874. Sitzung des Bundesrates am 24. September 2010
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz (AV), der Finanzausschuss (Fz) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die mit der Mitteilung der Kommission verfolgte Zielsetzung der Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung. Es gilt, aus der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise die erforderlichen Lehren zu ziehen.
- 2. Der Bundesrat verweist [in diesem Kontext] auf seine Stellungnahme zur Mitteilung der Kommission zur Verstärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung vom 9. Juli 2010 (BR-Drucksache 313/10(B) ).
- 3. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission darin überein, dass nicht nur konkrete Vorschläge für eine stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung entwickelt, sondern auch wirksame Durchsetzungsmechanismen festgelegt werden müssen und eine engere wirtschaftspolitische Koordinierung von Nöten ist, wie sie in dem von ihr so genannten "Europäischen Semester" vorgeschlagen wird.
- 4. Insbesondere ist der Bundesrat der Auffassung, dass Mitgliedstaaten der Euro-Zone, die wiederholt übermäßige Haushaltsdefizite aufweisen, einem automatischen und beschleunigten Defizitverfahren unterworfen werden.
- 5. Auf Seite 3 der Mitteilung geht die Kommission davon aus, dass "die präsentierten Vorschläge an alle 27 Mitgliedstaaten gerichtet sind, auch wenn einige Vorschläge - zumindest teilweise - lediglich auf die Mitglieder des Euroraums abzielen". Diese Aussage ist zu pauschal. Die Kommission sollte vielmehr klare Aussagen darüber treffen, welche Maßnahmen für alle Mitgliedstaaten und welche konkreten Maßnahmen nur für die Mitglieder des Euroraumes gelten. Als notwendig wird auf jeden Fall die Anwendung der Maßnahmen für die Mitglieder des Euroraums auch schon im Vorfeld der Aufnahme eines Mitgliedstaates in die Europäische Währungsunion angesehen.
- 6. Die Kommission ist der Auffassung, dass das Entstehen großer makroökonomischer Ungleichgewichte, die sich u.a. in erheblichen und fortdauernden Diskrepanzen bei der Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit widerspiegeln, sich im Verlauf der Krise für die EU und insbesondere für den Euro als höchst schädlich erwiesen haben.
- 7. Der Bundesrat vermisst aber nach wie vor die Klarstellung, dass der Abbau der Ungleichgewichte nicht über eine Schwächung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Überschussländer gehen kann (BR-Drucksache 267/10(B) , Ziffer 15).
- 8. Es kann nicht das Rezept sein, dass Länder mit anhaltend hohen Überschüssen die eigene Wettbewerbsfähigkeit verringern.
- 9. Der Bundesrat sieht es beim vorgeschlagenen Warnmechanismus daher als äußerst kritisch an, dass neben einer Unterschreitung auch eine Überschreitung bestimmter Schwellen bei den Wettbewerbsindikatoren zu weiteren Analysen führt.
- 10. Darüber hinaus ist aus Sicht des Bundesrates auch die Durchschnittsbildung über die EU-Mitgliedstaaten bei der Bestimmung der vorgeschlagenen Warnschwellen zu kritisieren. Die europäische Politik darf sich nicht nur am europäischen Durchschnitt, sondern muss sich auch an den internationalen Wettbewerbern orientieren. Nur dann führt die Vertiefung der europäischen Integration zu einem Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger Europas. Der Bundesrat vermisst daher bei der Bestimmung der Warnschwellen für die Indikatoren den direkten Vergleich mit den internationalen Wettbewerbern wie den USA, China oder Indien. Das Ziel, eine der wettbewerbsfähigsten Regionen der Welt zu werden, darf nicht aufgegeben werden.
- 11. Die Kommission kündigt an, je nach Art der in einem Mitgliedstaat festgestellten Ungleichgewichte Empfehlungen oder auch direkt eine Warnung auszusprechen. Dies soll auch auf dem Gebiet der Lohn- und Arbeitsmarktpolitik erfolgen. Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, Reformen auf den Arbeitsmärkten oder im Bereich der sozialen Sicherungssysteme einzuleiten. Darüber hinaus stellt der Bundesrat klar, dass die Lohnfindung in Deutschland in der Autonomie der Tarifpartner liegt (BR-Drucksache 267/10(B) , Ziffern 15 bis 17).
