COM (2019) 22 final
976. Sitzung des Bundesrates am 12. April 2019
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik (AIS), der Finanzausschuss (Fz) und der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (U) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
Allgemeines
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Vorlage des Reflexionspapiers [zur Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (VN), den sogenannten 17 Zielen für eine bessere Welt], ferner den ausführlichen und kohärenten Ansatz der Analyse sowie die aufgezeigten Handlungserfordernisse, differenziert nach den verschiedenen Umsetzungsebenen.
- 2. Damit wird der Weg zu einer übergreifenden europäischen Umsetzungsstrategie für eine nachhaltige Entwicklung in der EU geebnet.
- 3. Der Bundesrat begrüßt insbesondere die von der Kommission mit dem Reflexionspapier angestoßene Debatte darüber, wie die EU und die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nachkommen können, die aus Artikel 3 Absatz 3 EUV und aus der Agenda 2030 erwachsen. Er unterstützt dabei insbesondere die Entwicklung einer auf die Nachhaltigkeitsziele der VN (Sustainable Development Goals (SDGs)) ausgerichteten Gesamtstrategie der EU und ihrer Mitgliedstaaten, um eine gerechte Nachhaltigkeitswende zu erreichen.
- 4. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Kommission, dass ein entschlossenes, deutlich verstärktes Engagement auf allen Ebenen erforderlich ist, um der Weltgemeinschaft eine nachhaltige Zukunft sichern und die SDGs bis 2030 und darüber hinaus verwirklichen zu können. Der Bundesrat stimmt der Kommission zu, dass Maßnahmen zur Förderung der Nachhaltigkeit zwar eine europäische Dimension erfordern, aber letztlich nur ein globaler Ansatz tatsächlich erfolgversprechend ist.
- 5. Der Bundesrat stellt fest, dass die 17 SDGs sämtliche gesellschaftlichen Bereiche sowie das interne als auch das auswärtige Handeln der EU umfassen.
- 6. Die Strategie Europa 2020, die zu einem intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstum führen sollte, läuft im kommenden Jahr aus. Daher ist aus Sicht des Bundesrates die zeitnahe Festlegung einer langfristigen Nachhaltigkeitsstrategie für die EU dringend erforderlich.
- 7. Der Bundesrat verweist darauf, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten sich verpflichtet haben, alle SDGs und alle Zielvorgaben vollständig umzusetzen. Er hat sich bereits deutlich für einen europäischen Nachhaltigkeitsrahmen, für die Festlegung von ambitionierten strategischen Zielen zur Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele bis zum Jahr 2030, für die Vereinbarung eines Indikatorensystems und für einen wirksamen Umsetzungsmechanismus ausgesprochen (Stellungnahmen des Bundesrates vom 10. Februar 2017 (BR-Drucksache 701/16(B) ) und vom 12. Mai 2017 (BR-Drucksache 015/17(B) )).
- 8. Der Bundesrat betont, dass die Umsetzungsstrategie, damit sie bis 2030 erfolgreich ist, neben den europäischen Mitgliedstaaten insbesondere mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften sowie der Zivilgesellschaft entwickelt und umgesetzt werden sollte.
- 9. Der Bundesrat betont ferner, dass die gemeinsame Verpflichtung des 17. SDG (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele) eine globale Verantwortung aller ist. Dabei haben gerade die Länder und Kommunen eine zentrale Rolle mit ihren Partnerschaften weltweit. Eine zukünftige EU-Strategie für die Agenda 2030 muss nach Auffassung des Bundesrates die Anerkennung und Unterstützung regionaler Partnerschaften und zivilgesellschaftlicher Akteure beinhalten.
- 10. Der Bundesrat hält im Rahmen der Debatte über die Zukunft Europas auf dem Sibiu-Gipfel am 9. Mai 2019 eine Berücksichtigung der aktuellen Diskussionen über das Reflexionspapier für notwendig. Der Bundesrat ist darüber hinaus der Auffassung, dass der Europäische Rat die nachhaltige Entwicklung seinen künftigen Diskussionen als Leitlinie zugrunde legen sollte.
- 11. Die in dem Reflexionspapier als Szenario 1 beschriebene übergreifende EU-Strategie für die Nachhaltigkeitsziele, die als Richtschnur für die EU und ihre Mitgliedstaaten dienen soll, und der darin enthaltene Grundsatz "Nachhaltigkeit zuerst" ist aus Sicht des Bundesrates der am besten geeignete Ansatz, um den Zielen der Agenda 2030 der VN gerecht werden zu können. Dabei berücksichtigt der Bundesrat, dass bereits alle Mitgliedstaaten der EU sowie die EU als Institution die Agenda 2030 unterzeichnet und sich uneingeschränkt zu ihrer Umsetzung verpflichtet haben.
