Der Bundesrat hat in seiner 854. Sitzung am 13. Februar 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Zu Frage 1:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission mit dem Grünbuch eine Verbesserung für Verbraucherinnen und Verbraucher bei der grenzüberschreitenden Durchsetzung ihrer Rechte, besonders in Fällen von Streu- oder Bagatellschäden, anstrebt. Dies trägt einer fortschreitenden Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts in einer globalisierten Wirtschaft Rechnung und stärkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Binnenmarkt. Der Bundesrat weist darauf hin, dass dabei auf einen angemessenen Ausgleich der Interessen zwischen Verbrauchern und Unternehmern zu achten ist.
- 2. Er sieht in der effektiven Durchsetzung der Verbraucherrechte in Europa einen entscheidenden Hebel, für ein besseres Funktionieren des Binnenmarkts aus Verbrauchersicht beizutragen. Dazu zählt nach Ansicht des Bundesrates auch eine effektive Durchsetzung berechtigter Schadensersatzansprüche von Verbrauchern.
- 3. Der Verbraucher muss sich darauf verlassen können, im Bedarfsfall ausreichenden Rechtsschutz zur Durchsetzung seiner Rechte zur Verfügung zu haben. Eine effektive Rechtsdurchsetzung in allen Mitgliedstaaten ergänzt den materiellen Verbraucherschutz und trägt - auch grenzüberschreitend - zu fairen Wettbewerbsbedingungen zwischen Unternehmen untereinander, ebenso wie im Verhältnis zum Verbraucher bei.
- 4. Der Bundesrat sieht jedoch kein Bedürfnis für eine europaweit einheitliche Regelung auch für ausschließlich innerstaatliche Sachverhalte. In dem Grünbuch zur Diskussion gestellte Maßnahmen betreffen die nationalen Zivil- und Zivilprozessrechte, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich geregelt sind. Gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen in diesem Bereich stellen sich als erhebliche Eingriffe in das Gefüge des nationalen Prozessrechts und damit in einen Kernbereich der nationalen Rechtsordnung dar. Bei der Vorbereitung etwaiger Rechtsakte auf Gemeinschaftsebene für die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung wird aus Gründen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit unbedingt zu beachten sein, dass dem nationalen Gesetzgeber ein genügender Spielraum bei der Umsetzung verbleibt, um die Systemgerechtigkeit mit dem nationalen Recht wahren zu können.
- 5. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Einführung grenzüberschreitend geltender kollektiver Rechtsdurchsetzungsverfahren allenfalls dann in Betracht kommt, wenn weniger einschneidende Maßnahmen, wie die Optimierung bzw. Ergänzung bestehender Rechtssysteme, bei Durchsetzung von Verbraucherschutzrechten keinen Erfolg haben.
- 6. Der Bundesrat unterstreicht, dass eine kollektive Rechtsdurchsetzung auch in grenzüberschreitenden Fällen nur in Frage kommen kann, wenn sie praktikabel ist und den justiziellen Garantien genügt. Insbesondere müssen die Informations- und Teilhaberechte der potentiellen Anspruchsinhaber gewahrt bleiben.
- 7. Weiter muss sichergestellt sein, dass wirksame Mechanismen vorhanden sind, die einen Missbrauch kollektiver Rechtsdurchsetzung verhindern. Deshalb sollten beispielsweise bewährte Grundsätze wie das Prinzip "Wer verliert, zahlt" gewahrt werden. Das Grünbuch weist im Übrigen zu Recht darauf hin, dass die Einführung von "class actions" nach amerikanischem Muster keine Lösung sein kann.
- 8. Die Erprobung kollektiver Rechtsschutzformen steht in den Mitgliedstaaten noch am Anfang. Bevor neue Maßnahmen ergriffen werden, erscheinen weitere Evaluierungen unverzichtbar.
