888. Sitzung des Bundesrates am 14. Oktober 2011
A
- 1. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik empfiehlt dem Bundesrat, zu dem vom Deutschen Bundestag am 23. September 2011 verabschiedeten Gesetz die Einberufung des Vermittlungsausschusses gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes mit dem Ziel der grundlegenden Überarbeitung des Gesetzes zu verlangen.
Begründung:
- a) Das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt wird seinem Namen nicht gerecht. Im Ergebnis werden hier die Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt nicht verbessert, sondern Einschränkungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik vorgenommen.
Die im Gesetzesvorhaben formulierten Ansätze der Bundesregierung wie "mehr Dezentralität, höhere Flexibilität, größere Individualität, höhere Qualität und mehr Transparenz" sind grundsätzlich zu begrüßen, werden jedoch in der Konsequenz nicht umgesetzt. Vielmehr steht die Realisierung enormer Einsparungen im Vordergrund. Woraus sich die Einsparpotenziale der Instrumente der aktiven Arbeitsförderung im Einzelnen jedoch ergeben sollen, bleibt (mit Ausnahme von Minderausgaben nach Umwandlung des Gründungszuschusses von der Pflicht- zur Ermessensleistung) unklar. Dies gilt sowohl für die bundesseitig "erwarteten Effizienzgewinne" im Rechtskreis des SGB II als auch des SGB III. Die Instrumentenreform ist somit größtenteils lediglich eine Anpassung der Instrumente an die Sparvorgaben der Bundesregierung.
Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, von der in erster Linie arbeitsmarktnahe Arbeitslose im Rechtskreis des SGB III profitieren, ist keine Rechtfertigung für eine Reduzierung der Mittel. Denn gerade in Zeiten des Aufschwungs wäre es dringend nötig, durch verstärkten Mitteleinsatz vor allem die Verbesserung der Vermittlung benachteiligter Gruppen am Arbeitsmarkt anzustreben.
Darüber hinaus fehlt es an bedarfsgerechten flexiblen Förderansätzen für die sehr heterogenen Zielgruppen in der Arbeitsförderung insgesamt - insbesondere aber für Personen mit besonderen Vermittlungsschwierigkeiten im SGB II. Nur Aktivierungsstrategien, die die individuellen Lebenslagen und beruflichen Entwicklungen berücksichtigen, die an den lokalen Gegebenheiten ausgerichtet sind und über die dezentral entschieden wird, sind geeignet, eine wirksame und nachhaltige Arbeitsmarktintegration zu erreichen.
Insgesamt wird das Gesetz den Gegebenheiten und Herausforderungen des Arbeitsmarktes nicht gerecht, den Erkenntnissen aus der Arbeitsmarktforschung wird kaum gefolgt und eine effektivere und effizientere Arbeitsmarktpolitik durch mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort wird nicht erreicht.
- b) Insbesondere folgende Änderungen der arbeitsmarktpolitischen Instrumente stellen sich als besonders kritisch dar:
- aa) Die Instrumente der Berufsausbildung sind insgesamt noch immer zu wenig auf das Ziel einer abgeschlossenen Berufsausbildung ausgerichtet. Lebenslanges Lernen ist bedingt durch den Strukturwandel und den globalen Wettbewerb unverzichtbar. Der deutsche Arbeitsmarkt wird immer mehr ein Arbeitsmarkt der Fachkräfte werden.
Das Ziel sollte hier sein, in dem Übergangsbereich zwischen Schule und Arbeitswelt die Entwicklung eines weiter verbesserten transparenten Systems zu befördern. Für nicht ausbildungsreife Jugendliche sollten zielgruppenadäquate und kreative Ansätze genutzt werden, um Ausbildungsreife ohne Umwege, Doppelungen oder Verzögerungen herzustellen.
