874. Sitzung des Bundesrates am 24. September 2010
A
- 1. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik empfiehlt dem Bundesrat, die Entschließung wie folgt zu fassen: Entschließung des Bundesrates zur Überprüfung der Entsenderichtlinie
Der Bundesrat erkennt an, dass der europäische Binnenmarkt für den wirtschaftlichen Erfolg der Mitgliedstaaten der EU von wesentlicher Bedeutung ist und freie Märkte für Waren und Dienstleistungen eine gute Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung in den Mitgliedstaaten bieten. Gleichzeitig bekennt er sich zu dem grundgesetzlich verankerten Recht auf die Durchführung kollektiver Maßnahmen und dem Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Sozialdumping.
Der Bundesrat bekennt sich daher zur Gleichstellung von Grundrechten und Grundfreiheiten im Sinne des Gemeinschaftsrechts.
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, eine Überprüfung der Kommission dahingehend anzuregen, ob unter Berücksichtigung des Artikels 6 EUV (in der Fassung des Vertrags von Lissabon) hinsichtlich der in Absatz 2 genannten Gleichstellung Rechtsunsicherheiten bestehen und - falls dies zu bejahen ist - wie diese Rechtsunsicherheiten wirksam beseitigt werden können.
Begründung:
Am 26. Juni 2008 hat ein Symposium zu den Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung betreffend die Fälle Viking, Laval, Rüffert und Kommission/Luxemburg im BMAS stattgefunden. Renommierte Fachleute kritisierten hier die Tendenz des EuGH, die Grundfreiheiten (z.B. die Dienstleistungsfreiheit) über die Grundrechte (z.B. das Streikrecht) zu stellen. Anerkannt wurde jedoch, dass der EuGH in seinen Urteilen klarstellte, dass es sich bei dem Streikrecht um ein Grundrecht im Sinne des Gemeinschaftsrechts handele. Eine Überarbeitung der Entsenderichtlinie wurde angeregt.
Am 22. Oktober 2008 hat das Europäische Parlament in diesem Zusammenhang eine Entschließung zu den Herausforderungen für Tarifverträge in der EU auf den Weg gebracht, den sogenannten Andersson-Report. Hier wird unter anderem gefordert, die Gleichsetzung von Grundrechten und Grundfreiheiten im Primärrecht, und nicht in der Entsenderichtlinie, zu verankern. Gleichzeitig wird auch hier hervorgehoben, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung das Grundrecht auf kollektive Maßnahmen ausdrücklich anerkannt hat. Es wird weiter unterstrichen, dass die Dienstleistungsfreiheit ein Grundpfeiler des europäischen Einigungswerks ist, aber dennoch eine Abwägung insbesondere auch mit dem Recht auf Kollektivmaßnahmen und dem Recht auf Verbesserung der Arbeitsbedingungen stattzufinden hat.
Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass der europäische Binnenmarkt für den Wohlstand und den wirtschaftlichen Erfolg der Mitgliedstaaten der EU von wesentlicher Bedeutung ist. Offene, europaweit freie Märkte für Waren und Dienstleistungen sind hierbei eine gute Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung in jedem der Mitgliedstaaten der EU. Hierdurch wird ein erheblicher Beitrag zum europaweiten Wohlstand, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zum sozialen Fortschritt geleistet. Gerade in den neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten ist das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen, um fast ein Drittel auf 52 Prozent des Durchschnitts der alten Mitgliedstaaten. Die Löhne in den neuen Mitgliedstaaten sind zwischen 2000 und 2008 erheblich gestiegen.
Die Urteile des EuGH drücken diese Spannung zwischen ökonomischen Sachzwängen einerseits und dem notwendigen Arbeitnehmerschutz andererseits aus, indem einerseits betont wird, dass die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach dem EGV als fundamentales wirtschaftliches Freiheitsrecht garantiert werden muss, andererseits aber auch das Streikrecht als soziales Grundrecht im Sinne des Gemeinschaftsrechts anerkannt wird. Weiter greift er im Urteil Laval den Begriff des Sozialdumpings auf und sieht im Streikrecht zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen Sozialdumping ein zwingendes Allgemeininteresse. Die genannten Urteile erzwingen daher nicht unbedingt eine Revision der Entsenderichtlinie.
Zur Frage, ob die Entsenderichtlinie als Konsequenz der Urteile des EuGH revidiert werden muss, gab es am 2. Juni dieses Jahres eine Anhörung des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments. Die Kommission hat in diesem Zusammenhang eine Überprüfung dahingehend angekündigt, ob ein Bedarf für eine Revision der Entsenderichtlinie besteht, und wird voraussichtlich im Jahr 2011 einen entsprechenden Vorschlag zur weiteren Vorgehensweise vorlegen.
Von Seiten des Bundesrates erscheint eine Revision der Entsenderichtlinie allerdings nicht als erforderlich, soweit die Gleichstellung von Grundrechten und Grundfreiheiten als in sonstiger Weise gesichert angesehen werden kann.
Zur Gewährleistung dieser Gleichstellung dient Absatz 3 der Stellungnahme. B
- 2. Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, die Entschließung nicht zu fassen.