- 9. Der Bundesrat ist deshalb der Auffassung, dass es vor Einführung neuer Klagesysteme, insbesondere kollektiver Rechtsdurchsetzungsverfahren, notwendig ist, zunächst die insoweit bereits in 13 Mitgliedstaaten existierenden Verfahren sorgfältig zu analysieren und festzustellen, ob und welche nationalen Defizite es hier im Einzelnen tatsächlich gibt. Danach sollte geprüft werden, wie entsprechende Defizite abgebaut und die gewachsenen Rechtsschutzsysteme der Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Gewährleistung eines vergleichbaren Schutzniveaus ausgebaut bzw. optimiert werden können. Besondere Bedeutung kommt in diesem Rahmen auch der Förderung und Effektivierung alternativer Streitbeilegungsverfahren zu.
- 10. Die jeweiligen nationalen Erfahrungen werden wichtige Hinweise auf mögliche materielle Anwendungsbereiche und prozessuale Rechtsinstitute etwaiger europäischer Maßnahmen für grenzüberschreitende Fälle liefern können.
- 11. Das deutsche Rechtsschutzsystem stellt für die Verletzung individueller Rechte schon jetzt hinreichende Klagemöglichkeiten bereit und verfügt darüber hinaus durch die Möglichkeit von Verbandsklagen, insbesondere auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes und des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, bereits über kollektive Rechtsschutzinstrumente zu Gunsten des Verbrauchers.
- 12. So wurde im deutschen Recht neben den Verbandsklagebefugnissen nach dem Unterlassungsklagengesetz und dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb im Jahr 2002 die sogenannte Einziehungsklage (§ 8 Absatz 1 Nummer 4 RDG, § 79 Absatz 2 Satz 2 Nummer 3 ZPO) geschaffen, die Verbraucherverbänden eine eigenständige Prozessführungsbefugnis zum Einzug von Drittforderungen verleiht. Im Jahr 2005 wurde zur Verbesserung des Rechtsschutzes von Kapitalanlegern das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG, vgl. BGBL I 2005, 2437) erlassen.
Zu den Fragen 2 bis 7:
- 13. Der Bundesrat hält es im gegenwärtigen Stadium für geboten, den Mitgliedstaaten ausreichend Zeit für die Entwicklung und Erprobung kollektiver Rechtsschutzformen einzuräumen und entsprechend der Option 1 näher zu analysieren, wie sich die unterschiedlichen Konzepte kollektiven Rechtsschutzes in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Praxis auswirken. Der Bundesrat hat Bedenken, ob das im Grünbuch in Fußnote 33 als Referenz für das Funktionieren der verschiedenen Rechtsschutzsysteme angegebene "Verbraucherbarometer" als alleiniges Mittel zur Evaluation ausreicht. Er empfiehlt eine systematische Einbeziehung auch der gerichtlichen und rechtsanwaltlichen Praxis in den Mitgliedstaaten, soweit sie nicht bereits durch die mit dem Grünbuch eingeleitete Konsultation erfolgt. Ziel sollte es sein, für einzelne Fallgruppen kollektiven Rechtsschutzes europaweit eine jeweilige "best practice" zu ermitteln.
- 14. Das Grünbuch konzentriert seine Überlegungen zur massenhaften Schädigung von Verbrauchern durch unlautere Geschäftspraktiken auf sogenannte Streuschäden (vgl. Tz. 6 bis 9 des Grünbuchs), bei denen den einzelnen Verbraucher typischerweise ein so geringer Schaden (Bagatellschaden) trifft, dass er aus Aufwandsgründen auf eine individuelle Rechtsdurchsetzung verzichtet. Mit Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes will das Grünbuch hier den Individualrechtsschutz stärken und zugleich die Marktsteuerungsfunktion der Ziviljustiz (Abschreckung unlauteren Geschäftsgebarens) wahren. Die Frage, ob sich kollektive Klageformen speziell für die Bewältigung von Streuschadensfällen eignen, wird vom Grünbuch allerdings nicht problematisiert. Die Annahme, wonach "76 Prozent der Verbraucher eher dazu bereit (wären), ihre Sache vor Gericht zu bringen, wenn sie sich dabei mit anderen Verbrauchern zusammenschließen könnten" (Tz. 18 des Grünbuchs), erscheint jedenfalls in diesen Fällen fragwürdig. Gegen ihre Richtigkeit sprechen die bislang in Deutschland gesammelten Erfahrungen mit einschlägigen Rechtsinstrumenten, etwa der schon erwähnten Einziehungsklage (s. o. Ziffer 12 der Stellungnahme). Diese Instrumente werden in Streuschadensfällen nicht genutzt, weil auch die kollektive Verfolgung von Bagatellansprüchen mit organisatorischem und finanziellem Aufwand verbunden ist, den weder Verbraucher noch Verbände auf sich nehmen. Dieser Befund hat den deutschen Gesetzgeber bewogen, zum Schutz des lauteren Wettbewerbs im Jahre 2005 das objektive Steuerungsinstrument der Abschöpfung von Verletzergewinnen einzuführen (vgl. § 10 UWG, § 34a GWB).
