869. Sitzung des Bundesrates am 7. Mai 2010
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Das mit der Richtlinie verfolgte Anliegen, gemeinsame Mindeststandards für Verdolmetschung und Übersetzung im Strafverfahren einzuführen und insbesondere hör- oder sprachgeschädigte Personen zu berücksichtigen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Der Richtlinienvorschlag ist allerdings nur insoweit zu unterstützen, als er nicht wesentlich über die gleichgerichteten Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention hinausgeht. (bei Annahme entfallen Ziffern 2 und 5)
- 2. Der Bundesrat begrüßt das mit dem Richtlinienvorschlag verfolgte Anliegen, gemeinsame Mindeststandards für Verdolmetschung und Übersetzung im Strafverfahren festzulegen. (entfällt bei Annahme von Ziffer 1)
- 3. Hierdurch werden innerhalb der EU das Vertrauen in die Rechtssysteme der anderen Mitgliedstaaten gestärkt und die gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen gefördert.
- 4. Der Bundesrat hält den Richtlinienvorschlag jedoch in fachlicher Hinsicht nicht in dem von der Kommission vorgeschlagenen Umfang für erforderlich - vgl. auch die Stellungnahme des Bundesrates in BR-Drucksache 657/09(B) . Das gilt jedenfalls für den Teil des Vorschlags, der über die Verpflichtungen hinausgeht, die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergeben. Insoweit nimmt der Bundesrat wie folgt Stellung:
- 5. Das Recht auf Verdolmetschung ausdrücklich auch auf Personen auszudehnen, die hör- oder sprachgeschädigt sind, ist zu begrüßen. (entfällt bei Annahme von Ziffer 1)
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass dieses Recht und die Rechte der Beschuldigten, die die Verfahrenssprache nicht verstehen, im deutschen Strafprozess hinreichend gewährleistet sind.
- 7. Der Bundesrat begrüßt, dass der Anwendungsbereich dieses Richtlinienvorschlags auf Strafverfahren und Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls beschränkt ist. Überlegungen, den Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Richtlinie über die bereits geltende Regelung in § 46 Absatz 1 OWiG in Verbindung mit den §§ 185 ff. GVG hinaus auf das gesamte Ordnungswidrigkeitenverfahren zu erstrecken, lehnt der Bundesrat ab.
- 8. Der Bundesrat sieht weiterhin keinen Bedarf für ein förmliches Verfahren zur Feststellung der sprachlichen Kompetenz eines Beschuldigten. Maßgeblich dürfte allein sein, ob der Betroffene sich darauf beruft, einen Dolmetscher/Übersetzer zu benötigen. Im Übrigen hat das Gericht von Amts wegen aufzuklären, ob alle Verfahrensbeteiligten der Verhandlungssprache genügend mächtig sind. Das Gericht hat diese Entscheidung im Rahmen des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums zu treffen. Unterbleibt die notwendige Zuziehung eines Dolmetschers, so führt dies auf ein zulässiges Rechtsmittel hin zur Aufhebung des Urteils. Ein gesondertes Rechtsmittel gegen einen die Hinzuziehung eines Dolmetschers ablehnenden Beschluss lehnt der Bundesrat schon wegen der damit einhergehenden Verfahrensverzögerung und als systemfremd ab. Die isolierte Anfechtung der Entscheidung des Gerichts, mit der eine Verdolmetschung oder eine Übersetzung von Unterlagen abgelehnt wird, widerspricht dem im Strafprozess geltenden Grundsatz einer konzentrierten und beschleunigten Durchführung des Verfahrens. Dieser Gedanke liegt der Regelung des § 305 Satz 1 StPO zugrunde, wonach Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde unterliegen. (bei Annahme entfällt Ziffer 9)
- 9. Ein förmliches Verfahren zur Festlegung der sprachlichen Kompetenz eines Beschuldigten ist ebenfalls nicht erforderlich. Es ist ausreichend, dass der Beschuldigte bezüglich der Möglichkeit zur Verdolmetschung belehrt wird und eine Sprachkompetenzprüfung durch die Ermittlungsbehörden erfolgt. Diese Bewertung wird im Hauptverfahren zudem durch ein unabhängiges Gericht kontrolliert. Die Aufhebung eines Urteils wegen Verstoßes gegen den Fairtrial-Grundsatz ist in Deutschland bereits prozessrechtlich normiert.
- 10. Der Bundesrat sieht keine Notwendigkeit, über die von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aufgestellten Grundsätze hinaus Regelungen zur schriftlichen Übersetzung von Unterlagen zu treffen.
