COM (2018) 329 final; Ratsdok. 9462/18
Der Bundesrat hat in seiner 970. Sitzung am 21. September 2018 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat nimmt die nunmehr vorgelegten technischen Maßnahmen für die Anwendung des endgültigen Mehrwertsteuersystems für die Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten zur Kenntnis. Den nachstehenden Ausführungen wird im Hinblick auf die Bedeutung eines funktionierenden, betrugssicheren endgültigen Mehrwertsteuersystems hohe Bedeutung beigemessen.
- 2. Durch das von der Kommission vorgeschlagene endgültige Mehrwertsteuersystem sieht der Bundesrat einen deutlichen Zuwachs an Betrugspotential. Insbesondere sieht er die Gefahr, dass bei Lieferungen an nicht zertifizierte Steuerpflichtige der Vorsteuerabzug im Bestimmungsland unabhängig von der Steuerentrichtung des Lieferers gewährt wird, was von kriminellen Vereinigungen zur Erschleichung von Vorsteuern genutzt werden könnte. Er ist daher sehr skeptisch, ob der von der Kommission prognostizierte Rückgang des grenzüberschreitenden Umsatzsteuerbetrugs von jährlich 41 Milliarden Euro realisierbar ist.
- 3. Der Bundesrat hält es außerdem im Hinblick auf die Besteuerungspraxis für problematisch, dass abhängig von der Zertifizierung des Steuerpflichtigen für innergemeinschaftliche Lieferungen künftig dauerhaft zwei Parallelsysteme nebeneinander anzuwenden sind.
- 4. In dem jetzt vorgelegten Vorschlag der Kommission entspricht die Definition des zertifizierten Steuerpflichtigen ("certified taxable person", CTP) in Artikel 13a des Richtlinienvorschlags unter Berücksichtigung marginaler Änderungen der am 4. Oktober 2017 (vergleiche BR-Drucksache 660/17 (PDF) ) vorgelegten Fassung. Die vom Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 15. Dezember 2017 geäußerten Bedenken (BR-Drucksache 661/17(B) , Ziffer 3) bleiben daher bestehen. Die Voraussetzungen zur Erteilung des Status eines zertifizierten Steuerpflichtigen dürfen sich nicht auf unbestimmte Rechtsbegriffe stützen. Sie müssen nachvollziehbar, prüfbar und insgesamt praktikabel sein. Auch die (gesetzlichen) Vertreter eines zertifizierten Steuerpflichtigen müssen die Voraussetzungen erfüllen. Aufgrund des für CTP vorgesehenen "Reverse-Charge-Verfahrens" ist zu befürchten, dass betrügerische Karussell- und Kettengeschäfte im Bestimmungsland ermöglicht sowie "Schwarzgeschäfte" lukrativ werden können, wenn keine flankierenden Nachweisvoraussetzungen zu Artikel 13a des Richtlinienvorschlags geschaffen werden.
- 5. In den Erläuterungen der Kommission zu dem jetzt vorgelegten Legislativvorschlag wird ausgeführt, dass auch der Vorschlag der Kommission in Bezug auf die Sonderregelung für Kleinunternehmen (vergleiche BR-Drucksache 018/18 (PDF) ) im Lichte des vorliegenden Vorschlags technische Aktualisierungen erfordert. Zur Vermeidung von Unklarheiten sollen diese Änderungen in den Verhandlungen des Rates behandelt werden. Die in seiner Stellungnahme vom 2. März 2018 geäußerte deutliche Kritik des Bundesrates (BR-Drucksache 018/18(B) , Ziffern 4 und 5) ist daher auch für diesen Kommissionsvorschlag aufrechtzuerhalten.
- 6. Die Streichung von Artikel 94 Absatz 2 (Mehrwertsteuersystem-Richtlinie, Richtlinie 2006/112/EG - MwStSystRL) sollte unterbleiben. Denn die Regelung des Absatzes 2 dient der Sicherstellung, dass bei einer Einfuhr von Gegenständen grundsätzlich derselbe Steuersatz anzuwenden ist wie bei einer Lieferung innerhalb des Gebietes des Mitgliedstaates, und ist nach wie vor erforderlich.
