Punkt 12 der 942. Sitzung des Bundesrates am 26. Februar 2016 Der Bundesrat möge beschließen:
Zu Artikel 1 (§ 26 ff. PflBG)
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Einführung einer nun bundesweit verbindlichen Umlagefinanzierung und den gesetzlich vorgeschriebenen Schulgeldverzicht im Rahmen der Finanzierung. Er sieht darin einen richtigen Schritt, um das bisher bundesweit unterschiedliche Ausbildungsengagement anzugleichen.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die weitreichende Reform der Pflegeausbildungen dringend einer klaren und vor allem rechtssicheren Finanzierungsstruktur bedarf. Gerade bei der im Gesetzentwurf vorgesehen Finanzierung über Landesfonds würden sämtliche Unsicherheiten hinsichtlich der Finanzierungsregelungen zulasten der Länder gehen. Eine mit rechtlichen Unsicherheiten behaftete Regelung kann von den Ländern nicht akzeptiert werden.
- 3. Da in der aktuellen Diskussion gegen die Verfassungsmäßigkeit der Finanzierungsregelungen der §§ 26 ff. PflBG bedenkenswerte Argumente vorgetragen wurden, hält der Bundesrat eine Prüfung folgender Fragen für dringend geboten:
- a) Fehlt dem Bund für eine Finanzierungsregelung, die über Länderfonds zu unterschiedlichen finanziellen Auswirkungen in den Ländern führt, die Gesetzgebungskompetenz im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung, weil durch die Länderfonds bewusst gerade keine einheitlichen wirtschaftlichen Verhältnisse im Bundesgebiet gewährleistet werden?
- b) Verstoßen die Regelungen zur Aufbringung der Finanzierungsbeiträge für die Landesfonds anhand starrer Quoten gegen das aus Artikel 3 Grundgesetz abzuleitende Gebot der Belastungsgleichheit, weil das vom Bund herangezogene Finanzierungsgutachten allein auf die historische Ausbildungsaktivität im Jahr 2012 abstellt und die Auswirkungen der Reform ebenso ausblendet wie den künftigen Fachkräftebedarf der an der Finanzierung zu beteiligenden Leistungsbereiche?
- c) Verstößt die landesbezogene Aufbringung der Finanzierungsfonds gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil sie bei unterschiedlicher Ausbildungsaktivität in den Ländern dazu führt, dass grundrechtsgeschützte Betriebe zwangsweise eine Ausbildung der in anderen Ländern benötigten und von den dortigen Betrieben gerade nicht finanzierten Fachkräfte bezahlen?
- d) Verstößt die Heranziehung der ambulanten Pflegedienste zur Fondsfinanzierung anhand der Gesamtzahl der dort eingesetzten Pflegefachkräfte gegen das Gleichheitsgebot des Artikels 3 Grundgesetz, weil sie - anders als stationäre Pflegeeinrichtungen - auch Leistungen nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch erbringen, diese aber nicht herausgerechnet werden?
- e) Verstoßen die unterschiedlichen Kostentragungen durch die Krankenbzw. Pflegeversicherung und die daraus resultierenden unterschiedlichen Refinanzierungsmöglichkeiten von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gegen das Gleichheitsgebot des Artikels 3 Grundgesetz?
- f) Verstößt die Kürzung des Anspruchs ambulanter Dienste auf Erstattung der Ausbildungsvergütung um den Wertschöpfungsabzug gegen das Gleichheitsgebot, weil sie ihre Auszubildenden nicht annähernd vergleichbar mit stationären Einrichtungen "wertschöpfend" einsetzen können?
- 4. Die verfassungsrechtliche Prüfung sollte sich unmittelbar auch auf folgende alternative Finanzierungsregelungen und eine mögliche verfassungsrechtliche Präferenz für diese Alternativen beziehen:
- a) Finanzierung der Ausbildung über einen Bundesfonds statt über Länderfonds.
- b) Bemessung der Finanzierungsbeiträge anhand der jeweils aktuell erhobenen Zahlen der in den einzelnen finanzierungsbeteiligten Sektoren (Krankenhäuser, ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen) eingsetzten und damit voraussichtlich auch künftig benötigten Fachkräfte.
- c) Gleichmäßige und vollständige solidarische Finanzierung der Ausbildung über Kranken- und Pflegeversicherung.
- d) Verzicht auf den Abzug eines Wertschöpfungsanteils mindestens bei den ausbildenden ambulanten Pflegeeinrichtungen.
- 5. Der Bundesrat bittet im weiteren Gesetzgebungsverfahren darum, dass die Prüfung umgehend veranlasst, das Ergebnis der Prüfung allen Ländern für die weiteren Beratungen zur Verfügung gestellt wird und erforderliche Änderungen an den §§ 26 ff. PflBG vorgeschlagen werden.
Begründung:
- 1. Das bisherige Ausbildungsengagement in den getrennten Ausbildungen ist bundesweit nicht einheitlich und deckt jedenfalls bundesweit den Fachkräftebedarf nicht. In Ländern, die bereits nach dem bisherigen Recht auch in der Altenpflege eine Umlagefinanzierung eingeführt haben, konnten die Ausbildungszahlen erheblich gesteigert werden. Es besteht die Erwartung, dass die bundesweite verpflichtende Einführung dieses Instruments in Verbindung mit dem verbindlichen Schulgeldverzicht die Ausbildungsaktivitäten bundesweit stärker angleichen kann.
