Der Bundesrat hat in seiner 817. Sitzung am 25. November 2005 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die Bestrebungen der EU, die Rückführung von illegalen Drittstaatangehörigen zu harmonisieren. Den gegenwärtigen Herausforderungen im Bereich der illegalen Einwanderung, die alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft berühren, kann angemessen nur durch eine gemeinsame und konsequente Rückkehrpolitik im europäischen Kontext begegnet werden.
- 2. Der Bundesrat begrüßt die Aussage der Kommission, dass eine wirkungsvolle Rückführungspolitik ein notwendiger Bestandteil einer durchdachten und glaubwürdigen Migrationspolitik ist. Er ist allerdings der Auffassung, dass der Richtlinieninhalt dieser Maßgabe in weiten Teilen nicht entspricht, sondern vielmehr geeignet ist, Rückführungsverfahren zu erschweren, zu verzögern, zu verkomplizieren oder gar unmöglich zu machen. Er überbetont einseitig die Interessen illegal aufhältiger Drittstaatangehöriger und kommt auch denen großzügig entgegen, die in der EU bereits mangelnde Rechtstreue unter Beweis gestellt haben.
- 3. Der Bundesrat bekräftigt seine Position, dass gemeinsame Normen nicht der primäre Ansatz sind, die Rückführungspolitik zu optimieren. Die diesbezüglichen Anstrengungen müssen vielmehr weiterhin auf eine Verstärkung der operationellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und mit den Herkunfts- und Transitregionen gerichtet sein (Bundesratsbeschlüsse vom 14. März 2003 und 26. September 2003 (BR-Drucksachen 139/03(Beschluss) und 139/03(Beschluss) (2)). Auch akuter Handlungsbedarf zum Schutz der Rechte Rückzuführender ist nicht erkennbar, da die bestehenden nationalen Regelungen insoweit hinreichend Rechte gewähren. Selbstverständlich beachten die Mitgliedstaaten die Rechte illegal aufhältiger Drittstaatangehöriger auf Grund der EMRK. Gleiches gilt für Grundrechte, wie sie in zahlreichen weiteren internationalen Vereinbarungen enthalten sind. Eine Notwendigkeit für zusätzliche Regelungen oder für die "Einführung" verfahrensrechtlicher Mindestgarantien zugunsten illegal Aufhältiger besteht darüber hinaus nicht.
- 4. Der Bundesrat unterstützt die kritische Bewertung des Richtlinienvorschlags durch die Bundesregierung bei der bisherigen Behandlung auf Gemeinschaftsebene und bittet sie, insbesondere und vorbehaltlich etwaiger künftiger Beschlussfassungen auf die Umsetzung folgender Positionen bei der weiteren Behandlung des Richtlinienvorschlags hinzuwirken:
Subsidiarität
- 5. Der Bundesrat weist darauf hin, dass nicht alle Regelungsbereiche des Richtlinienvorschlags dem Grundsatz der Subsidiarität des gemeinschaftlichen Handelns entsprechen.
Nach Auffassung des Bundesrates vermag der Richtlinienvorschlag nicht zu verdeutlichen, inwieweit eine wirkungsvolle Rückführungspolitik die vorgeschlagenen Regelungen auf Gemeinschaftsebene zwingend bedingt. So wird zwar etwa zu Recht festgestellt, dass in den Mitgliedstaaten das vorgeschlagene so genannte "harmonisierte zweistufige Verfahren" derzeit nicht verwirklicht ist. Eine Begründung für die Erforderlichkeit einer Angleichung der derzeit divergierenden Verfahrensweisen bleibt der Vorschlag jedoch schuldig. Hier und im weiteren Kontext ist die Kommission offenbar der irrigen Ansicht, es sei ihre Aufgabe, eine durchgängige Gleichbehandlung von Drittstaatangehörigen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.