Im Einzelnen sind hierfür u.a. das Instrument der Berufsorientierung auf Dauer - auch in erweiterter Form - zu entfristen, das Kofinanzierungserfordernis "Dritter" bei der Berufseinstiegsbegleitung zu beseitigen, Personal- und Sachkosten als Form der Kofinanzierung bei Berufsorientierungsmaßnahmen zuzulassen und das Instrument der Einstiegsqualifizierung (EQ) auf Dauer zu ermöglichen und zugleich als Markenzeichen EQ gesondert zu erhalten.
- bb) Es fehlt nach wie vor eine Regelung, um Weiterbildungsmaßnahmen für ausgewählte Personengruppen als Auftragsmaßnahmen unter Anwendung des Vergaberechts initiieren zu können. Der Vorschlag aus der Stellungnahme des Bundesrates vom 8. Juli 2011 (BR-Drs. 313/11(B) ), eine Öffnung der Förderung der beruflichen Weiterbildung für Auftragsmaßnahmen in begründeten Fällen ergänzend zum Bildungsgutscheinverfahren gesetzlich vorzusehen, wird nicht aufgegriffen.
Am Bildungsgutscheinsystem sollte grundsätzlich festgehalten werden. Trotzdem sollte im SGB II, aber auch im SGB III, eine Öffnungsmöglichkeit für die Steuerung mit Auftragsmaßnahmen geregelt werden, um gezielter Maßnahmen für arbeitsmarktfernere Personengruppen organisieren zu können, die Schwierigkeiten haben mit dem Bildungsgutschein zurecht zu kommen. Zudem ist es denkbar, dass erforderliche Maßnahmen regional nicht vorhanden sind oder zustande kommen und dies ein Hemmnis für die Inanspruchnahme gerade durch leistungsschwächere Arbeitslose sein könnte.
- cc) Der demographische Wandel bedingt einen steigenden Bedarf an Pflegefachkräften, der zunehmend nicht mehr gedeckt werden kann. Das dritte Weiterbildungsjahr in der Alten- und Krankenpflege sollte deshalb förderfähig bleiben. Die im Rahmen des Konjunkturpakets II eingefügte Förderung sollte wieder eingeführt und entfristet geregelt werden.
- dd) Vor dem Hintergrund weiterhin hoher Arbeitslosenzahlen bei Älteren und noch immer unzureichender Bereitschaft zur Neueinstellung von Älteren bei den Arbeitgebern ist die Kürzung der Förderdauer des Eingliederungszuschusses für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab 50 Jahren auf bis zu 12 Monate nicht sachgerecht. Um den besonderen Förderbedarfen dieser Zielgruppe auch weiterhin Rechnung tragen zu können, bedarf es entsprechend der bestehenden Regelung der Möglichkeit, eine Förderung für einen Zeitraum von bis zu 36 Monaten gewähren zu können.
- ee) Die im Gesetz vorgesehene Neuregelung der Gründungsförderung - u.a. die Umwandlung dieses Instruments von einer Pflicht- in eine Ermessensleistung - ist ein deutlicher Rückschritt gegenüber der bisherigen Förderung und wird zu drastischen Einbrüchen bei den Förderzahlen führen. Dies wird auch dadurch deutlich, dass in der Begründung der finanziellen Auswirkungen insbesondere beim Gründungszuschuss ein erhebliches Sparpotenzial gesehen wird. Die Existenzgründungsförderung für Arbeitslose unterliegt damit dem "Kahlschlag".
Der Bundesrat hat sich in seiner Stellungnahme vom 8. Juli 2011 (BR-Drs. 313/11(Bechluss)) gegen die vorgesehene Neuregelung des Gründungszuschusses ausgesprochen. Der dortige Vorschlag des Bundesrates zum Erhalt der bisherigen Fördertatbestände und Ansprüche wird nicht aufgegriffen.
Der Zeitraum der Förderung darf gegenüber der derzeitigen Möglichkeit im SGB III nicht verkürzt oder verschlechtert werden, da eine angemessene Zeit zum Aufbau und zur Stabilisierung einer selbständigen unternehmerischen Existenz notwendig ist. Insofern ist die Änderung im Hinblick auf die Zeitdauer für den Zuschuss und die Pauschale abzulehnen. Zumindest die bisherige Förderregelung muss erhalten bleiben.