- 12. Der Bundesrat teilt den Ansatz der Kommission für eine stärkere Konzentration auf die Schulden- und Nachhaltigkeitsproblematik im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sowie die Festlegung wirksamer Sanktionen. Angesichts der hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte in einigen Mitgliedstaaten sollte eine europäische Schuldenbremse verbindlich eingeführt werden. Sie würde nicht zu hohe Schulden bestrafen, sondern schon im Vorfeld verhindern, dass Staaten sich überhaupt zu hoch verschulden können. Als Vorbild könnte die im Grundgesetz verankerte Regel dienen.
- 13. Darüber hinaus wendet sich der Bundesrat gegen alle Bestrebungen, durch eine Änderung der Berechnungsmethoden für das staatliche Haushaltsdefizit in der EU den Stabilitätspakt aufzuweichen.
- 14. Um die "Nobail-out"-Regel zu stärken, sollte auf EU-Ebene eine Insolvenzordnung für überschuldete Mitgliedstaaten geschaffen werden. Diese Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren sollen Rechts- und Verfahrenssicherheit schaffen, systemische Risiken vermeiden und in jedem einzelnen Fall die Beteiligung der Gläubiger regeln. Ziel des Insolvenzverfahrens sollte dabei aber nicht sein, dass sich überschuldete Mitgliedstaaten lästiger Schulden entledigen. Sie sollten vielmehr verpflichtet werden, ein Sanierungskonzept mit Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen umzusetzen, das die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen wiederherstellt.
- 15. In der jüngsten Vergangenheit wurde deutlich, dass die bestehenden finanziellen Sanktionen des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu einer unzureichenden Haushaltsdisziplin einiger Mitgliedstaaten führten. Deshalb bittet der Bundesrat die Kommission zu prüfen, ob neben finanziellen Sanktionen auch nichtfinanzielle Sanktionen Anwendung finden können.
- 16. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, hinsichtlich der korrektiven Komponente bei der Kommission darauf hinzuwirken, dass ordnungsgemäß ausbezahlte EU-Mittel unberührt von möglichen Sanktionsmaßnahmen im Zuge der allgemeinen wirtschaftspolitischen Überwachung (Stabilitäts- und Wachstumspakt) den Mitgliedstaaten bzw. Regionen in jedem Falle erstattet werden.
Die Mitteilung der Kommission sieht im Rahmen der "korrektiven Komponente" unter Ziffer 4, Seite 11 f. u.a. vor, auch ordnungsgemäß ausbezahlte EU-Mittel nicht zu erstatten. Dies ist abzulehnen, da eine solche Maßnahme in jedem Fall unsachgemäße und in der Regel auch den gemeinsamen Fachzielen der EU entgegengesetzte Folgen haben würde.
Ein derartiges Junktim ohne kausalen Bezug erscheint nicht vertretbar (Vertrauensschutz) und birgt auch erhebliche haushalterische Risiken. Sobald die Vorschusszahlungen der EU aufgebraucht sind, gehen die Landeshaushalte in Vorleistung. Bei einem Junktim wäre die Erstattung nicht mehr planbar.
- 17. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, dass bei zukünftigen Beitrittsanträgen zur Euro-Zone ein längeres [bzw. intensiveres] Monitoringverfahren durchgeführt wird, in dem der Kandidat beweist, dass er in der Lage ist, eine dauerhaft stabilitätsorientierte Haushaltspolitik zu führen, und dass er über wettbewerbsfähige Wirtschaftsstrukturen verfügt. Die Tür zur Euro-Zone muss aber allen Mitgliedstaaten grundsätzlich offen stehen.
- 18. Die Erfahrungen aus der Finanz- und Wirtschaftskrise zeigen aber auch, dass neben der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte auch im Bankenwesen gesamteuropäische Regelungen getroffen werden müssen. Dabei kommt der Errichtung einer europäischen Ratingagentur eine zentrale Bedeutung zu, die in der Lage wäre, eine gemeinsame europaweite Risikoabschätzung vorzunehmen. Der Markt für Ratings wird im Wesentlichen durch die drei Agenturen beherrscht. Ein stärkerer internationaler Wettbewerb und damit das Aufbrechen der Oligopole der Agenturen auf dem Rating-Markt müssen angestrebt werden.
- 19. Die europäische Ratingagentur sollte privatwirtschaftlich organisiert und politisch unabhängig sein.
- 20. Die Kommission wird aufgefordert, die Überlegungen zum Aufbau einer europäischen Ratingagentur weiter voranzutreiben.
- 21. Der Bundesrat behält sich vor, zu den angekündigten Rechtsetzungsakten Stellung zu nehmen, sobald entsprechende Vorschläge der Kommission vorliegen.
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- 22. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß § § 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.