Bundesministerium für Gesundheit Berlin, den 16. Oktober 2008
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ersten Bürgermeister
Ole von Beust
Sehr geehrter Herr Präsident,
der Bundesrat hat am 15. Februar 2008 eine
- Entschließung zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen
verabschiedet (Drucksache 904/07(B) ).
Als Anlage übersende ich Ihnen die Stellungnahme der Bundesregierung zu dieser Entschließung.
Mit freundlichen Grüßen
Ulla Schmidt
Stellungnahme der Bundesregierung zu der Entschließung des Bundesrates zur Verbesserung von Maßnahmen gegen die Gefährdung des Kindeswohls
Bundesratsdrucksache 904/07(B)
Allgemeines
- 1. Die Bundesregierung verweist auf die Aussagen ihrer Stellungnahmen vom 21. November 2006 (BR-Drucksache 864/06 (PDF) ) zur Entschließung des Bundesrates für eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls, vom 3. April 2007 zu der Entschließung des Bundesrates zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen (BR-Drs. 240/07 (PDF) ) und vom 29. Mai 2007 zu der Entschließung des Bundesrates für eine Ausweitung und Qualifizierung der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls (BR-Drs. 374/07 (PDF) ).
- 2. Der Schutz der Kinder vor Misshandlung und Vernachlässigung ist der Bundesregierung ein prioritäres Anliegen. Daher wurden umfassende Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls unter anderem bei der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder vom 19. Dezember 2007 zwischen Bund und Ländern vereinbart und zwischenzeitlich bereits weitgehend umgesetzt bzw. entsprechende Rechtssetzungsverfahren eingeleitet. Hierzu zählen die Verabschiedung des Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls sowie die Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens zum Gesetz zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz - KiföG), das der Deutsche Bundestag am 26. September 2008 beschlossen hat.
- 3. Zur Bedeutung des Kinderuntersuchungsprogramms nach § 26 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bei Maßnahmen gegen Vernachlässigung und Misshandlung wird erneut darauf hingewiesen, dass die Untersuchungen auf die Früherkennung von Krankheiten ausgerichtet sind und für sich allein nicht geeignet sind, Gefährdungen im familiären Umfeld des Kindes zuverlässig zu erkennen oder zu verhindern. Vorrangig zur Verbesserung des Schutzes von Kindern vor Vernachlässigung und Misshandlung sind primär- und sekundärpräventive Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe und des öffentlichen Gesundheitsdienstes durch aufsuchende Hilfen und die gezielte Förderung von Risikofamilien.
- 4. Die Bundesregierung hat die in der Entschließung des Bundesrates zur Verbesserung von Maßnahmen gegen die Gefährdung des Kindeswohls genannten Anliegen der Länder in ihren Maßnahmen aufgegriffen.
Zu den Forderungen im Einzelnen
- 1. Das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls ist am 12. Juli 2008 in Kraft getreten (BGBl. I S. 1188). Auf dieser Grundlage werden die Familiengerichte zum Schutz gefährdeter Kinder frühzeitiger tätig werden können und die Eltern stärker als bisher zur Wahrnehmung ihrer Elternverantwortung angehalten werden können. Damit sind verbesserte Eingriffsmaßnahmen und beschleunigte familiengerichtliche Verfahren bei der Gefährdung des Kindeswohls möglich.
- 2. Die Krankenkassen sollen künftig verpflichtet werden, bei Maßnahmen zur Erhöhung der Inanspruchnahme der Kinderuntersuchungen mitzuwirken und diesbezügliche Rahmenvereinbarungen mit den Ländern abzuschließen. Eine entsprechende Regelung zur Ergänzung des § 26 SGB V befindet sich mit dem "Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung" (GKV-OrgWG) im Gesetzgebungsverfahren.