- 12. Die Erreichung der SDGs muss handlungsleitend für alle politischen Maßnahmen der EU und der Mitgliedstaaten werden. Zu beachten sind dabei die ökologische, die soziale und die wirtschaftliche Dimension der Nachhaltigkeit gleichermaßen.
- 13. Nur durch eine an den SDGs ausgerichtete Politikgestaltung können das Wohlergehen und der Wohlstand der Menschen in Europa gesichert werden. Die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele darf aber nicht alleine nur die innereuropäische Politik bestimmen, sondern sie muss auch bei der europäischen Handelspolitik und den übrigen, nach außen wirkenden Politikmaßnahmen der EU zum Tragen kommen.
- 14. Mit Blick auf die drei aufgezeigten Szenarien des Reflexionspapiers spricht sich der Bundesrat für einen ambitionierten und kombinierten Ansatz aus. Dieser sollte Elemente aus allen drei Szenarien umfassen, um die Umsetzung der Agenda 2030 in allen notwendigen Bezügen zu garantieren. Gleichzeitig sollte den Mitgliedstaaten im Rahmen des Mehrebenensystems der nötige Handlungsspielraum belassen werden, die Agenda 2030 in ihrem nationalen Kontext umzusetzen.
- 15. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die sich aus einer umfassenden europäischen Umsetzungsstrategie ableitenden strategischen Ziele, Indikatoren und Maßnahmen entsprechend in eine neue, auf der Europa-2020-Strategie aufbauende Europa-2030-Strategie integriert werden sollten. Durch einen solchen bereichsübergreifenden Ansatz in Verbindung mit einem Monitoring im Rahmen des Europäischen Semesters kann nach Einschätzung des Bundesrates die koordinierte Umsetzung der 17 SDGs nachdrücklich befördert und sichergestellt werden, so dass sich die Aktivitäten auf EU-Ebene sowie in den Mitgliedstaaten und Regionen gegenseitig ergänzen und verstärken.
- 16. Der Bundesrat ist zudem der Auffassung, dass Ergebnisse der eingeleiteten Debatte zur Umsetzung der Agenda 2030 sowie konkrete Maßnahmen auf EU-Ebene in die Ausarbeitung der Strategischen Agenda der EU für den Zeitraum 2019 bis 2024 und in die Prioritätensetzung der nächsten Präsidentschaft der Kommission einfließen sollten.
- 17. Um sicherzustellen, dass Pläne und Programme sowie öffentliche Projekte der EU und ihrer Mitgliedstaaten einen Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele erbringen, soll ihre Wirkung auf diese Nachhaltigkeitsziele vorab in einem systematisierten Verfahren überprüft werden.
- 18. Der Bundesrat betont in diesem Zusammenhang erneut die Bedeutung der Kohäsionspolitik als wichtigste Investitionspolitik der EU. Sie verbessert die Beschäftigungschancen und Kompetenzen der Arbeitskräfte, fördert die soziale Inklusion bei gleichzeitiger Bekämpfung von Armut und Diskriminierung und trägt zu den meisten der 17 SDGs bei. Der Bundesrat macht daher nochmals deutlich, dass es auch in Zukunft einer Kohäsionspolitik für alle Regionen bedarf und auch für die Förderperiode 2021 bis 2027 eine angemessene und auskömmliche Finanzausstattung dieses Politikbereichs einschließlich Kofinanzierungssätzen, welche die Mittelabrufquote EU-weit steigern, unabdingbar ist.
- 19. Die Kohäsionspolitik der Kommission ist aus Sicht des Bundesrates so zu programmieren, dass die Verwendung öffentlicher Mittel an die Erreichung der SDGs gekoppelt wird. Aus Sicht des Bundesrates genügt es nicht, dass geförderte Maßnahmen und Vorhaben diesen Nachhaltigkeitszielen nicht zuwiderlaufen. Vielmehr müssen die durch öffentliche Mittel geförderten Maßnahmen und Vorhaben positiv zur Erreichung dieser Nachhaltigkeitsziele beitragen.
