868. Sitzung des Bundesrates am 26. März 2010
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz (AV), der Finanzausschuss (Fz), der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (U), der Verkehrsausschuss (Vk), der Wirtschaftsausschuss (Wi) und der Ausschuss für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung (Wo) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die offene und kritische Mitteilung der Kommission und bedauert, dass die in der EU-Strategie für 2010 genannten Ziele zur Sicherung der Biodiversität in allen EU-Staaten nicht erreicht und damit auch global die in der Biodiversitätskonvention (CBD) genannten Ziele nicht hinreichend umgesetzt werden konnten.
- 2. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission ein Biodiversitätskonzept und -ziel für die Zeit nach 2010 entwickelt, und nimmt den in der Kommissions-Mitteilung enthaltenen Bericht über Zustand und Entwicklungstendenzen der biologischen Vielfalt, über die Auswirkungen des Verlusts an Biodiversität sowie über Erfolge und Mängel der derzeitigen EU-Politik zur Kenntnis.
- 3. Der Bundesrat weist jedoch darauf hin, dass der Vorschlag in Kapitel 2.3, in den 83 Prozent des außerhalb des Natura-2000-Netzes liegenden Gebiets der EU eine "grüne Infrastruktur" zu entwickeln, zum jetzigen Zeitpunkt zu unklar formuliert, vor Auswahl einer der vorgeschlagenen Optionen verfrüht und bezüglich seiner Eingriffstiefe noch kritisch zu diskutieren ist. Der Bundesrat betont, dass bei der Entwicklung einer grünen Infrastruktur ein gerechter Ausgleich zwischen ökologischen Zielen und den Belangen der Infrastrukturentwicklung und der Raumplanung auf EU-Ebene herzustellen ist.
- 4. Der Bundesrat bedauert, dass die bisherigen Bemühungen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene zum Erhalt der biologischen Vielfalt und Aufhalten des fortschreitenden Verlusts an Biodiversität nicht die gewünschten Erfolge gezeitigt haben.
- 5. Der Bundesrat zeigt sich besorgt über die Aussage, dass viele Ökosysteme in Europa und weltweit sich so genannten "tippingpoints" annähern, deren Überschreiten mit einem weitgehenden Kollaps dieser Systeme einhergeht. Ebenfalls keinen Grund zum Optimismus gibt die Aussage, dass lediglich 17 Prozent der am stärksten gefährdeten Lebensräume und Arten in Europa einen günstigen Erhaltungszustand aufweisen, wie ihn die Richtlinie vorsieht.
- 6. Die Aussage, dass die biologische Vielfalt neben ihrem intrinsischen Wert, wie er etwa in der Convention on Biological Diversity (CBD) anerkannt worden ist, einen Dienstleistungswert besitzt, der bisher kaum ökonomisch abgebildet wird, ist zu unterstreichen. Die von der TEEB vorgelegten Studien hierzu bilden offensichtlich nur einen ersten Schritt auf einer Erkenntnisleiter. Neben dem deshalb drohenden immensen Verlust an wirtschaftlichem Wohlstand und der ungerechtfertigen Beeinträchtigung des intrinsischen Wertes biologischer Vielfalt ist auch der empfindliche Rückgang an natürlicher Lebensqualität für den Menschen zu befürchten.
- 7. Der Bundesrat hält die Analysen und Schlussfolgerungen der Kommission im Wesentlichen für zutreffend. Er ist allerdings der Auffassung, dass die Agrarpolitik, die Fischereipolitik und die Strukturpolitik nicht in ausreichendem Maße in die Analyse und die Schlussfolgerungen einfließen.
- 8. Der Bundesrat bekräftigt seine Stellungnahme vom 13. Oktober 2006 (vgl. BR-Drucksache 414/06(B) ), wonach das Ziel, den Verlust an biologischer Vielfalt signifikant zu reduzieren, nur dann erreicht werden kann, wenn entsprechende Maßnahmen zeitgleich auf internationaler Ebene eingeleitet werden. Weitere Verschärfungen begrenzt auf das Gebiet der EU würden allenfalls zu Wettbewerbsverzerrungen führen, ohne die Biodiversität nachhaltig zu verbessern. Eine einseitige Vorreiterrolle der EU wäre hier nicht zielführend.