- 3. Das Anliegen, die Kinder-Richtlinien in Bezug auf spezifische Fragestellungen zur Erkennung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung weiter zu entwickeln, war Gegenstand der Beratungen des Gemeinsamen Bundesausschusses. Grundsätzlich enthalten die Kinder-Richtlinien bereits Untersuchungen auf Symptome wie ernsthafte Verletzungsfolgen, Hämatome, Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Da die Ursachen für derartige Befunde vielfältig sein können, sind oftmals jedoch keine verlässlichen Rückschlüsse möglich. Das Bundesministerium für Gesundheit hat den Gemeinsamen Bundesausschuss gebeten zu prüfen, inwieweit das Kinderuntersuchungsprogramm um spezielle Untersuchungen auf Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung ergänzt werden kann. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat am 13. September 2007 nach intensiver Auswertung der vorliegenden nationalen und internationalen Datenlage beschlossen, kein bevölkerungsbasiertes Screening zur Früherkennung von Kindesmisshandlung in die Kinder-Richtlinien aufzunehmen, da es derzeit keine standardisierten und validen Screening-Instrumente auf Kindesmisshandlung gebe und einem fraglichen Nutzen ein möglicherweise hohes Schadenspotential durch falsch positive Ergebnisse entgegen stehe. Das Bundesministerium für Gesundheit hat mit Schreiben vom 19. November 2007 den Gemeinsamen Bundesausschuss aufgefordert, die Thematik im Rahmen der weiteren Überarbeitung der Kinder-Richtlinien regelmäßig zu verfolgen, neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Früherkennung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung zu prüfen und gegebenenfalls das Kinderuntersuchungsprogramm zu ergänzen. Des Weiteren hat das Bundesministerium für Gesundheit dem Gemeinsamen Bundesausschuss zur Auflage gemacht, in die Kinder-Richtlinien einen Hinweis aufzunehmen, dass der untersuchende Arzt oder die Ärztin bei erkennbaren Zeichen einer Kindesvernachlässigung oder -misshandlung die notwendigen Schritte einzuleiten hat. Eine entsprechende Ergänzung der Kinder-Richtlinien ist am 16. April 2008 in Kraft getreten.
Auch die Überprüfung und Optimierung der Untersuchungsintervalle erfolgt bereits. Der Gemeinsame Bundesausschuss überarbeitet derzeit das Kinderuntersuchungsprogramm sukzessive sowohl im Hinblick auf die Inhalte als auch die Intervalle der einzelnen Untersuchungen und passt diese, soweit notwendig und sinnvoll, an. Zum 1. Juli 2008 wurde mit der U7a eine zusätzliche Untersuchung für Kinder im Alter von 3 Jahren eingeführt und damit die Untersuchungsdichte erhöht.
- 4. Die Kinderuntersuchungen sind ein in § 26 SGB V verankertes Angebot der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Gemeinsame Bundesausschuss legt in den Kinder-Richtlinien verbindlich die Zeiträume fest, innerhalb derer die Kinderuntersuchungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchzuführen sind. Neben den eigentlichen Untersuchungszeiträumen legt der Gemeinsame Bundesausschuss zusätzlich Toleranzintervalle fest, innerhalb derer die Untersuchungen ebenfalls noch von den Kassen erstattet werden. Die Entscheidung über eine Änderung der Untersuchungs- und der Toleranzintervalle obliegt dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Das Bundesministerium für Gesundheit hat den Gemeinsamen Bundesausschuss mit Schreiben vom 29. Juli 2008 über den diesbezüglichen Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz vom 2./3. Juli 2008 unterrichtet und um Stellungnahme gebeten. Der Gemeinsame Bundesausschuss stellt mit Schreiben vom 1. September 2008 klar, dass die Toleranzgrenzen dazu dienen, eine hohe Sensitivität und Spezifität der Früherkennungsuntersuchungen sicherzustellen, um Fehldiagnosen und Über-/Unterversorgung zu minimieren. Er konstatiert desweiteren, dass die Toleranzgrenzen eng auf die jeweiligen Untersuchungsinhalte abgestimmt sind und nicht dem Ziel untergeordnet werden dürfen, jederzeit eine U-Untersuchung verfügbar zu halten.