Punkt 63 der 895. Sitzung des Bundesrates am 30. März 2012
Der Bundesrat möge zu der Vorlage wie folgt Stellung nehmen:
- 1. Der Bundesrat misst dem Nationalen Reformprogramm eine große Bedeutung zu. Es ist das zentrale Element zur Umsetzung der europäischen Wachstums- und Beschäftigungsstrategie Europa 2020 in den Mitgliedstaaten. Gleichzeitig wird das Programm auch für die Dokumentation der Ausrichtung der zukünftigen Kohäsionspolitik zunehmend wichtiger.
- 2. Das vom Bundeskabinett verabschiedete Nationale Reformprogramm 2012 bleibt hinter den Zielen der Strategie Europa 2020 zurück. Insbesondere bei der Bekämpfung der Armut und sozialen Ausgrenzung sind die aufgeführten Maßnahmen nicht ausreichend.
- 3. Im EU-Vergleich ist Deutschland einer der wenigen Mitgliedstaaten, in denen der Anteil der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen nicht reduziert werden konnte (2005: 18,4 Prozent, 2010: 19,7 Prozent; Daten von Eurostat/EU-SILC).
- 4. Die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung beschränkt sich im deutschen Nationalen Reformprogramm auf die Langzeitarbeitslosigkeit. Das ist für die Reduzierung der Anzahl der langzeitarbeitslosen Personen zwar ein wichtiger Ansatz, Langzeitarbeitslose stellen jedoch nur eine sehr kleine Gruppe der 16 Millionen Menschen in Deutschland dar, die von Armuts- oder Ausgrenzungsrisiken bedroht sind. Es ist daher unzureichend, lediglich die Anzahl der Langzeitarbeitslosen bis zum Jahr 2020 um 320 000 verringern zu wollen.
- 5. Ein Arbeitsplatz allein führt nicht in jedem Fall zur Verringerung von Armut und zu sozialer Integration. Obwohl immer mehr Menschen trotz Erwerbstätigkeit von Armut betroffen sind, wird dieses Thema im Nationalen Reformprogramm nicht als Herausforderung eingestuft. Erwerbsarbeit muss auskömmlich vergütet werden, so dass sie grundsätzlich eine Lebensführung ohne ergänzende Sozialtransfers ermöglicht. Neben der Förderung von Beschäftigung sind flexible und zugleich rechtssichere Arbeitsverhältnisse anzustreben. Der Bundesrat fordert in diesem Zusammenhang eine Regulierung der Zeitarbeit, Regelungen gegen den Missbrauch von Werkverträgen und eine stärkere Reglementierung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.
- 6. Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns wäre ein geeigneter Baustein, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Existenz sicherndes Einkommen zu gewährleisten und eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Der Bundesrat bedauert, dass ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn nicht im Nationalen Reformprogramm enthalten ist.
- 7. Nach wie vor ist es eine nationale Aufgabe, den Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" zur Gleichstellung der Geschlechter im Arbeitsleben zu realisieren. Auch mit Blick darauf, dass die Mehrzahl der Alleinerziehenden Frauen sind, wäre hierdurch ein wesentlicher Beitrag zur Reduzierung von Armut zu erwarten. Auch dies fehlt im Nationalen Reformprogramm.
- 8. Eine nachhaltige Armutsreduktion braucht zudem weitere Instrumente, die den besonderen Umständen besonders gefährdeter gesellschaftlicher Gruppen (wie Alleinerziehende, ältere Menschen, Minderheiten, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose) gerecht werden. Einige Mitgliedstaaten haben bereits Strategien und Konzepte zum demografischen Wandel, die insbesondere die soziale Eingliederung und die Bekämpfung der Armut von älteren Menschen zum Inhalt haben. Konzepte zur Bekämpfung von Kinderarmut sind notwendig, um die generationenübergreifende Reproduktion von Armut und sozialer Ausgrenzung zu reduzieren.
- 9. Zum Verfahren der Aufstellung des Nationalen Reformprogramms 2012 weist der Bundesrat darauf hin, dass aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern eine angemessene Beteiligung der Länder an der Erstellung des Programms dringend geboten ist. Er bedauert, dass das von der Bundesregierung praktizierte Verfahren dieser Notwendigkeit nicht entsprochen hat. Insbesondere die gesetzten Fristen werden dem nötigen fachlichen und politischen Abstimmungsbedarf mit den Ländern nicht gerecht.
- 10. Der Bundesrat bittet den Bund, für die Erstellung des Nationalen Reformprogramms 2013 ein Verfahren vorzuschlagen, das eine angemessene Länderbeteiligung gewährleistet.