Der Bundesrat hat in seiner 979. Sitzung am 28. Juni 2019 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat teilt die von der Kommission in ihrer Mitteilung dargelegte Auffassung, dass die Rechtstaatlichkeit zu den zentralen Fundamenten der europäischen Integration gehört. Er begrüßt die mit der Mitteilung vorgenommene Bestandsaufnahme und sieht diese Stellungnahme als Beitrag zu der Debatte, die von der Kommission mit der Mitteilung angeregt werden soll.
- 2. Der Bundesrat betont, dass die in Artikel 2 EUV verankerten Werte der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte die Grundpfeiler der EU bilden und von den Mitgliedstaaten ebenso wie von den Organen der EU zu achten sind.
- 3. Wenn diese Werte durch Rechts- und Verfassungsänderungen und staatliche Maßnahmen oder Unterlassungen in einzelnen Mitgliedstaaten unter Druck geraten und diese grundlegenden Werte nicht mehr hinreichend geachtet werden, besteht die Gefahr, dass die Gemeinschaft erodiert.
- 4. Nach Auffassung des Bundesrates kommt der Rechtsstaatlichkeit dabei besondere Bedeutung zu. Die EU ist eine Gemeinschaft des Rechts. Die Achtung des Rechts ist die Grundlage für das Funktionieren und die Akzeptanz des europäischen Integrationsprojekts. Zum Rechtsstaatsprinzip gehören insbesondere die Bindung der öffentlichen Gewalt an Recht und Gesetz, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte und die Bekämpfung der Korruption. Die Unabhängigkeit der Gerichte in allen Mitgliedstaaten ist die Grundbedingung für das Funktionieren der EU. Jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger muss sich darauf verlassen können, dass diese Unabhängigkeit in allen Mitgliedstaaten gewahrt ist.
- 5. Der Bundesrat stimmt der Kommission zu, dass in allen Mitgliedstaaten der EU eine gemeinsame Kultur der Rechtsstaatlichkeit gefördert werden muss. Er unterstützt auch den damit verbundenen präventiven Ansatz, der auf frühe Erkennung von Fehlentwicklung sowie auf den Dialog zwischen den Mitgliedstaaten und den Institutionen setzt. Der Bundesrat anerkennt und unterstützt die Herausbildung des Rechtsstaatsbewusstseins durch eigene Maßnahmen in den Ländern. Zugleich könnte aus Sicht des Bundesrates eine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit auch durch eine EU-weite Kommunikationskampagne der Kommission erreicht werden. Eine solche sollte einerseits das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger für die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in einer Demokratie schärfen und andererseits erklären, was Rechtsstaatlichkeit bedeutet und wann diese gefährdet ist.
- 6. Der Bundesrat ist allerdings auch der Auffassung, dass es in einer Rechtsgemeinschaft erforderlich ist, schwerwiegende und anhaltende Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit zu sanktionieren. Ein Eingreifen der EU ist bei einer eindeutigen Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedstaaten erforderlich. Eine Verletzung der Unabhängigkeit der Gerichte kann die EU nicht akzeptieren.
Zu diesem Zweck sieht Artikel 7 EUV ein abgestuftes Verfahren vor, das bei Gefährdung der in Artikel 2 EUV genannten Werte zunächst versucht, im Dialog mit dem betreffenden Mitgliedstaat eine einvernehmliche Lösung des Konflikts zu erreichen.
- 7. Zugleich muss sichergestellt werden, dass Maßnahmen zur objektiven und unparteiischen Bewertung der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten auch methodisch glaubwürdig und verständlich sind. Nur so können sie die gewünschte breite Akzeptanz und Wirkung erreichen. Der Bundesrat stimmt insofern auch der besonderen Bedeutung eines fundierten Verständnisses der jeweiligen Justizsysteme zu, das die Kommission in ihrer Mitteilung hervorhebt.
- 8. Die gegenwärtig eingeleiteten Verfahren gemäß Artikel 7 EUV bestätigen die Notwendigkeit, einen Gradmesser für die Einhaltung der Werte des Artikels 2 EUV mit sachlichen Kriterien und Indikatoren zu haben. Der Bundesrat spricht sich vor diesem Hintergrund dafür aus, das Artikel-7-Verfahren durch einen neuen Mechanismus zu ergänzen, der dazu beitragen kann, die objektiven Grundlagen zur Vorbereitung und gegebenenfalls Rechtfertigung von Maßnahmen im Zusammenhang mit dem EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips und im Vorfeld des Artikel-7-Verfahrens zu stärken.
- 9. Er befürwortet zu diesem Zweck den von der Kommission in ihrer Mitteilung formulierten Gedanken, Rechtsstaatlichkeitsstandards durch regelmäßige Peer-Review-Verfahren in allen Mitgliedstaaten zu fördern. Er bittet die Bundesregierung um frühzeitige Information über ihre Planungen und eine enge Einbeziehung der Länder bei der Erarbeitung des Peer-Review-Verfahrens.
- 10. Der Bundesrat begrüßt den von der Kommission vorlegten Vorschlag zum Schutz des Haushalts der Union im Fall von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip. Der Bundesrat erinnert in diesem Zusammenhang an seine Anregung einer stärkeren Verknüpfung von Missständen und Sanktionierung durch klar gefasste Tatbestandsmerkmale. Hierzu gehört die Kooperationsbereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Behörden der EU, zum Beispiel dem Amt für Korruptionsbekämpfung OLAF (Stellungnahme des Bundesrates vom 12. April 2019, BR-Drucksache 167/18 (PDF) (Beschluss (2)).
- 11. Der Bundesrat weist darauf hin, dass OLAF zwar über eine vollständige Unabhängigkeit verfügt, aber keine Möglichkeit hat, Straf- oder Disziplinarverfahren einzuleiten. Die Ermittlungsberichte werden den Justizbehörden der Mitgliedstaaten überreicht, denen die Einleitung entsprechender Verfahren obliegt.
Durch die Knüpfung von EU-Mitteln an die Zusammenarbeit mit OLAF könnte ein direkter Zusammenhang zwischen Mangel und Sanktion hergestellt werden. Die jeweils in Rede stehenden europäischen Mittel bzw. ein äquivalenter Beitrag würden solange eingefroren, bis es eine ausreichende Kooperation gibt.
- 12. Der Bundesrat weist darauf hin, dass auch die EU-Beitrittskandidaten den Umgang der Union mit Rechtsverstößen beobachten. Er erinnert daran, dass die Kopenhagener Kriterien für den Beitritt zur EU unter anderem vorsehen, dass der Beitrittskandidat über eine rechtsstaatliche Ordnung verfügen muss und die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und der Schutz von Minderheiten im betroffenen Staat zu garantieren sind. Der heutige Umgang der Union mit Rechtsverstößen setzt für die Zukunft Standards für Beitrittskandidaten und alle Mitgliedstaaten.
- 13. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.