907. Sitzung des Bundesrates am 1. März 2013
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU) und der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS) empfehlen dem Bundesrat, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass der Vertrag über den Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union aller Voraussicht nach am 1. Juli 2013 in Kraft treten wird, und würdigt die Anstrengungen, die Kroatien im Vorfeld hierzu unternommen hat (siehe BR-Drucksache 523/12(B) vom 2. November 2012).
- 2. Der Bundesrat ist zuversichtlich, dass der für März 2013 angekündigte Monitoringbericht der Kommission zu einem insgesamt positiven Ergebnis in diesem Zusammenhang kommen wird.
- 3. Der Bundesrat würdigt die hohe Bedeutung der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU als Kernelement des Binnenmarktes und zentrale Grundfreiheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die gemeinsam mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit auf die weitgehende Gleichstellung der Unionsbürger zielt, wodurch der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine besondere soziale und politische Bedeutung beizumessen ist. Maßnahmen zur Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind daher restriktiv zu handhaben, um nicht Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zweiter Klasse zu schaffen.
- 4. Der Bundesrat spricht sich daher im Zuge des Beitritts der Republik Kroatien zur EU gegen eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für kroatische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aus.
Begründung zu Ziffer 4:
- a) Die Arbeitnehmerfreizügigkeit zählt zu den vier fundamentalen Freiheiten der EU. Sie ermöglicht jeder EU-Bürgerin und jedem EU-Bürger in der EU, einen Arbeitsplatz frei zu wählen und zu den gleichen Bedingungen wie Inländerinnen und Inländer beschäftigt zu werden. Für Betriebe und Unternehmen bietet die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Möglichkeit, die besten Köpfe aus ganz Europa einzusetzen und damit bestehende Standorte und Arbeitsplätze zu sichern.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist damit ein elementarer Schritt zur Etablierung eines europäischen Arbeitsmarktes. Diese Chancen zu nutzen und gleichzeitig die erreichten Sozial- und Entlohnungsstandards in Deutschland nicht zu gefährden, sind Aufgaben des Staates und der Tarifpartner.
- b) Eine unbeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit für die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger aus Kroatien führt voraussichtlich zu keinen erheblichen Störungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, gerade weil keine größeren Migrationsströme aus Kroatien zu erwarten sind. Zum einen ist die Bevölkerungszahl Kroatiens im Vergleich zur Größe des europäischen Arbeitsmarktes gering. Zum anderen sind das erreichte Niveau der kroatischen Wirtschaft sowie die Entwicklungsperspektiven des Landes gerade aufgrund des EU-Beitritts positiv, was in der Folge die Motivation, Arbeit und Beschäftigung in anderen EU-Mitgliedsländern zu suchen, einschränken dürfte.
- c) Darüber hinaus haben die Erfahrungen mit der eingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgarien und Rumänien gezeigt, dass diese die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger aus den betroffenen Ländern nicht von der Suche nach einer Erwerbstätigkeit in Deutschland abhält. Jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Die Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit stehen jedoch einer Aufnahme speziell sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung entgegen. Im Ergebnis wird aufgrund der Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nur die durch die Niederlassungsfreiheit gegebene Möglichkeit der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit befördert, die dann oftmals in Unkenntnis über die rechtlichen Konsequenzen eingegangen wird. Dies kann für die betroffenen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger ein Abgleiten in die Illegalität bedeuten, weil zum Beispiel Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge nicht pflichtgemäß entrichtet werden. Für das Beispiel Hamburg kann eine rückläufige Tendenz bei Gewerbeanmeldungen und Zunahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung nach Gewährung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit am Beispiel Polen nachgewiesen werden (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 020/5903).
- d) Die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit sollte daher auch umgesetzt werden, um Verzerrungen durch Übergangsregelungen auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden. Durch die konsequente Anwendung der bestehenden Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG) und des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) mit der dort festgelegten Lohnuntergrenze werden soziale Standards auf dem deutschen Arbeitsmarkt gesichert und auch Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter aus dem In- und Ausland geschützt.
Der zu erwartende bürokratische Aufwand für die Bundesagentur für Arbeit, der im Zusammenhang mit der Beantragung von Arbeitserlaubnissen bei eingeschränkter Arbeitnehmerfreizügigkeit entstehen würde, ist angesichts sehr überschaubarer Risiken zudem nicht zu rechtfertigen.
B
- 5. Der Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfiehlt dem Bundesrat, gegen den Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes keine Einwendungen zu erheben.