucksache 725/12(B) , Ziffer 9)) und weist nachdrücklich darauf hin, dass die Union den Mitgliedstaaten keine Vorgaben hinsichtlich der Gestaltung und der Inhalte der Bildungssysteme machen darf. Unbeschadet der Tatsache, dass Mehrsprachigkeit zu einem besseren Verständnis für andere Kulturen beitragen kann, lehnt er Pläne der Kommission ab, Benchmarks im Bereich des Fremdsprachenlernens zu etablieren, denn derartige pauschale Vorgaben, die einem Eingriff der europäischen Ebene in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Gestaltung der Lehrpläne gleichzusetzen sind, berücksichtigen auch auf fachlicher Ebene entscheidende Aspekte des Erlernens von Fremdsprachen, wie etwa die Unterschiedlichkeit der Ausbildungsrichtungen, die Rolle klassischer Sprachen oder die Realität der Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit in einigen Mitgliedstaaten, nicht hinreichend.
- 10. Der Bundesrat nimmt mit Erstaunen zur Kenntnis, dass auch der Durchschnittsbezugswert für eine Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen verschärft werden soll und dabei die von der Kommission konstatierten Verbesserungsmöglichkeiten bei der Messung des Durchschnittsbezugswerts offensichtlich keine Rolle spielen (siehe bereits die Stellungnahme des Bundesrates vom 16. Oktober 2015 (BR-Drucksache 386/15(B) , Ziffer 15)). Er bekräftigt in diesem Zusammenhang seine Zweifel an der Eignung des Indikators.
- 11. Bezüglich des Vorschlags zur Einführung eines europäischen Studierendenausweises bekräftigt der Bundesrat seine Stellungnahme vom 22. September 2017 (BR-Drucksache 429/17(B) , Ziffer 9): Er spricht sich gegen eine Einführung mittels eines Top-Down-Ansatzes aus. Insbesondere datenschutzrechtliche Fragen sind zu klären. Zudem erinnert er daran, dass der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Nutzen stehen muss.
- 12. Der Bundesrat teilt die Ansicht der Kommission, dass kultureller Austausch einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung eines europäischen Zugehörigkeitsgefühls sowie der interkulturellen Kompetenzen leisten kann. Er gibt aber zu bedenken, dass die Befassung mit eigenen und fremden kulturellen Identitäten nicht automatisch zur Herausbildung einer europäischen Identität führt, wie das Aufkommen neuer Nationalismen in Europa zeigt. Die Befassung mit dem Kulturerbe muss mit der Vermittlung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien Hand in Hand gehen.
- 13. Er verweist in diesem Zusammenhang auf seine Stellungnahme vom 14. Oktober 2016 (BR-Drucksache 382/16(B) ) und erneuert die dort unter Ziffer 3 zum Ausdruck gebrachte Haltung, dass insbesondere der Austausch von Kulturschaffenden stärker in den Fokus gerückt werden sollte. Die Förderung der Mobilität von Künstlerinnen und Künstlern und von kulturellen Inhalten mit direkten Kontakten vor Ort bleibt für den Bundesrat zentrale Aufgabe der EU-Ebene im Bereich der Kultur, da genau dieser niedrigschwellige Ansatz für einen europäischen Mehrwert sorgt. Er ist verwundert, dass in der Mitteilung der Förderung der Mobilität und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung und Hochschulen zwar zu Recht große Bedeutung zugemessen wird, dieser wichtige Aspekt aber für den Kulturbereich dann keine Rolle mehr spielt.
- 14. Der Bundesrat begrüßt eine eingehende Befassung mit der aus dem Jahr 2007 stammenden Europäischen Kulturagenda und ihre Anpassung an die Herausforderungen der Gegenwart. Während deren drei strategische Ziele weiterhin Gültigkeit haben, könnte die Kulturagenda an neue Entwicklungen angepasst und könnten etwa die Auswirkungen der Digitalisierung oder die Integration von Migrantinnen und Migranten noch stärker in den Blick genommen bzw. aufgegriffen werden.
- 15. Der Bundesrat würdigt die positiven Auswirkungen der EU-Fördermaßnahmen im Kulturbereich, namentlich des Programms "Kreatives Europa" sowie der Aktion "Kulturhauptstädte Europas". Er hält es allerdings für verfrüht, für die erst 2016 angelaufene und noch nicht evaluierte Bürgschaftsfazilität für den Kultur- und Kreativsektor bis 2020 bereits jetzt eine Aufstockung vorzusehen. Er sieht darüber hinaus mit Sorge, dass die Kultur-Säule des Programmes "Kreatives Europa" in der Mitteilung keine Erwähnung findet. Gerade hierüber, etwa über die Förderung literarischer Übersetzungen, werden kulturelle Inhalte grenzüberschreitend erlebbar gemacht und damit das Ziel der Mitteilung, eine europäische Identitätsstiftung, befördert.
- 16. Der Bundesrat weist darauf hin, dass bei dem Vorhaben im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder in den Bereichen Bildung und Kultur betroffen sind. Dies gilt unter anderem mit Blick auf Anerkennung im Bildungsbereich, geplante Vorgaben für Schul- und Hochschulbildung, zum Beispiel einen Fremdsprachenbenchmark für das Sprachenlernen, die Einrichtung europäischer Hochschulen oder die Lehrerbildung. Er fordert die Bundesregierung vor diesem Hintergrund dazu auf, die Stellungnahme des Bundesrates gemäß § 5 Absatz 2 EUZBLG maßgeblich zu berücksichtigen. Darüber hinaus fordert er die Bundesregierung auf, die Länder bezüglich der Vorbereitung des Europäischen Rates frühzeitig und eng in die Abstimmung der Position der Bundesrepublik Deutschland mit einzubinden, sobald dort Themen aus Bildung und Kultur behandelt werden.
- 17. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.