Verkehrssektor
- 20. Der Bundesrat unterstützt in Bezug auf den Verkehrssektor den Ansatz der Kommission, die Nachhaltigkeit des europäischen Verkehrssystems zu verbessern und die Treibhausgasemissionen zu verringern. Allerdings legt die Kommission im Rahmen von "Europa in Bewegung" ein massives Verkehrswachstum (42 Prozent im Personenverkehr und 60 Prozent im Güterverkehr bis 2050) zu Grunde, das unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten und in Bezug zum Treibhausgasemission-Reduktionsziel des Verkehrs von mindestens 60 Prozent bis 2050 kritisch zu sehen ist. Nach Auffassung des Bundesrates müssen die zur Dekarbonisierung des Verkehrssektors notwendigen Treibhausgasemissions-Reduktionen durch eine Strategie ergänzt werden, die eine gezielte Steuerung der Verkehrsnachfrage und die Verkehrsverlagerung auf umweltverträgliche Verkehrsmittel beinhaltet. Der Bundesrat hält es daher für erforderlich, dass bei der Umsetzung der SDGs auf der Ebene der EU die spezifischen Ziele im Verkehrssektor mit Maßnahmen zur Förderung des nicht motorisierten Verkehrs und des umweltverträglichen Verkehrsträgers Schiene sowie zur Begrenzung des klimaschutzpolitisch bedenklichen Wachstums des Luftverkehrs unterlegt werden.
Nachhaltiges Finanzwesen
- 21. Der Bundesrat begrüßt die im Reflexionspapier für ein nachhaltiges Europa wiederholte Zielsetzung der Kommission zur Schaffung eines nachhaltigeren Finanzwesens. Er bekräftigt insoweit seine bereits mehrfach vorgebrachte positive Grundhaltung (vergleiche Stellungnahmen des Bundesrates vom 27. April 2018 (BR-Drucksache 067/18(B) ) und vom 21. September 2018 (BR-Drucksache 289/18(B) und BR-Drucksache 290/18(B) )) zu den mit dem EU-Aktionsplan "Finanzierung nachhaltigen Wachstums" verfolgten Zielen.
- 22. Angesichts der zunehmenden Risiken aufgrund des Klimawandels und der voranschreitenden Ressourcenknappheit hält der Bundesrat es für notwendig, dass sich die Wirtschaft stärker an ökologischen, sozialen und der Unternehmensführung dienenden Zielen (ESG-Faktoren: "Environmental, Social, Governance") orientiert. Für die Lenkung der Kapitalströme in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten und Investitionen unterstreicht der Bundesrat die für die Zielerreichung wichtige Rolle der Finanzwirtschaft.
- 23. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich den Verordnungsvorschlag für die Einführung eines EU-weit einheitlichen Klassifikationssystems ("Taxonomie") und hält dieses für elementar für die weitere Umsetzung des Aktionsplans. Denn mit einer einheitlichen Bestimmung des Begriffs der "ökologischen Nachhaltigkeit" schafft die Taxonomie Klarheit und Sicherheit und damit Vertrauen der Marktteilnehmenden in nachhaltige Finanzierungen. Dies ist zur Erreichung des Ziels, Investitionen in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten - auch grenzüberschreitend - zu fördern, erforderlich.
- - Zu dem Verordnungsvorschlag zu den Offenlegungspflichten (BR-Drucksache 290/18 (PDF) ) ist eine Einigung auf europäischer Ebene erfolgt, die einen Abschluss vor den Europawahlen ermöglicht. Hinsichtlich der Taxonomie ist dies bislang leider nicht der Fall. Daher bittet der Bundesrat die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, dass die Verhandlungen hierzu vor und auch nach den Europawahlen zügig vorangebracht werden. - Auf der Grundlage der Taxonomie zur Bestimmung ökologisch nachhaltiger Wirtschaftstätigkeiten können dann weitere Schritte im Sinne der ESG-Faktoren folgen. Der Bundesrat spricht sich insbesondere dafür aus, dass in der weiteren Umsetzung des Aktionsplans auf jeden Fall an den bereits in der Taxonomie enthaltenen sozialen Mindestschutzvorschriften festgehalten wird.
- - Außerdem bittet der Bundesrat die Bundesregierung erneut darum, darauf hinzuwirken, dass der Begriff der "ökologischen Nachhaltigkeit" nach den einzelnen Umweltzielen des Kommissionsvorschlags spezifiziert und mit einer graduellen Unterscheidung definiert wird. Dadurch kann die Transparenz für die Märkte weiter erhöht werden, indem eine sachgerechte Einschätzung über die konkrete Zielrichtung und das Maß der Nachhaltigkeit einer Wirtschaftstätigkeit ermöglicht wird.