- Vor diesem Hintergrund erscheint die Eignung kollektiver Klageformen bei Streuschadensfällen fraglich. Die allgemeine Annahme des Grünbuchs, die Prozessfreude von Verbrauchern steige signifikant durch den Zusammenschluss mit anderen Rechtsuchenden, stellt nach Auffassung des Bundesrates noch keine belastbare Grundlage für die weiteren Überlegungen zur Bewältigung von Streuschäden dar. Zum Schutz eines lauteren Wettbewerbs würde es sich vielmehr anbieten, auch die Eignung objektiver Instrumente (insbesondere Gewinnabschöpfung, Unterlassungsverbandsklage) näher zu untersuchen, die im Grünbuch bislang nur am Rande behandelt werden.
- 15. Darüber hinaus erachtet der Bundesrat eine stärkere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten grundsätzlich für sinnvoll. Soweit Option 2 die Einrichtung eines Kooperationsnetzwerks aufgrund einer entsprechenden Richtlinie vorsieht, bestehen angesichts des hiermit einhergehenden Verwaltungsaufwandes Zweifel an dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Effektiver könnte die Unterstützung nationaler Verbraucherverbände sein, damit diese in die Lage versetzt werden, die sich aus einer stärkeren Zusammenarbeit ergebenden zusätzlichen Aufgaben zu übernehmen. Eine Zusammenarbeit der nationalen Verbraucherschutzverbände sollte auch einen einfachen Zugang der Verbraucher zu Informationen über die Rechtsschutzmöglichkeiten in anderen EU-Mitgliedstaaten bewirken.
- 16. Der Bundesrat befürwortet nicht regulativ wirkende Instrumente von Seiten der EU, wie eine engere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten durch Stärkung von bereits vorhandenen Netzwerken (siehe Option 2) oder die Einführung freiwilliger außergerichtlicher Streitbeilegungsverfahren (siehe Option 3).
- 17. Eine verbesserte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten sollte deshalb unter Ausnutzung und ggf. Optimierung vorhandener Arbeitsstrukturen erreicht werden. So könnten die Vorteile der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen beispielsweise verstärkt für Verbraucherstreitigkeiten erschlossen werden.
- 18. Der Bundesrat ist zudem der Auffassung, dass gerade bei Durchsetzung von Verbraucherschutzrechten und damit im persönlichen Vertragsverhältnis zwischen Unternehmer und Verbraucher freiwillige Maßnahmen besser angenommen werden. Zusätzlich wäre auch an Maßnahmen, wie die Einführung spezieller Ombudsverfahren, zu denken, die sich in Deutschland im Versicherungsbereich, einem für Verbraucher und Unternehmen gleichermaßen wirtschaftlich bedeutenden Rechtsbereich, bewährt haben.
- 19. Daneben spricht sich der Bundesrat für eine umfassende Information der europäischen Verbraucher aus, insbesondere über die in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung, die dafür anfallenden Kosten und die hierfür bestehenden Möglichkeiten staatlicher Unterstützung für Unbemittelte.
- 20. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass darüber hinaus erst eine gründliche Analyse und Bewertung der jeweiligen nationalen Rechtsdurchsetzungssysteme weitere Lösungswege aufzeigen kann.
- 21. Aus der Option 3 begrüßt der Bundesrat besonders den Ausbau und die Förderung von Verfahren zu einer alternativen Streitbeilegung. Allerdings sollte die Kombination verschiedener Instrumente nicht dazu führen, dass der Verbraucher die Übersicht über die in Betracht kommenden Möglichkeiten verliert.