- 9. Der Bundesrat bedauert, dass die Mitteilung der Kommission in der Analyse und Bewertung der originären Ursachen für den Verlust an biologischer Vielfalt geographisch und fachlich wenig differenziert ausfällt. Die Weiterentwicklung von Politikinstrumenten mit dem Ziel einer wirksamen Abhilfe ist ohne eine derartige Bewertung nicht möglich.
- 10. Er legt Wert darauf, dass die bisherigen Maßnahmen und Programme im Einzelnen analysiert und bewertet werden, um den Grund der Zielverfehlung eindeutig zu erkennen und daraus entsprechende Rückschlüsse für neue Konzepte und Ziele herleiten zu können, bevor mit hohem Kostenaufwand und ggf. mit der Folge von Einschränkungen des Binnenmarkts neue Maßnahmen ergriffen werden. Dies entspräche auch den internationalen Vereinbarungen über das weitere Vorgehen.
- 11. Der Bundesrat unterstützt die Kommission in ihren Bemühungen, ein neues flächendeckendes Konzept zur Sicherung der Biodiversität vorzulegen und entsprechende Ziele dafür zu formulieren. Die Einbeziehung der dringenden Fragen des Klimaschutzes und der Armutsbekämpfung erscheinen dabei als unverzichtbare Voraussetzungen. Die Verknüpfung mit den derzeit laufenden Verhandlungen über die CBD ist geboten, um eine globale Wirkung der europäischen Bemühungen zu ermöglichen.
- 12. Im jetzigen Internationalen Jahr der biologischen Vielfalt steht ohnehin die Überprüfung der Erfüllung des globalen 2010-Biodiversitätsziels durch die CBD an, deren Vorsitz derzeit Deutschland hat. Auch wenn es etliche Erfolgsbeispiele auf sektoraler, regionaler, nationaler und lokaler Ebene gibt, besteht Übereinstimmung, dass das Ziel insgesamt jedoch verfehlt werden wird. Die wichtigsten politischen Ziele der derzeitigen deutschen CBD-Präsidentschaft wurden in der "Bonn Agenda für biologische Vielfalt" - der Abschlusserklärung des Ministersegments der 9. Vertragsstaatenkonferenz der CBD - deshalb wie folgt festgelegt:
- - Verabschiedung einer international verbindlichen Vereinbarung zur gerechten Aufteilung der Vorteile, die aus der Nutzung der genetischen Ressourcen entstehen (Access and Benefit Sharing - ABS);
- - Fortführung der "LifeWeb Initiative" für ein freiwilliges, weltweites Netz von Schutzgebieten an Land und auf dem Meer;
- - eingehende Bewertung des 2010-Biodiversitätsziels;
- - Abschluss einer Studie, in der die volkswirtschaftlichen Kosten aufgezeigt werden, die uns durch die Naturzerstörung entstehen ("TEEB" - The Economics of Ecosystem Services and Biodiversity) sowie
- - Schaffung einer zwischenstaatlichen Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik für das Thema Biodiversität (IPBES - Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem ServicesIPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change)).
- 13. Diese Maßnahmen sollten zunächst gemeinsam auf internationaler Ebene abgearbeitet werden, bevor auf EU-Ebene neue Strategien und Ziele entwickelt werden.
- 14. Der Bundesrat stellt weiterhin fest, dass angesichts der Bedeutung und des Gewichts der EU die globale Analyse und die globalen Handlungsmöglichkeiten der EU, z.B. in den Verhandlungen zum Welthandelsabkommen GATT, nicht ausreichend gewürdigt werden.
- 15. Bevor und ggf. für welche der vier in der Mitteilung beschriebenen unterschiedlichen Optionen des möglichen Ambitionsniveaus man sich entscheidet, muss klar sein, dass alle Maßnahmen nur dann erfolgreich sein können, wenn sie weltweit zur Anwendung kommen und im Einklang mit den Beschlüssen der CBD stehen. Nationale Maßnahmen sind zur Ergänzung unumgänglich, durch sie allein würde man das Problem aber nur schwer oder gar nicht in den Griff bekommen und lediglich Wettbewerbsverzerrungen schaffen (beispielsweise die illegale Überfischung der Meere, das sinnlose Abholzen der Tropenwälder zum Anbau von Palmölplantagen oder die Verhinderung invasiver Arten).