Es ist insbesondere nicht erforderlich, dass die Abschiebungshaft (Artikel 14 und 15 des Richtlinienvorschlags) innerhalb der Gemeinschaft harmonisiert wird. Die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten tragen insbesondere den sich aus internationalen Verträgen ergebenden Haftanforderungen schon jetzt Rechnung. Ein positiver europäischer Mehrwert der Harmonisierung der Abschiebungshaft ist nicht zu erkennen. Nicht zu überzeugen vermag diesbezüglich, dass in der Begründung zu Kapitel IV erwähnt wird, dass mit der Harmonisierung der einzelstaatlichen Vorschriften über den vorläufigen Gewahrsam (Abschiebungshaft) Sekundärbewegungen illegal aufhältiger Personen verhindert werden sollen. Denn es erscheint lebensfremd, dass illegale Drittstaatangehörige ihren Aufenthaltsort in den Mitgliedstaaten nach den Bedingungen der Abschiebungshaft wählen.
- 6. Lediglich Artikel 9 und 16 des Richtlinienvorschlags entsprechen im Wesentlichen dem Subsidiaritätsprinzip, da ein EU-weites Wiedereinreiseverbot und die gegenseitige Anerkennung von Rückführungsentscheidungen Regelungen auf Gemeinschaftsebene erfordern, die vom Bundesrat begrüßt werden.
- 7. Der Bundesrat verweist bezüglich der Subsidiarität ergänzend auf seine Beschlüsse vom 14. März 2003 (BR-Drucksache 139/03(Beschluss) , vgl. Ziffer 3, 4. Spiegelstrich) und vom 26. September 2003 (BR-Drucksache 139/03(Beschluss) (2), vgl. Ziffer 1) zu der Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat und das Europäische Parlament über eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der illegalen Einwanderung (KOM (2001) 672 endg.).
Familiäre Bindungen und Wohl des Kindes (Artikel 5)
- 8. Nach Auffassung des Bundesrates bedürfen die in Artikel 5 enthaltenen Vorgaben keiner Aufnahme in den Richtlinienvorschlag, da sie weniger bei der Rückführung und Abschiebung illegal Aufhältiger als vielmehr bei der Entscheidung über die Beendigung eines erlaubten Aufenthalts oder über die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu berücksichtigen sind. Gründe und Verfahren im Hinblick auf die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts sind aber ausdrücklich nicht Gegenstand des Richtlinienvorschlags. Unabhängig davon erweckt Artikel 5 den Eindruck, die Mitgliedstaaten würden unter Verletzung internationaler Abkommen das Kindeswohl missachten. Für diese Annahme besteht kein Anlass. Rückführungsentscheidung (Artikel 6)
- 9. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, gegen jeden illegal aufhältigen Drittstaatangehörigen eine Rückführungsentscheidung zusätzlich zu einer Abschiebungsanordnung zu erlassen (Absatz 1 und 3), ist kontraproduktiv. Der Vorschlag versteht unter "Rückführungsentscheidung" die behördliche oder richterliche Entscheidung, mit der der illegale Aufenthalt eines Drittstaatangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird (Artikel 3 Buchstabe d). Eine solche Feststellung ist jedoch im Regelfall nicht erforderlich, da sich die Tatsache des illegalen Aufenthalts und die Ausreisepflicht bereits unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, nämlich dann, wenn der Ausländer den erforderlichen Titel nicht oder nicht mehr besitzt (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG). Der Titelverlust wiederum ist gesetzliche Folge eines bestimmten Ereignisses wie Ablauf der Geltungsdauer, Eintritt einer auflösenden Bedingung oder insbesondere Aufhebung des Titels und Ausweisung (vgl. § 51 Abs. 1 AufenthG). Die wiederholende Feststellung gesetzlicher Folgen ist unnötig, verkompliziert das Verfahren, provoziert weitere Rechtsschutzmöglichkeiten und führt damit zu Verfahrensverzögerungen.
Auch die Pflicht zur angemessenen Fristsetzung im Hinblick auf die freiwillige Ausreise (Absatz 2) begegnet erheblichen Bedenken. Grundsätzlich hat ein illegal aufhältiger Ausländer das Land unverzüglich zu verlassen (vgl. § 50 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Zur angemessenen Behandlung des Einzelfalls genügt es, wenn die Möglichkeit der Fristsetzung besteht.