- ff) Das Gesetz setzt einen unzureichenden Rahmen für die Umsetzung zielgruppenspezifisch ausgestalteter öffentlich geförderter Beschäftigung und beschränkt nachhaltig die Integrationschancen der besonders förderbedürftigen Langzeitarbeitslosen, von denen ein zunehmender Teil bereits seit mehreren Jahren ohne Beschäftigung ist.
Durch die ersatzlose Streichung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen entfällt die Möglichkeit der öffentlich geförderten Beschäftigung im SGB III vollständig. Angesichts der Tatsache, dass es auch im SGB III-Rechtskreis eine relativ hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen (ältere Arbeitslose und sog. Nichtleistungsbeziehende) gibt, ist ein Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung auch im SGB III weiterhin erforderlich. Das Instrument ist grundsätzlich analog zum § 16e SGB II zu gestalten, da sich die Problemlagen Langzeitarbeitsloser in beiden Rechtskreisen stark ähneln.
Soweit Arbeitsverhältnisse nach § 16e SGB II im gemeinwohlorientierten Bereich gefördert und durch natürliche oder juristische Personen oder Personengesellschaften durchgeführt werden, ist sicherzustellen, dass die durch die begleitende Betreuung und Anleitung entstehenden Aufwendungen im erforderlichen Umfang finanziert werden können. Das ist Voraussetzung für eine hohe Qualität der Förderung nach § 16e SGB II und damit für den Aktivierungserfolg der Maßnahmen.
Um ihre Aufgabe als Baustein im Rahmen einer individuellen Integrationsstrategie wirksam erfüllen zu können, braucht die Förderung von Arbeitsverhältnissen nach § 16e SGB II eine langfristig gesicherte stabile finanzielle Basis. Durch die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen öffentlich geförderten Beschäftigung werden Einsparungen bei passiven Leistungen im Zuständigkeitsbereich des Bundes erzielt. Es ist zu ermöglichen, dass diese Einsparungen zusätzlich zu den Mitteln des Eingliederungsbudgets zur Finanzierung von Beschäftigungsverhältnissen nach § 16e SGB II eingesetzt werden können. Die Aktivierung passiver Leistungen sollte dabei höchstens im Umfang der dafür ebenfalls eingesetzten Eingliederungsmittel erfolgen.
- gg) Die bisherige Regelung zum Vermittlungsgutschein hat sich nicht bewährt. Durch die Neuregelung der Vergütungsraten im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 27. Mai 2011 wurde ein zusätzlicher Anreiz geschaffen, verstärkt in länger andauernde Beschäftigungsverhältnisse zu vermitteln. Die Neuregelung der Fristen innerhalb derer ein Rechtsanspruch auf einen Vermittlungsgutschein geltend gemacht werden kann, könnte dazu beitragen, dass der Vermittlungsgutschein nicht mehr vor allem von Gruppen mit kürzeren Arbeitslosigkeitsdauern und besseren Arbeitsmarktchancen genutzt wird.
Das nunmehr vom Bundestag beschlossene Gesetz zielt allerdings auf eine unveränderte Übernahme der aktuellen Regelungen und ist wegen der negativen Erfahrungen abzulehnen. Anzustreben ist die Regelung, die die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf vom 27. Mai 2011 vorgesehen hatte.
- aa) Die Instrumente der Berufsausbildung sind insgesamt noch immer zu wenig auf das Ziel einer abgeschlossenen Berufsausbildung ausgerichtet. Lebenslanges Lernen ist bedingt durch den Strukturwandel und den globalen Wettbewerb unverzichtbar. Der deutsche Arbeitsmarkt wird immer mehr ein Arbeitsmarkt der Fachkräfte werden.
B
Im Wirtschaftsausschuss ist eine Empfehlung an das Plenum nicht zu Stande gekommen.