Insbesondere wird es nicht für geboten erachtet, zwingend eine schriftliche Übersetzung wichtigen Beweismaterials sowie des Urteils vorzusehen. Der EGMR hat festgestellt, dass nicht jedes Schriftstück übersetzt werden muss, solange ein faires Verfahren sichergestellt ist. Eine Übersetzung von Beweismaterial ist schon deshalb nicht notwendig, weil alle Beweise mündlich in der Hauptverhandlung erhoben werden und ein Urteil nur auf dieser Hauptverhandlung - und nicht auf dem Akteninhalt - beruhen kann. Der schriftlichen Übersetzung bedürfen auch nicht Urteile, die in Anwesenheit des Angeklagten unter Mitwirkung eines Dolmetschers verkündet und begründet worden sind.
Zudem ist zu bedenken, dass umfangreiche Übersetzungen zu Verfahrensverzögerungen führen können, die nach Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 Halbsatz 2 und Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK zu vermeiden sind. Während der entsprechende Richtlinienvorschlag von 13 Mitgliedstaaten (Ratsdok. 16801/09) Details der Rechte der Beschuldigten zum Teil in das Ermessen der Mitgliedstaaten stellt, gibt der Kommissionsvorschlag eine starre Regelung vor, die eine Anpassung an die in den Mitgliedstaaten teilweise unterschiedlichen Prozessgrundsätze nicht ermöglicht. Das zeigt sich besonders deutlich bei einem direkten Vergleich von Artikel 3 der beiden konkurrierenden Vorschläge. Der Vorschlag der Mitgliedstaaten sieht dort eine Übersetzung von "allen Unterlagen, die unerlässlich sind, [...] oder zumindest der wichtigen Passagen solcher Unterlagen" vor und bestimmt, dass die zuständigen Behörden darüber entscheiden, welches unerlässliche, zu übersetzende Unterlagen sind. Auch ist vorgesehen, dass anstelle einer schriftlichen Übersetzung eine mündliche Zusammenfassung der Unterlagen treten kann, wenn dies einem fairen Verfahren nicht entgegensteht. Demgegenüber verlangt der Kommissionsvorschlag strikt eine schriftliche und vollständige Übersetzung der maßgeblichen Unterlagen. Eine solche Regelung würde sowohl der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege als auch in vielen Fällen eklatant den Interessen des Beschuldigten zuwiderlaufen. Der Kommissionsvorschlag geht über die von dem EGMR aufgestellten Grundsätze zur Erforderlichkeit der Übersetzung von Unterlagen für Beschuldigte deutlich hinaus. Insbesondere wird es von dem EGMR entgegen dem Kommissionsvorschlag nicht für geboten erachtet, zwingend eine Übersetzung allen wichtigen Beweismaterials vorzusehen. Der EGMR hat vielmehr festgestellt, dass nicht jedes relevante Schriftstück übersetzt werden müsse, solange ein faires Verfahren sichergestellt sei. Der Vorschlag der Mitgliedstaaten wird der vorbezeichneten Rechtsprechung mehr als gerecht.
Gegen den Kommissionsvorschlag spricht ferner, dass er aufgrund seiner starren Regelungsvorgabe dem Anspruch des Beschuldigten auf beschleunigte Verfahrensführung nicht ausreichend Rechnung trägt. Vor allem in komplexen Ermittlungsverfahren mit umfangreichem Schriftmaterial kann eine Übersetzung aller maßgeblichen Unterlagen zu schwerwiegenden Verfahrensverzögerungen führen, die den Interessen des Beschuldigten zuwiderlaufen und nach Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK gerade zu vermeiden sind. Dies gilt in besonderem Maße für Beschuldigte, die sich in Untersuchungshaft befinden (Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 EMRK). § 121 StPO setzt die zulässige Gesamtdauer der Untersuchungshaft auf sechs Monate fest, die nur ausnahmsweise und nur auf Anordnung des Oberlandesgerichts überschritten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Gerade in komplexen Verfahren der Schwerkriminalität könnte eine zu weitgehende Verpflichtung zur schriftlichen Übersetzung von Aktenbestandteilen zu dem Beschuldigten nicht zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen führen, die die Oberlandesgerichte zur Aufhebung von Haftbefehlen veranlassen könnten.
Vor diesem Hintergrund begrüßt der Bundesrat Überlegungen, anstelle einer schriftlichen Übersetzung auch eine mündliche Übersetzung bzw. eine mündliche Zusammenfassung des Inhalts der Schriftstücke ausreichen zu lassen. Für entbehrlich hält der Bundesrat indes, dass die mündliche Übersetzung in Gegenwart eines Juristen erfolgen muss und dass eine vollständige Aufzeichnung der mündlichen Übersetzung bzw. der Zusammenfassung aufbewahrt wird.