In diesem Zusammenhang ist auch nicht nachvollziehbar, dass der Richtlinienvorschlag von der Fristsetzung nur absehen will, wenn "Fluchtgefahr" besteht, und nur in diesem Fall Überwachungsmaßnahmen vorsieht: bei Gefahren für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit können Überwachungsmaßnahmen ebenfalls veranlasst sein. Weiter ist es widersprüchlich, wenn einerseits bei "Fluchtgefahr" die Ausreise ohne Fristsetzung, also offenbar unverzüglich zu erfolgen hat, andererseits aber Überwachungsmaßnahmen auferlegt werden können, die wiederum von einem fortdauernden Aufenthalt ausgehen. Zudem muss bezweifelt werden, ob bei einem fortdauernden Aufenthalt die genannten Überwachungsmaßnahmen beispielsweise ein Untertauchen des Ausländers effektiv verhindern können.
Nach Absatz 4 darf in Fällen, in denen die Mitgliedstaaten Grundrechte beachten müssen, die sich insbesondere aus der EMRK ergeben, wie die Rechte auf Nichtzurückweisung, Bildung und Erhalt der Einheit der Familie, keine Rückführungsentscheidung erlassen werden bzw. ist eine solche zurückzunehmen. In der Folge würde dies Rückführungen in nicht akzeptabler Weise erschweren, zumal diese Grundrechte regelmäßig bereits bei der Entscheidung über die Beendigung des Aufenthalts bzw. die Erteilung eines Titels berücksichtigt werden.
Für die in Absatz 5 erwähnte Möglichkeit der Mitgliedstaaten, jederzeit Aufenthaltstitel an illegal aufhältige Drittstaatangehörige zu erteilen, besteht in einer Rückführungsrichtlinie keine Notwendigkeit. Da solche "Legalisierungen" jedoch im Hinblick auf die Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatangehörigen erhebliche Auswirkungen auch auf die übrigen Mitgliedstaaten haben können, sollten zumindest insoweit Informationspflichten gefordert werden, etwa im Verfahren zur gegenseitigen Information über asyl- und einwanderungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (s. Vorschlag der Kommission vom 10. Oktober 2005 über eine entsprechende Entscheidung des Rates, KOM (2005) 480 endg., Ratsdok. 13215/05 (BR-Drucksache 765/05 (PDF) )).
Absatz 7 widerspricht dem Grundsatz, dass Rechtsmittel gegen die Ablehnung eines Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels keine aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Es besteht keine Veranlassung, bei illegal aufhältigen Drittstaatangehörigen zwingend von Rückführungsmaßnahmen nur im Hinblick darauf abzusehen, dass sie nunmehr Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels stellen.
Abschiebungsanordnung (Artikel 7)
- 10. Der Erlass einer Abschiebungsanordnung im Sinne einer "Entscheidung, mit der die Abschiebung angeordnet wird" (Artikel 3 Buchstabe f) ist überflüssig, eine Abschiebungsandrohung genügt regelmäßig (vgl. § 59 Abs. 1 AufenthG). Die Befugnis zur Abschiebung ergibt sich im Wesentlichen als gesetzliche Folge einer vollziehbaren aber freiwillig nicht erfüllten Ausreisepflicht. Abschiebungsmaßnahmen dürfen nicht durch rechtsmittelbegründende begleitende weitere Verwaltungsakte erschwert und verkompliziert werden. Im Übrigen greifen auch die in dem Richtlinienvorschlag enthaltenen Abschiebungsgründe ("Fluchtgefahr" bzw. keine fristgerechte freiwillige Ausreise) viel zu kurz. Vielmehr sollte der in § 58 Abs. 3 AufenthG normierte Katalog von Abschiebungsgründen erhalten bleiben.