- - Der Bundesrat bittet die Bundesregierung erneut auch darum, sicherzustellen, dass alle wesentlichen Entscheidungen vom europäischen Gesetzgeber als Level-1-Maßnahmen getroffen werden und die Regelungstechnik nicht zu einem Ausschluss mitgliedstaatlicher Einflussmöglichkeiten führt. Von der Taxonomie können durchaus auch äußerst sensible Politikbereiche in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten betroffen sein, wie zum Beispiel die Frage des Ausstiegs aus der Nutzung von Atomkraft in der Energiepolitik.
- 24. Der Bundesrat befürwortet ein EU-einheitliches Kennzeichnungssystem ("green label") für nachhaltige Finanzprodukte auf der Grundlage klar definierter Kriterien, damit sowohl professionelle Investoren als auch Kleinanlegerinnen und Kleinanleger bei ihrer Investitionsentscheidung zum Beispiel Informationen zu Umweltauswirkungen und Emissionen eines Produkts besser einschätzen und bewerten können. Dadurch wird mehr Transparenz und Vergleichbarkeit geschaffen und die Gefahr der sogenannten Grünfärberei ("greenwashing") von vermeintlich nachhaltigen Finanzprodukten reduziert.
- 25. Der Bundesrat spricht sich auch weiterhin für Transparenz und Offenlegungspflichten hinsichtlich der Nachhaltigkeitsfaktoren aus, damit Anlegerinnen und Anleger fundierte Entscheidungen auf einer belastbaren Informationsgrundlage mit EU-weiter Vergleichbarkeit treffen können. Der Bundesrat bekräftigt dabei jedoch seine Bitte an die Bundesregierung, bei den von der Kommission geplanten Maßnahmen auf eine verhältnismäßige und proportionale Umsetzung hinzuwirken, damit insbesondere die besonderen Belange von kleinen und mittleren Instituten und anderen Finanzmarktteilnehmenden von Anfang an angemessen berücksichtigt werden.
- 26. Hinsichtlich der Einführung eines "green supporting factor" nimmt der Bundesrat die Antwort der Kommission vom 1. Oktober 2018 zu seiner Stellungnahme vom 27. April 2018 (vergleiche BR-Drucksache 067/18(B) ) zur Kenntnis (vergleiche zu BR-Drucksache 067/18(B) ). Die Kommission teilt darin mit, sie teile die Ansicht des Bundesrates, wonach jegliche Änderung der Eigenkapitalanforderungen zur Berücksichtigung von Klima-, Umwelt- oder Nachhaltigkeitsfaktoren auf messbaren und nachweisbaren Investitionsrisiken beruhen muss. Der Bundesrat unterstreicht erneut, dass bei der Überprüfung angemessener Eigenkapitalanforderungen die bestehende Aufgabe der Regulierung, einen funktionsfähigen Kapitalmarkt aufrechtzuerhalten und Finanzstabilität im Binnenmarkt zu gewährleisten, die allein ausschlaggebende Erwägung bleiben muss. Die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien darf nicht pauschal zu Eigenkapitalerleichterungen führen, da Nachhaltigkeit nicht mit (wirtschaftlicher) Risikofreiheit gleichzusetzen ist. Eigenkapitalanforderungen müssen sich weiterhin allein am messbaren Risikogehalt orientieren.
SDG 1: Armut in allen ihren Formen und überall beenden
- 27. Der Bundesrat betrachtet mit Sorge, dass derzeit rund 22,5 Prozent der EU-Bevölkerung noch immer von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind; insbesondere der Anteil betroffener Kinder ist mit 26,4 Prozent inakzeptabel hoch. 6,9 Prozent der EU-Bevölkerung - vorrangig marginalisierte und gefährdete Gruppen wie Menschen mit Behinderungen, Migranten und ethnische Minderheiten (einschließlich Roma), Obdachlose oder isolierte ältere Menschen und wiederum Kinder - sind sogar von erheblicher materieller Deprivation betroffen. Das Ziel der Europa-2020-Strategie, im Vergleich zu 2008 bis 2020 mindestens 20 Millionen Menschen aus der Armut oder der sozialen Ausgrenzung zu befreien, ist nicht mehr zu erreichen.