Soweit sprachunkundige Angeklagte durch fehlende Übersetzungen benachteiligt werden könnten, kann dies sachgerecht dadurch ausgeglichen werden, dass für sie ein Verteidiger bestellt wird. In diesem Fall entfällt das Bedürfnis für die Übersetzung weiterer Aktenbestandteile und das Verfahren kann - auch im Interesse des Angeklagten - beschleunigt werden.
Unabhängig von diesen grundsätzlichen Bedenken hält der Bundesrat es jedenfalls weiterhin für erforderlich, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte bestimmen, welche Dokumente "wichtiges Beweismaterial" sind. Der Richtlinienvorschlag lässt im Übrigen ungeklärt, wie sich das Recht auf schriftliche Übersetzung von Unterlagen - insbesondere Beweismittel - zum Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten verhält.
- 11. Der Bundesrat hält es an dieser Stelle weiterhin für erforderlich klarzustellen, dass das Recht auf Übersetzung unter dem Vorbehalt steht, dass bezüglich der zu übersetzenden Aktenteile auch ein Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten bzw. des Verteidigers besteht. (bei Annahme entfällt Ziffer 12)
- 12. So sollte die im Richtlinienvorschlag vorgeschlagene Übersetzung "maßgeblicher Unterlagen" nur bei einem tatsächlichen Einsichtnahmerecht des Beschuldigten bzw. des Angeklagten und seines Verteidigers erfolgen. (entfällt bei Annahme von Ziffer 11)
- 13. Es kann nicht Ziel des Richtlinienvorschlags sein, nicht sprachkundige Beschuldigte besser zu stellen als Beschuldigte, die der Verfahrenssprache mächtig sind.
- 14. Das im Richtlinienvorschlag vorgesehene Recht des Verteidigers, die Übersetzung weiterer Dokumente zu verlangen (Artikel 3 Absatz 3), lehnt der Bundesrat entschieden ab. Die Regelung lässt offen, ob und unter welchen Voraussetzungen das Gericht dem Antrag nachkommen muss. Verfahrensverzögerungen wären in jedem Fall die Folge.
- 15. Soweit der Richtlinienvorschlag die Einführung eines Rechtsmittels gegen die ablehnende Entscheidung über die kostenfreie Übersetzung von Unterlagen vorsieht, lehnt der Bundesrat dies ab. Einem solchen Rechtsmittel käme weitere verfahrensverzögernde Wirkung zu. Beruht das Urteil im Einzelfall auf einer die Grundsätze des fairen Verfahrens verletzenden Ablehnung von Übersetzungen, so kann es als deshalb rechtsfehlerhaft aufgehoben werden. Der Bundesrat begrüßt daher die in Artikel 3 Absatz 4 der Initiative der 13 Mitgliedstaaten enthaltene Klarstellung, dass für die Mitgliedstaaten eine Verpflichtung, "einen gesonderten Mechanismus vorzusehen", nicht besteht.
- 16. Der Bundesrat begrüßt, dass in Artikel 3 Absatz 6 des Richtlinienvorschlags die Möglichkeit des Verzichts auf das nach Artikel 3 bestehende Recht auf Übersetzung statuiert wird. Er hält allerdings die in dem Vorschlag der 13 Mitgliedstaaten in Artikel 3 Absatz 7 vorgesehene Fassung, die nicht eine vor dem Verzicht erfolgte Rechtsberatung fordert, für ausreichend.
- 17. Ein Bedürfnis für eine besondere Schulung von Richtern, Rechtsanwälten, Staatsanwälten und sonstigen am Verfahren beteiligten Justizbediensteten zur Gewährleistung, dass die verdächtige Person dem Verfahren folgen kann, sieht der Bundesrat weiterhin nicht, da sie aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Stellung dazu in der Lage sind.
- 18. Der Bundesrat erinnert mit Nachdruck daran, dass die Umsetzung der Maßnahmen in erster Linie Aufgabe der Ermittlungsbehörden, der Gerichte, des Justizvollzugs und weiterer Einrichtungen der Länder sein wird, die zu erwartenden finanziellen Mehrbelastungen mithin zunächst die Länder treffen werden. Eine spürbare Mehrbelastung der Länderhaushalte kann angesichts der äußerst angespannten Haushaltslage und angesichts der knappen personellen und sachlichen Ressourcen bei Polizei und Justiz nicht hingenommen werden. Die Rahmenvorgaben sollten so ausgestaltet sein, dass zusätzliche Belastungen für die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte vermieden werden.