Zudem ist nicht akzeptabel, dass nach Absatz 2 in der Abschiebungsanordnung nochmals zwingend eine Frist, hier für die Vollstreckung der Abschiebung, anzugeben ist, nachdem die Abschiebungsanordnung nur für den Fall der Fluchtgefahr oder der nicht freiwilligen Ausreise innerhalb der nach Artikel 6 Abs. 2 eingeräumten Frist erlassen wird.
Im Übrigen ist der Begriff "Abschiebungsanordnung" in § 58a AufenthG und § 34a AsylVfG bereits national belegt.
In der Konsequenz ist auch Artikel 3 Buchstabe f überflüssig. Vertagung (Artikel 8)
- 11. Die in Absatz 2 enumerativ aufgezählten "Vertagungsgründe" werden einerseits den vielgestaltigen Lebenssachverhalten nicht gerecht und decken nur ein kleines Spektrum der rechtlichen oder tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung eines Ausländers ab (vgl. § 60a Abs. 2 AufenthG). Andererseits sind einige der genannten Vertagungsgründe viel zu unbestimmt und zu weit formuliert. Es sollte deshalb bei der Formulierung des Absatzes 1 sein Bewenden haben, da es sich stets um Beurteilungen im Rahmen des jeweiligen Einzelfalls handelt.
In Absatz 3 soll nicht auf Fluchtgefahr abgestellt werden, da die dort genannten Überwachungsmaßnahmen auf geduldete Ausländer ganz allgemein anwendbar sein sollten.
Wiedereinreiseverbot (Artikel 9)
- 12. Es besteht keine Veranlassung, Ausländer, die bereits wegen der Verletzung gesetzlicher Verpflichtungen abgeschoben werden mussten und somit mangelnde Rechtstreue unter Beweis gestellt haben, zu privilegieren und das Wiedereinreiseverbot von vornherein zeitlich auf grundsätzlich maximal fünf Jahre zu befristen. Sachgerecht ist es vielmehr, abgeschobenen Ausländern die Einreise und den Aufenthalt zunächst grundsätzlich unbefristet zu untersagen und diese Wirkungen lediglich auf Antrag unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu befristen (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG). Andernfalls würde der spezial- und generalpräventive Effekt, der mit Ausweisung und Abschiebung verwirklicht werden soll, erheblich beeinträchtigt. In der Konsequenz ist der Hinweis in Artikel 3 Buchstabe g auf einen bestimmten Zeitraum überflüssig.
Ferner besteht keine Veranlassung für eine Regelung nach Absatz 3 über die Rücknahme des Wiedereinreiseverbots. Im Rahmen der Befristungsentscheidung kann der Interessenlage der Beteiligten ausreichend Rechnung getragen werden.
Abschiebung (Artikel 10)
- 13. Absatz 1 ist überflüssig, da er Selbstverständliches enthält, nämlich die Pflicht zur Beachtung von Grundrechten bei Abschiebungsmaßnahmen, und gleichzeitig den Eindruck erweckt, die Mitgliedstaaten würden diesen Standard verletzen und müssten daher speziell zu seiner Beachtung verpflichtet werden.
Form und Rechtsbehelfe (Artikel 11 und 12)
- 14. Diese Artikel verdeutlichen die von dem Richtlinienvorschlag zu erwartenden Verfahrensverzögerungen: Die überflüssigen Rückführungsentscheidungen und Abschiebungsanordnungen müssen umfänglich schriftlich begründet und ggf. übersetzt werden und ermöglichen zusätzlich noch Rechtsschutzmöglichkeiten mit zwingend aufschiebender Wirkung bis zur Verfahrensbeendigung auch im Eilverfahren.
Die in Artikel 12 Abs. 1 des Richtlinienvorschlags vorgesehene Alternative eines "wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelfs" einerseits und der "gerichtlichen Überprüfung" andererseits ist nach deutschem Rechtsverständnis sinnlos. Jeder gerichtliche Rechtsbehelf führt nach hiesigem Verständnis auch zu einer gerichtlichen Überprüfung. Dieser Absatz bedarf der sprachlichen Klärung, da auch die französische wie die englische Sprachfassung der Richtlinie untereinander und jeweils von der deutschen Fassung abweichen.