- 28. Der Bundesrat teilt die Einschätzung, dass die europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) der wichtigste Orientierungsrahmen für Armutsbekämpfung und die soziale Aufwärtskonvergenz auf EU-Ebene ist. Die meisten ihrer 20 Grundsätze gehen direkt auf die SDGs im Bereich der Armut ein, wie zum Beispiel die Umsetzung den nationalen Gegebenheiten entsprechender Sozialschutzsysteme. Der Bundesrat fordert daher die zukünftige Kommission auf, sich nachdrücklich und mit allen vorhandenen Instrumenten für die Umsetzung der Rechte und Grundsätze der ESSR auf allen Ebenen einzusetzen.
- 29. Der Bundesrat betont im Einklang mit Grundsatz 14 der ESSR insbesondere die Notwendigkeit, allen Menschen angemessene Mindesteinkommensleistungen bereitzustellen und ihnen dadurch ein Leben in Würde in allen Lebensphasen und einen wirksamen Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen zu sichern. Die konkrete und greifbare Verbesserung der sozialen Verhältnisse insbesondere der von erheblicher materieller Deprivation betroffenen Personen sollte neben der Gewährleistung der Chancengleichheit und der Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit Priorität bei der Umsetzung der ESSR sein.
- 30. Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind (Artikel 24 der Charta der Grundrechte der EU) . Zur Verwirklichung dieser sozialen Grundrechte der Kinder sowie des Grundsatzes 11 der ESSR unterstützt der Bundesrat im Sinne der Nachhaltigkeit den Vorschlag, eine europäische Garantie gegen Kinderarmut aufzulegen, um der dramatischen Rate von Armut und sozialer Ausgrenzung bei Kindern in der EU entgegenzuwirken.
- 31. Der Bundesrat verweist auch auf die nach wie vor hohe und weiter zunehmende Anzahl der erwerbstätigen Armen; so waren 2017 9,6 Prozent (2008: 8,6 Prozent) der Erwerbstätigen gleichzeitig von Einkommensarmut betroffen. Vor dem Hintergrund, dass Arbeit nach wie vor als bestes Mittel gegen Armut gilt, fordert der Bundesrat weitere konkrete Maßnahmen auf EU-Ebene, um die Qualität bestehender Arbeitsverhältnisse zu verbessern, gute Arbeit zu gewährleisten, prekäre Beschäftigungsverhältnisse zurückzudrängen und bessere Zugänge zu existenzsichernder Erwerbstätigkeit zu eröffnen.
- 32. Der Bundesrat spricht sich zudem für einen Rahmen für Mindestlohnregelungen in den Mitgliedstaaten aus. Er verbindet dies im Einklang mit Grundsatz 6 der ESSR, wonach alle Löhne und Gehälter gemäß den nationalen Verfahren und unter Wahrung der Tarifautonomie auf transparente und verlässliche Weise festgelegt werden, mit einem Appell an die Europäischen Sozialpartner, ihre Anstrengungen für eine Rahmenvereinbarung zur Festlegung von Mindestbedingungen für Mindestlöhne in Europa zu verstärken, die in keinem sektoralen Tarifvertrag mehr unterschritten werden dürfen. Gleichzeitig muss die Tarifbindung ausgeweitet und die Tarifautonomie gesichert werden.
SDG 5: Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen
- 33. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die geschlechtsspezifische Gehaltslücke ("gender pay gap") seit zehn Jahren nahezu unverändert ist und beim Vergleich des Bruttostundenlohns EU-weit 16,2 Prozent beträgt (Referenzjahr 2016). Sofern zusätzlich der monatliche Durchschnitt von bezahlten Stunden und die Beschäftigungsquote von Frauen einbezogen werden, beläuft sich der "gender pay gap" EU-weit sogar auf knapp 40 Prozent. Da sich diese Lohnlücke im Laufe des Erwerbslebens akkumuliert und damit zu einer ganz erheblichen geschlechtsspezifischen Rentenlücke führt (2016 EU-weit 37,2 Prozent), sieht der Bundesrat in Einklang mit Grundsatz 2 der ESSR auf EU-Ebene weiterhin dringenden Handlungsbedarf, die eigenständige Existenzsicherung von Frauen im Lebensverlauf durch geeignete Maßnahmen zu fördern.
- 34. Der Bundesrat fordert zudem nach dem Auslaufen des strategischen Engagements für die Gleichstellung der Geschlechter (2016 bis 2019) für die Folgejahre auf EU-Ebene wieder eine hochrangige Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter in Form einer Mitteilung, wie dies bis 2015 der Fall war. Er verspricht sich davon mehr Gewicht und Sichtbarkeit der Gleichstellungspolitik als Querschnittsaufgabe in allen Politikbereichen und ein verstärktes Bewusstsein für die Notwendigkeit der Gleichstellung der Geschlechter auf allen Ebenen.