Alternative Streitbeilegungsverfahren sollten in der EU verstärkt implementiert werden (Option 3). Alle Mitgliedstaaten sollten zu einer Einführung angehalten werden. Dabei ist sicherzustellen, dass diese Verfahren auch Verbrauchern aus anderen Mitgliedstaaten zugänglich sind. Durch die Einführung eines Standardmodells für ein kollektives alternatives Streitbeilegungsverfahren könnte gewährleistet werden, dass es für Verbraucher leicht zu handhaben und auch auf grenzüberschreitende Fälle anzuwenden ist. Das Netzwerk der Europäischen Verbraucherzentren könnte Verbrauchern bei der Durchführung der außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren in grenzüberschreitenden Fällen wertvolle Unterstützung leisten.
Der Bundesrat befürwortet eine Überprüfung der Verordnung zur Zusammenarbeit im Verbraucherschutz, da die mit der Verordnung intendierte Kooperation der zuständigen Behörden noch nicht optimal funktioniert. Der Bundesrat sieht jedoch eine verbindliche Vorgabe der EU an die Mitgliedstaaten zur behördlichen Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen der Verbraucher, die in Option 3 mit der Überlegung zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden (ABl. L 364 vom 9. Dezember 2004, S. 1) diskutiert wird, kritisch.
Eine behördliche Durchsetzung privater Schadensersatzansprüche (so wohl Tz. 44 des Grünbuchs) würde der in Deutschland bewährten Rechtstradition privatautonomer Rechtsdurchsetzung, wonach private Ansprüche von den Geschädigten grundsätzlich selbst erstritten werden müssen, widersprechen.
Das Instrument der Gewinnabschöpfung (Tz. 45 des Grünbuchs) erscheint dagegen grundsätzlich geeignet, um einen lauteren Wettbewerb auch im Interesse der Verbraucher zu schützen. Die Wahrnehmung dieser Befugnis sollte allerdings nicht einer staatlichen Behörde, sondern geeigneten Verbänden (etwa Verbraucherverbänden) übertragen werden.
- 22. Auf folgende Punkte wird dabei gesondert hingewiesen:
In Bezug auf die Einführung eines kollektiven Gerichtsverfahrens auf europäischer Ebene (Option 4) sieht der Bundesrat hinsichtlich der prozessualen Ausgestaltung dieses Instruments vor dem Hintergrund der parallelen Überlegungen in der Kommission zur Einführung von Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts auch die Gefahr einer Zersplitterung des Prozessrechts. Der Bundesrat hält es daher im Interesse einer Politik der "Besseren Rechtsetzung" unbedingt für erforderlich, die Überlegungen der verschiedenen Generaldirektionen aufeinander abzustimmen und Vorschläge möglichst "aus einem Guss" zu entwickeln. Dabei ist ein horizontaler Ansatz in Betracht zu ziehen.
- 23. Vorbehaltlich einer weiteren Evaluation hält der Bundesrat aus der Option 4 allenfalls so genannte "Optin-Verfahren", d. h. den aktiven Zusammenschluss mehrerer Geschädigter zu einer Sammelklage, für erwägenswert. Wie bereits in seiner Stellungnahme vom 4. Juli 2008 (BR-Drucksache 248/08(B) ) zum Weißbuch der Kommission "Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts" (KOM (2008) 165 endg.) lehnt der Bundesrat so genannte "Optout-Verfahren" ab. Denn dadurch könnten Verbraucher ggf. ohne ihr Wissen in eine Prozessführung einbezogen und an das Prozessergebnis gebunden werden. Dies widerspricht dem in Deutschland und den meisten übrigen Mitgliedstaaten vorherrschenden System der individuellen Klageerhebung. Danach ist jeder Einzelschaden individualisiert darzulegen und zu beweisen. Dies ist im Rahmen einer solchen Art von Verbandsklage kaum möglich, da der Verband regelmäßig die individuellen Einzelschäden nicht kennt. Ein "Optout-Verfahren" könnte damit die tatsächliche und rechtliche Aufarbeitung individueller Ansprüche nicht leisten und käme bei Streuschadensfällen letztlich einem "Gewinnabschöpfungsverfahren zugunsten Privater" unter dem Vorwand der Wahrnehmung von Drittinteressen gleich. Neben verfassungs- und verfahrensrechtlichen Bedenken dürfte dieses Modell auch das für den einzelnen Verbraucher nachteiligste sein.