Artikel 12 Abs. 2 des Richtlinienvorschlags ist missverständlich formuliert. In der zweiten Fallgruppe darf nicht schon die bloße Antragstellung bei Gericht auf Aussetzung der Rückführungsentscheidung oder der Abschiebungsentscheidung zu der Anordnung/Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung führen. Vielmehr bedarf es dazu eines Beschlusses des Gerichts (vgl. § 80 Abs. 5 VwGO).
Bezüglich des in Artikel 12 Abs. 3 Satz 2 des Richtlinienvorschlags normierten Rechts auf Prozesskostenhilfe sollte klargestellt werden, dass die Gewährung von Prozesskostenhilfe von den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs abhängig gemacht werden kann; insbesondere die rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme der Gerichte muss zum Ausschluss der Prozesskostenhilfe führen können. Die Kriterien sollten mit den Regelungen der Richtlinie 2003/8/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug durch Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe in derartigen Streitsachen (ABl. L 26 vom 31. Januar 2003) übereinstimmen.
Diese rückführungsverzögernden Maßgaben und Optionen sind nicht geeignet, die Glaubwürdigkeit der EU in der Rückführungspolitik zu stärken.
Vorläufige Gewahrsamnahme und Bedingungen des vorläufigen Gewahrsams (Artikel 14 und 15)
- 15. Die in Artikel 14 Abs. 1 vorgesehene Möglichkeit der vorläufigen Gewahrsamnahme darf nicht zwingend davon abhängig gemacht werden, dass andere Maßnahmen wie regelmäßiges Vorstelligwerden bei den Behörden, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit, das Einreichen von Papieren, die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, oder sonstige Maßnahmen zur Vermeidung von Gefahren nicht ausreichend sind. Diese Maßnahmen sind nur Prüf- und Entscheidungskriterien im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Weiter ist der Richtlinienvorschlag insoweit zu restriktiv gefasst, als zwingende Voraussetzung für die vorläufige Gewahrsamnahme Fluchtgefahr ist, andere Gründe die Anordnung des Gewahrsams also überhaupt nicht rechtfertigen können. Diese Einschränkungen würden das Instrumentarium der Abschiebungshaft entscheidend schwächen. Stattdessen sollte vielmehr der in § 62 Abs. 2 AufenthG enthaltene Katalog von Abschiebungshaftgründen auch europarechtlich verankert werden.
Artikel 14 Abs. 2 Unterabs. 1 und Abs. 3 des Richtlinienvorschlags sollte dahin gehend geändert werden, dass die Anordnung, die Bestätigung und die Verlängerung des vorläufigen Gewahrsams statt "von einer Justizbehörde" durch eine "richterliche Anordnung" erfolgt.
Die in Artikel 14 Abs. 2 Unterabs. 2 des Richtlinienvorschlags vorgesehene monatliche Haftprüfung erscheint unangemessen häufig und wird die Gerichte unnötig belasten. Die vorzugswürdige deutsche Regelung befristet die Dauer der Abschiebungshaftanordnung auf sechs Monate, die nur unter zusätzlichen Tatbestandsvoraussetzungen verlängert werden kann, und gewährt dem Gefangenen jederzeit ein Antragsrecht auf Überprüfung der Haftvoraussetzungen.
Eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung der Abschiebungshaft auf sechs Monate (Artikel 14 Abs. 3) ist angesichts der bekannten Rückführungsschwierigkeiten zu kurz. Letztlich ergibt sich die Dauer aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In der Praxis ist die Abschiebungshaft ein letztes Mittel, um die Ausreise Ausreisepflichtiger sicherzustellen. Sie ist in der weit überwiegenden Zahl der Fälle auf wenige Tage oder Wochen beschränkt. Soweit diese Zeiten überschritten werden, haben die Abschiebegefangenen dies regelmäßig selbst zu vertreten (z.B. aufgrund falscher Angaben über Identität oder Staatsangehörigkeit). Für diese Fälle sieht § 62 Abs. 3 AufenthG z.B. eine Haftdauer von bis zu 18 Monaten vor.