- 7. Gemäß Artikel 199a MwStSystRL können die Mitgliedstaaten für bestimmte Leistungen bis zum 31. Dezember 2018 (vergleiche dazu auch den Vorschlag der Kommission vom 25. Mai 2018, COM (2018) 298 final,
wonach Artikel 199a MwStSystRL für Umsätze bis zum 30. Juni 2022 [Zeitpunkt des Inkrafttretens des hiesigen Vorschlags ist der 1. Juli 2022] verlängert werden soll) vorsehen, dass der Empfänger dieser Leistungen zum Steuerschuldner wird (sogenanntes Reverse-Charge-Verfahren). Eine Streichung dieser betrugsanfälligen Ausnahmetatbestände (Risikobranchen) vom "Reverse-Charge-Verfahren" wird vom Bundesrat mit großer Sorge betrachtet, auch wenn diese nach der Grundidee der Kommission systematisch konsequent erscheint. Auch hier befürchtet er, dass kriminelle Vereinigungen das neue endgültige System zur Erschleichung von Vorsteuern ausnutzen könnten. Aufgrund der schon bei Inlandsumsätzen schwierigen Kontrolle derartiger Sachverhalte und erst recht bei Lieferungen innerhalb der Union sollte den Mitgliedstaaten dieses Instrument der Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung nicht versagt werden. Die Regelung des "Reverse-Charge-Verfahrens" sollte auch bei nichtzertifizierten Leistungsempfängern beibehalten und die bestehende Regelung daher entsprechend fortgesetzt werden. Es ist aber zumindest eine dreijährige Fortführung aller vorhandenen "Reverse-Charge-Verfahren" bis 30. Juni 2025 vorzusehen. Während dieser Übergangszeit muss - auch um die Einführung des neuen Systems zu schützen - ein wirksames Instrument zur Betrugsbekämpfung verfügbar sein. Vor diesem Hintergrund sollte auch der Schnellreaktionsmechanismus nach Artikel 199b MwSt-SystRL ohne Einschränkung fortgeführt werden. - 8. Die Kommission beabsichtigt ferner, dass Lieferungen in der Union nicht mehr in die Zusammenfassende Meldung (ZM) aufgenommen werden sollen. Dieses Vorhaben lehnt der Bundesrat ab. Auch wenn der CTP per Definition als zuverlässig gilt, darf nicht verkannt werden, dass auch das System des CTP betrugsanfällig ist. Betrüger könnten sich - gerade im Massengeschäft der Umsatzsteuer - zertifizieren lassen und ihren begünstigenden CTP-Status für betrügerische Absichten verwenden. Insbesondere für solche Konstellationen, aber auch für Fälle, in denen der beantragte CTP-Status abgelehnt wird (vergleiche Artikel 13a Absatz 5 des Richtlinienvorschlags), muss die ZM aus Kontrollzwecken beibehalten werden. Die Beibehaltung der ZM hat für den Bundesrat eine hohe Priorität. Entsprechend wird auch Artikel 271 des Richtlinienvorschlags in der jetzigen Form abgelehnt und weiter die Notwendigkeit der Erörterung im Rat gesehen.
- 9. Nach den Plänen der Kommission soll auch ein grenzüberschreitender Vorsteuerabzug über den "One-Stop-Shop" (OSS) ermöglicht werden. Diese Möglichkeit könnte neue Formen des Umsatzsteuerbetrugs hervorbringen, bei denen die Betrüger nicht im Mitgliedstaat des Verbrauchs ansässig wären. Der Bundesrat hat bereits gefordert (vergleiche Stellungnahme vom 15. Dezember 2017, BR-Drucksache 661/17(B) , Ziffer 4), dass die Belange der aufkommensberechtigten Mitgliedstaaten insbesondere bei der Ausgestaltung der Prüfungs- und Mitwirkungsrechte im Falle der Einführung des OSS angemessen zu berücksichtigen sind. Der Bundesrat unterstreicht daher, dass eine allgemeine Akzeptanz des Systemwechsels voraussetzt, dass die Mitgliedstaaten nach einheitlichen Prüfungsgrundsätzen verfahren. Dies gilt sowohl für die Intensität als auch die Qualität der Prüfungen.
- 10. Mit dem Richtlinienvorschlag werden auch die Regelungen für Online-Marktplätze angepasst. Durch diese Anpassung darf der Fall der Lagerung von Waren im Inland vor Verkauf aus dem Tatbestand des Artikels 14a MwStSystRL nicht entfallen. Es dürfen auch keine Unsicherheiten entstehen, welche (Unternehmer-) Eigenschaft der Leistungsempfänger haben muss, damit die Vorschrift eingreift.
- 11. Mit der Systemumstellung erhöht sich der Verwaltungsaufwand. Denn anders als bisher wäre bei Lieferungen an einen nichtzertifizierten Steuerpflichtigen der liefernde Unternehmer Schuldner der Steuer im ausländischen Bestimmungsmitgliedstaat. Er müsste sich dementsprechend neu und intensiv mit den Besonderheiten des dort geltenden Umsatzsteuerrechts - zum Beispiel der jeweils geltenden Steuersätze - befassen. Bei Abweichungen von den angemeldeten Umsätzen bzw. Vorsteuern müsste sich der liefernde Unternehmer mit dem jeweiligen ausländischen Fiskus auseinandersetzen. Gerade für kleine Unternehmen könnte darin eine Erschwernis liegen. Neben dem immensen Verwaltungsaufwand hinsichtlich eines möglichen Zertifizierungsverfahrens von Steuerpflichten würde sich zusätzlicher Aufwand auch aus der Tatsache ergeben, dass der Fiskus es mit einer Vielzahl neuer, im Ausland ansässiger Steuerpflichtiger zu tun hätte. Das Nebeneinander von OSS und allgemeinem Besteuerungsverfahren sowie der Umstand, dass die nationale Steuerverwaltung keinen unmittelbaren Zugriff auf die im Ausland ansässigen Steuerschuldner hat, würden die Steueraufsicht und den Vollzug erheblich erschweren.
- 12. Der Bundesrat hält zum jetzigen Zeitpunkt eine Festlegung von konkreten Eckpunkten zur zukünftigen Besteuerung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten in Artikel 402 MwStSystRL für verfrüht, da die Kommission beabsichtigt, hierüber erst nach den Erfahrungen mit der Anwendung des endgültigen Mehrwertsteuersystems bei Lieferungen zu entscheiden.
- 13. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die vorstehenden Gesichtspunkte in den anstehenden Verhandlungen auf europäischer Ebene zu berücksichtigen.
- 14. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.