- 16. Der Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit und andere Belange, z.B. Infrastrukturentwicklung und Raumplanung, sind auch bei der Weiterentwicklung des Biodiversitätskonzepts und -ziels der EU angemessen zu berücksichtigen. Aus Sicht des Bundesrates bestehen erhebliche Bedenken, ob insbesondere die von der Kommission vorgeschlagenen Optionen 3 und 4 mit diesen Anforderungen vereinbar sind. (bei Annahme entfällt Ziffer 20)
- 17. Von den vier in Kapitel 3.2. dargestellten Optionen unterschiedlichen Ambitionsniveaus plädiert der Bundesrat für Option 2. Er hält die Bekräftigung des bisherigen Ziels für die einzig realistische Option ohne Rückschritt, während die Optionen 3 und 4 nicht konkret fassbar und unrealistisch erscheinen. (bei Annahme entfällt Ziffer 20)
- 18. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass eine "Wiedernutzbarmachung der biologischen Vielfalt" irreführend ist. Dieser Begriff gibt den Tenor der Mitteilung nicht wieder. Vielmehr ist von einer Wiederherstellung der biologischen Vielfalt [im Sinne einer evolutionär ungestörten Entwicklung] zu sprechen.
- 20. Darum erscheint von den genannten vier Optionen lediglich die vierte als wirkungsvoller Lösungsweg geeignet zu sein, um die dringend benötigten Handlungsfelder abzustecken und entsprechend ambitioniert definierte Ziele zu erreichen. Zudem kann nur so sichergestellt werden, dass sich die EU als globaler Akteur der Verteilungsgerechtigkeit zu erkennen gibt. Der Bundesrat ermuntert die Kommission zugleich, die mit Option 4 verbundenen ökonomischen Vorteile stärker herauszustreichen, um Verlustängsten vorzubeugen. (entfällt bei Annahme von Ziffer 16 oder Ziffer 17)
- 21. Nach Kapitel 3.2 der Mitteilung muss künftig jedes neue Ziel die Rolle der Ökosysteme und Ökosystemleistungen berücksichtigen. Diese Formulierung ist missverständlich und ginge bei enger Auslegung über die bisherigen nationalen Eingriffsregelungen erheblich hinaus, mit der Folge zusätzlicher Restriktionen für notwendige wirtschafts- und verkehrspolitische Infrastrukturmaßnahmen. Der Bundesrat bittet, bei den weiteren Verhandlungen darauf zu achten, dass die Grundsätze des Gleichklangs von Ökologie, Ökonomie und sozialen Belangen im Sinne der weltweit anerkannten Ziele der Nachhaltigkeitsstrategie nicht in Frage gestellt werden.
- 22. Der Bundesrat legt Wert auf die Feststellung, dass die in Europa großräumig vorherrschende Kulturlandschaft für viele wild lebende Arten der typische Lebensraum und damit Voraussetzung für deren Überleben ist. Zur Pflege und dem Erhalt der Kulturlandschaft ist eine nachhaltige und umweltverträgliche land- und forstwirtschaftliche Nutzung unverzichtbar. Diese muss auch Belange des Natur- und Artenschutzes integrierende Nutzungskonzepte zur Nahrungsmittel- und Rohstoffproduktion verfolgen. Damit wird auch weiterhin eine möglichst hohe Bindung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre durch die "Pumpenfunktion" der Nutzung ermöglicht.
- 23. Die Kommission lässt die künftigen Handlungsfelder offen, nennt aber bereits explizit die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, die nach Auffassung der Kommission nicht ausreichend in konkrete Maßnahmen umgesetzt worden ist. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass dies differenzierter betrachtet werden muss. Verschiedene Rechtsabkommen und freiwillige Initiativen regeln und verbessern heute den Schutz der Meere vor Verschmutzung und ungezügelter Nutzung.
Über die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen, ist beispielsweise das verbindliche Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (MARPOL) geschaffen worden. Diese Regel wurde ergänzt und fortgeschrieben mit den Regeln zur Reduzierung der Schadstoffemissionen. Das Helsinki-Abkommen (HELCOM) schützt die Meeresumwelt der Ostsee und ihre Zugänge; das OSPAR-Abkommen die Meeresumwelt des Nordatlantiks und der Nordsee.