- 16. Artikel 15 des Richtlinienvorschlags ist unabhängig von der fehlenden Regelungskompetenz der Gemeinschaft insgesamt verfehlt. Er regelt einerseits Selbstverständlichkeiten wie die Beachtung von internationalem Recht und Völkerrecht sowie die Beachtung der Grundrechte, andererseits ist die Vorschrift sprachlich ungenau gefasst. In der gegenwärtigen Fassung führt sie zu erheblichen Kostensteigerungen des Abschiebungshaftvollzugs in den Mitgliedstaaten, ohne dass ein adäquater europäischer Mehrwert zu erwarten wäre.
In Artikel 15 Abs. 2 des Richtlinienvorschlags wird zwischen Gewahrsamseinrichtungen und Haftanstalten differenziert, ohne dass die Unterscheidung präzisiert wird. Die ständige räumliche Trennung von anderen Haftinsassen erscheint unverhältnismäßig und kostenintensiv und sollte zu Gunsten einer Vorschrift ersetzt werden, wonach Abschiebungsgefangene nicht mit Straf- oder Untersuchungsgefangenen im gemeinsamen Haftraum untergebracht werden dürfen. Die gemeinsame Nutzung etwa von Freizeiteinrichtungen, Hofgängen oder Anstaltsärzten sollte aber möglich sein.
Die in Artikel 15 Abs. 2 Unterabs. 2 Satz 2 des Richtlinienvorschlags vorgesehene Trennung unbegleiteter Minderjähriger von Erwachsenen sollte ebenfalls nur für die Unterbringung im Haftraum gelten.
In Artikel 15 Abs. 3 des Richtlinienvorschlags ist das Besuchsrecht auf "einschlägig tätige internationale und Nichtregierungsorganisationen" zu beschränken. Die Formulierungen in Absatz 1 und 3 sollten sich entsprechen.
Anstelle des Genehmigungserfordernisses von Artikel 15 Abs. 3 Satz 2 des Richtlinienvorschlags sollte klargestellt werden, dass die genannten Organisationen durch diese Vorschrift keinen weiteren Rechtsanspruch auf Durchführung von Besuchen über die sich aus internationalen oder völkerrechtlichen Abkommen ergebenden hinaus erhalten.
Ergreifung in anderen Mitgliedstaaten (Artikel 16)
- 17. Die im Richtlinienvorschlag ermöglichte gegenseitige Anerkennung von Rückführungsentscheidungen unter den Mitgliedstaaten ist grundsätzlich zweckmäßig. Für die wirksame tatsächliche Umsetzung entscheidend ist aber ein ausreichender Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über das Vorliegen, die Inhalte und Verbindlichkeit solcher Rückführungsentscheidungen (s. auch 15. Erwägungsgrund).
Defizite des Richtlinienvorschlags
- 18. Der Richtlinienvorschlag enthält in Kontrast zu den sonstigen Bemühungen der EU bei der Bekämpfung des Terrorismus keinerlei spezielle Regelungen zur Rückführung und Abschiebung von Angehörigen und Unterstützern des internationalen Terrorismus (z.B. Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG, Sicherungshaft). In diesem Bereich wäre es aber dringend erforderlich, erleichterte Voraussetzungen für die Abschiebung zu schaffen. Soweit die Kommission zur Begründung darauf hinweist, dass Ausländern, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, der Aufenthaltstitel entzogen werden kann, geht dies fehl, weil Gegenstand des Richtlinienvorschlags ausdrücklich nicht Gründe und Verfahren für die Beendigung des rechtmäßigen Aufenthalts sind. Der Hinweis darauf, dass es im Einzelfall opportun sein kann, einen mutmaßlichen Terroristen nicht auszuweisen, beschreibt lediglich eine Selbstverständlichkeit und ist kein Argument gegen spezielle harmonisierte Abschiebungsverfahren.