SDG 8: Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern
- 35. Der Bundesrat unterstreicht, dass die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung in den kommenden Jahren zu einem bedeutenden strukturellen Wandel der Wirtschaft und der Arbeitswelt führen werden, wobei die Auswirkungen dieser Entwicklung in vielen Bereichen noch nicht absehbar sind. Er teilt die Einschätzung der Kommission, dass der Wandel hin zu nachhaltiger Beschäftigung nicht auf Kosten von Gruppen von Menschen, Gemeinschaften, Branchen oder Regionen gehen darf, sondern allen gleiche Chancen eingeräumt werden müssen. Damit (künftige) Beschäftigte ihre Beschäftigungsfähigkeit erlangen, erhalten und ausbauen können, werden weiterhin verstärkt Qualifizierungs- und Weiterbildungsanstrengungen nötig sein.
- 36. Der Bundesrat fordert, die aufgezeigten Chancen und positiven Faktoren im Bereich Wirtschaftswachstum und Beschäftigungspolitik (zum Beispiel Weiterbildung und Neuqualifizierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, neue Technologien, Forschung und Innovation, gesellschaftliche Teilhabe und partizipative Politik, sozial verantwortliches unternehmerisches Handeln, soziale Innovation und Förderung der Sozialunternehmen, Multilateralismus und fairer Handel) auf EU-Ebene gezielt einzusetzen, um den ebenfalls aufgezeigten Risiken bzw. negativen Faktoren, wie demographische Entwicklung, und sich verfestigenden Ungleichheiten aktiv entgegenzuwirken.
SDG 10: Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern
- 37. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Einkommensungleichheit innerhalb der EU 2017 zum ersten Mal seit der Finanzkrise zurückging, jedoch immer noch eine Herausforderung mit vielfältigen sozialen Folgen, die den Zusammenhalt und die wirtschaftliche Stabilität gefährden können, darstellt. Anlass zur Sorge gibt insbesondere, dass Einkommensungleichheit direkt mit Chancenungleichheit verknüpft ist. Der Bundesrat hält es daher für unabdingbar, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten auf die Gewährleistung eines inklusiven, sozial gerechten und nachhaltigen Wachstums in der EU als notwendige Voraussetzung für die Verringerung der Ungleichheit sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch innerhalb der Mitgliedstaaten hinarbeiten.
- 38. Der Bundesrat unterstreicht ausdrücklich das Grundprinzip der Kommission, "dass niemand auf der Strecke bleiben darf". Insbesondere muss der Kreislauf der Übertragung von Ungleichheiten von einer Generation auf die nächste durchbrochen werden. Der Bundesrat ist daher der Auffassung, dass die Nachhaltigkeitswende auf der Ebene der Mitgliedstaaten wirksame und integrierte Sozialschutzsysteme voraussetzt, die den allgemeinen Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen, wie allgemeine und berufliche Bildung, lebenslanges Lernen, Kinderbetreuung, außerschulische Betreuung, Gesundheitswesen und Langzeitpflege gewährleisten. Dies ist für die Chancengleichheit aller sowie die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Konvergenz unverzichtbar.
- 39. Schlüsselaspekte bei der weiteren Ausgestaltung der sozialen Dimension Europas im Rahmen einer künftigen Europa-2030-Strategie sollten nach Ansicht des Bundesrates daher deutliche Impulse für eine soziale Aufwärtskonvergenz der mitgliedstaatlichen Sozialleistungssysteme sowie das weitere konsequente Monitoring der Umsetzung der Grundsätze und Rechte der ESSR im Rahmen des Europäischen Semesters sein.
- 40. Der Bundesrat spricht sich darüber hinaus zur Förderung der Umsetzung der in Kapitel III der ESSR verankerten Rechte und Grundsätze und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips für einen Rahmen für nationale Grundsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten aus. Dieser sollte sozialpolitische Ziele, Grundsätze wirksamer und verlässlicher Sozialleistungssysteme und Mindeststandards beinhalten, die von der EU und den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen verfolgt werden.
Direktzuleitung der Stellungnahme
- 41. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
B
- 42. Der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz, der Gesundheitsausschuss, der Ausschuss für Kulturfragen, der Verkehrsausschuss und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.