- 24. Ein solches Verfahren darf nur Anwendung finden, wenn sich die geschädigten Verbraucher ausdrücklich für die Teilnahme am Verfahren aussprechen (Optin). Genau geprüft werden sollte, ob ein solches Instrument lediglich bei grenzüberschreitenden oder auch bei rein innerstaatlichen Rechtsstreitigkeiten gelten sollte. Keinesfalls darf ein solcher Rechtsbehelf einen Strafschadensersatz oder Erfolgshonorare vorsehen. Bei der Ausschüttung des Schadensersatzes muss sichergestellt werden, dass der zu verteilende Ersatz auch tatsächlich bei den Klägern ankommt und nicht durch etwaige Anwaltskosten verbraucht wird.
- 25. Hinsichtlich des Prozesskostenrisikos gibt der Bundesrat zu bedenken, dass dieses jedenfalls unter Geltung des Grundsatzes "Wer verliert, zahlt" ein wirksames Mittel gegen die missbräuchliche Geltendmachung von Ansprüchen sein kann. Einen in Tz. 50 des Grünbuchs erwogenen Verzicht auf Gerichtsgebühren oder eine Kappung von Prozesskosten bei kollektiven Klagen lehnt der Bundesrat ab. In Deutschland führt eine gemeinsame Rechtswahrnehmung schon jetzt zu Kostenvorteilen für den einzelnen Beteiligten. Eine weitere Kostenprivilegierung wäre sachlich nicht veranlasst. Sie würde auch zu Lasten der Funktionsfähigkeit der Justiz Anreize zu massenhaft missbräuchlicher Geltendmachung von Ansprüchen schaffen.
- 26. Unter Berücksichtigung vorstehender Ausführungen spricht sich der Bundesrat in erster Linie für unverbindliche Instrumente aus, da diese in ihrer Wirksamkeit und Akzeptanz durch Verbraucher und Unternehmer im Einzelfall weit effektiver als starr geregelte Rechtsdurchsetzungsverfahren sein können.
- 27. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass es noch zu früh ist, zu Frage 7 Stellung zu nehmen. Gerade etwa in Bezug auf die auf nationaler Ebene neu eingeführte Musterklage im Bereich der Kapitalmarktinformation muss sich ihre Wirksamkeit erst noch zeigen. Auch die im Verbraucherschutz neu eingeführten formellen und materiellen Anforderungen (z.B. Formvorschriften, Widerspruchsrechte usw.) müssen sich im Rechtsverkehr erst noch bewähren. Erst danach erscheinen Rückschlüsse auf die Effektivität der bestehenden Rechtsbehelfsverfahren möglich. Eine vorschnelle verbindliche Vorgabe hinsichtlich bestimmter Rechtsdurchsetzungsverfahren aus einem "Guss" würde ausgewogenen Lösungen zuwiderlaufen.
Kompetenzfragen:
- 28. Gegen die Einführung eines gemeinschaftsweit verbindlichen kollektiven Rechtsbehelfs in Form einer Verbrauchersammelklage bestehen aus Sicht des Bundesrates im Übrigen erhebliche kompetenzrechtliche Bedenken. Außerdem bestünde die Gefahr, dass damit die aus außereuropäischen Rechtskreisen hinlänglich bekannten und nach Auffassung der Kommission unbedingt zu vermeidenden Folgen, wie überhöhte Schadensersatzsummen (Strafschadensersatz), Erfolgshonorare, Gerichtsstandmanipulationen usw., auch in der Gemeinschaft um sich greifen würden.