Begründung (nur gegenüber dem Plenum):
Die Wachstums- und Arbeitsplatzpotenziale der maritimen Wirtschaft Deutschlands werden in Studien belegt, und die mit einer europäischen Meerespolitik verbundenen Chancen für Forschung, Wirtschaft und Arbeitsplätze wirken sich nicht nur in den Küstenregionen aus (eine Werft hat bereits heute 50 bis 70 Prozent ihrer Arbeiten ausgelagert, mit Zulieferindustrien beispielsweise in Nordrhein-Westfalen und Süddeutschland).
Der Meeresbereich ist von erheblichem, wirtschaftspolitischen Interesse. Nach Einschätzung der Kommission stecken in einigen der wichtigsten Sektoren Schifffahrt, Häfen, Schiffbautechnik, Küsten-Tourismus, Aquakultur, erneuerbare Energien (Windkrafttechnologie), submarine Telekommunikation und marine Biotechnologie die größten Wachstumspotentiale. Nach wie vor große oder wachsende Bedeutung haben auch die Dienstleistungen wie Versicherungen, Banken oder Schiffsmakler. So werden beispielsweise 90 Prozent des Außenhandels und über 40 Prozent des Binnenhandels über Schifffahrt und Häfen abgewickelt; die Nordsee ist nach Russland, den USA und Saudi-Arabien weltweit die viertgrößte Quelle von Öl und Gas und sichert damit zu einem Teil unsere Energieversorgung. Einseitige Restriktionen hätten deshalb erhebliche negative Folgen für die gesamte Volkswirtschaft.
- 24. Der Bundesrat bittet darauf hinzuwirken, dass auf Grund der Auswirkungen der Maßnahmen auf alle Politikbereiche alle relevanten Akteure bei der Fortsetzung der Konsultationen mit Interessengruppen in 2010 gemäß Kapitel 4 beteiligt werden.
- 25. Der Bundesrat ist besorgt über die Ausführungen im Kapitel 2.3 unter fünftens zum Finanzbedarf, wenn davon ausgegangen wird, dass bislang lediglich 20 Prozent des Gesamtmittelbedarfs für die Bewirtschaftung von Schutzgebieten in Europa gedeckt seien.
- 26. Der Bundesrat bedauert, dass in der Mitteilung nur unzureichende Angaben zum Finanzierungsbedarf gemacht werden. Der Bundesrat geht insbesondere vor dem Hintergrund der Ausführungen in der Mitteilung zur Entwicklung einer "Grünen Infrastruktur", der Entwicklung neuer Indikatoren und der bestehenden Wissens- und Datenlücken sowie je nach Wahl des Ambitionsniveaus für das 2020-Ziel von erheblichen zusätzlichen finanziellen und personellen Belastungen für die Länder aus.
- 27. Die Haushaltssituation in den Ländern ist so angespannt, dass die übrigen und sich weiterhin ausweitenden Pflichtaufgaben kaum noch geleistet werden können.
- 28. Vor diesem Hintergrund ist die Übernahme weiterer Pflichtaufgaben ohne finanziellen Ausgleich nicht möglich.
- 29. Schon die Umsetzung des jetzigen EU-Rechts stellt die Länder vor erhebliche Personal- und Haushaltsprobleme. Bei der zwingend notwendigen Reduzierung der Neuverschuldung sind Überlegungen zur Anhebung des Finanzierungsvolumens nur bei Bereitstellung der Mittel durch die EU akzeptabel.
- 30. Die Bundesregierung wird [daher mit Nachdruck] gebeten, bei den weiteren Beratungen auf EU-Ebene [zur Festlegung eines Biodiversitätsziels der EU für 2020 darauf zu achten] und {darauf hinzuwirken}, dass zusätzliche finanzielle Belastungen der Länder {durch die in der Mitteilung der Kommission dargelegten Maßnahmen} vermieden werden.
- 31. Der Bundesrat bekräftigt in diesem Zusammenhang seine Stellungnahme vom 13. Oktober 2006 (vgl. BR-Drucksache 414/06(B) ).