- 29. Der Bundesrat bezweifelt die Rechtsetzungskompetenz der EU für die Einführung europaweit geltender kollektiver Rechtsdurchsetzungssysteme. Die Einführung solcher Rechtsdurchsetzungssysteme auf europäischer Ebene würde im erheblichen Maß das jeweilige nationale zivile Prozessrecht tangieren, das in der Kompetenz der einzelnen Mitgliedstaaten liegt.
Die Rolle und das Verständnis der EU sollten sich deshalb auf aufklärende Maßnahmen an Mitgliedstaaten und Verbraucher, Empfehlungen und weitere nicht regulativ wirkende Instrumente beschränken.
Sofern die EU dennoch die Regelungskompetenz für sich beansprucht, müsste der Rechtsrahmen kollektiver Rechtsdurchsetzungssysteme sorgfältig auf die bestehenden nationalen Prozesssysteme abgestimmt werden, um Missbrauch und wirtschaftsschädliche Auswüchse zu verhindern.
- 30. Der Bundesrat weist darauf hin, dass Artikel 95 EGV für aus dem Grünbuch folgende Maßnahmen nur als Rechtsgrundlage in Betracht kommt, sofern die Verwirklichung des Binnenmarkts im Vordergrund steht (Artikel 153 Absatz 3 Buchstabe a EGV). Die Maßnahmen müssen tatsächlich den Zweck haben, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern oder spürbare Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen. Allein das Bestehen unterschiedlicher nationaler Prozessrechte rechtfertigt Maßnahmen nach Artikel 95 EGV nicht.
- 31. Sofern die Kommission eine binnenmarktunabhängige Verbraucherschutzpolitik anstrebt, ist sie auf "Maßnahmen zur Unterstützung, Ergänzung und Überwachung der Politik der Mitgliedstaaten" beschränkt (Artikel 153 Absatz 3 Buchstabe b EGV). Der EGV rechtfertigt keine eigenständige, autonome Verbraucherschutzpolitik der EG. Diese ist vielmehr auf einen "Beitrag zur Verbesserung des Verbraucherschutzes" beschränkt. Dem Verbraucherschutz als Hauptziel darf sie sich nur mit Maßnahmen zur Unterstützung, Ergänzung und Überwachung der Politik der Mitgliedstaaten widmen, so dass die binnenmarktunabhängige Verbraucherpolitik insofern den Politiken der Mitgliedstaaten nachgeordnet wird.
- 32. Im Hinblick auf die Kompetenznorm des Artikels 65 Buchstabe c EGV weist der Bundesrat darauf hin, dass ein grenzüberschreitendes Moment zwingend ist. Daraus und aus der Beschränkung auf eine Harmonisierung bestehender nationaler Regelungen folgt zudem, dass die Ermächtigung keine Kompetenzgrundlage für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Zivilprozessrechts ist. Die mögliche Harmonisierung ist deshalb auf eine Angleichung beschränkt und erlaubt nicht die Schaffung neuer zivilprozessualer Instrumente.
- 33. Unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips sind künftige Maßnahmen auf ihre voraussichtliche Effizienz und ihren voraussichtlichen Mehrwert hin zu untersuchen. Die dabei zu stellenden Fragen bilden die negative und die positive Abgrenzung für die Zulässigkeit gemeinschaftsrechtlicher Maßnahmen. Zu fragen ist im Rahmen der Effizienz, ob der Bereich transnationale Aspekte aufweist und ob eine ausreichende Verwirklichung der durch die Maßnahme vorgegebenen Ziele durch die Mitgliedstaaten erreicht wird oder möglich ist. Für künftige Rechtsakte ist im Sinne eines Mehrwerts außerdem positiv zu fragen, ob die Maßnahme auf Gemeinschaftsebene wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung einen deutlichen Vorteil im Vergleich zu Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten bringt. Dabei ist ein wertender Vergleich zwischen zusätzlichem Integrationsgewinn und mitgliedstaatlichem Kompetenzverlust vorzunehmen. Entsprechend sind die Gemeinschaftsbefugnisse dort nicht voll auszuüben, wo der zusätzliche Integrationsgewinn minimal, der Eingriff in die verbliebenen Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten jedoch beträchtlich ist.
- 34. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.