- 2. Die Reform der Pflegeberufe wird zu gravierenden Veränderungen in der Struktur der Ausbildungen, ihrer Finanzierung und auch der Struktur der Pflegeschulen führen. Dies - und das durch die Landesfonds-Finanzierung ausschließlich bei den Ländern liegende Ausfallrisiko hinsichtlich der Finanzierungsregelungen - erfordert zwingend eine absolut rechtssichere Regelung der künftigen Ausbildungsfinanzierung. Aktuell bestehen Zweifel insbesondere aus folgenden Gründen:
- a) Fehlende Gesetzgebungskompetenz - Keine Wahrung der Wirtschaftseinheit
Durch die vorgesehene komplizierte Finanzierungssystematik mit der Verhandlung von Ausbildungsbudgets und die Einrichtung von Länderfonds wird das für eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes unverzichtbare Ziel der Wahrung der Wirtschaftseinheit bewusst gerade nicht erreicht. Eine unterschiedliche Ausgestaltung in den Ländern ist vom Bund sogar beabsichtigt. Die abweichende organisatorische und durch die zahlreichen "Stellschrauben" mögliche finanzielle Ausgestaltung der Länderfonds und das unterschiedliche Ausbildungsengagement werden dazu führen, dass die Finanzierung in den einzelnen Ländern abweichend ausgestaltet sein wird und hierdurch wirtschaftliche Unterschiede für Pflegebedürftige und Auszubildende zwischen den einzelnen Ländern gegeben sein werden. Pflegebedürftige in den Ländern werden unterschiedlich belastet.
- b) Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Artikels 3 Absatz 1 Grundgesetz
- aa) Datengrundlage und Belastungsgleichheit
Die in § 33 PflBG enthaltenen bundeseinheitlich festgelegten Prozentsätze zur Aufbringung des Finanzierungsbedarfs genügen dem Gebot der Belastungsgleichheit nicht, weil das dem Gesetzentwurf zugrundeliegende Forschungsgutachten des Bundesministeriums für Gesundheit unter verschiedenen Gesichtspunkten angreifbar ist. Das zugrundeliegende Datenmaterial ist veraltet und lückenhaft. Die Daten stammen aus einem Zeitraum, als die bundesweite Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege ihre Wirkung noch nicht entfaltet hat. Zudem berücksichtigt das Gutachten gerade nicht die Auswirkungen des künftig einheitlichen Berufsabschlusses auf den späteren Fachkräfteeinsatz. Die Bundesregierung hätte, um dem Grundsatz der Belastungsgleichheit Rechnung zu tragen, zunächst die Eckpfeiler für die zukünftige praktische und theoretische Ausbildung festgelegen müssen, um anschließend, darauf aufbauend, die finanziellen Aufwendungen und die Kostenaufteilung für diese neue Ausbildung zu ermitteln. Der Verzicht auf ein solches gestuftes Vorgehen ist nicht mehr mit einem Gestaltungs- und Prognosespielraum sowie der Möglichkeit einer Typisierung im Sinne einer Verwaltungspraktikabilität zu rechtfertigen. Vielmehr erweist sich diese Vorgehensweise der Bundesregierung als ungeeignet, eine an Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz ausgerichtete sachgerechte Verteilung des Kostenaufwandes auf die einzelnen Kostenträger festzulegen. Die Kostenaufteilung ist damit zwangsläufig gleichheitswidrig und verstößt gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz.
- bb) Aufteilung zwischen ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen
§ 33 Absatz 4 Satz 3 PflBG sieht vor, dass der auf die stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen entfallende Finanzierungsanteil im Verhältnis zu den in diesen Sektoren beschäftigten Pflegefachkräften aufgeschlüsselt wird. Dabei lässt die Regelung völlig außer Acht, dass im ambulanten Bereich von diesen Pflegefachkräften - anders als in den Pflegeheimen - neben Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch auch Leistungen nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch erbracht werden. Auch für die auf den Anteil des Fünften Buches Sozialgesetzbuch entfallenden Fachkräfte muss die Umlage gezahlt werden, die aber dann nur an die Pflegebedürftigen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch weitergegeben werden kann. Das pauschale Abstellen auf die Zahl der beschäftigten Pflegefachkräfte im ambulanten Pflegebereich führt zu einer Typisierung, die mit der tatsächlichen Aufteilung der erbrachten Leistungen nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch bzw. Elften Buch Sozialgesetzbuch nicht übereinstimmt.
- cc) Landesspezifische Fondsaufbringung und Umlageverfahren
Aufgrund des unterschiedlichen Ausbildungsengagements in den Ländern ist davon auszugehen, dass ein Land Fachkräfte in einer Zahl ausbildet, die über den im eigenen Land bestehenden Bedarf hinausgeht oder die nach der Ausbildung in andere Länder abwandern, die zwar weniger ausbilden, aber attraktivere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte bieten. Durch die landesbezogene Aufbringung der Finanzierung müssen Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die ihren Sitz in einem in diesem Sinne überobligatorisch ausbildenden Land haben, Kosten übernehmen, die für die Ausbildung von Fachkräften für Arbeitgeber in anderen Ländern benötigt werden. Gerade wenn der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht, muss er genau diese Auswirkung abstellen.
- dd) Weiterreichung der Umlagebeträge
Eine weitere verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichbehandlung besteht wegen der unterschiedlichen Refinanzierung in Krankenhäusern über das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch und Pflegeeinrichtungen über das Elfte Buch Sozialgesetzbuch. Im Ergebnis werden Patientinnen und Patienten eines Krankenhauses (volle Kostenübernahme Krankenversicherung) anders behandelt als Pflegebedürftige (eigene Kostentragung). Während die Umlagebeträge und ihre Weiterleitung damit für Krankenhäuser wettbewerbsneutral sind, stellen sie für Pflegeeinrichtungen einen negativen Wettbewerbsfaktor dar.
- ee) Wertschöpfungsanteil
Die Festlegung eines Wertschöpfungsanteils für ambulante Dienste ist verfassungswidrig. Der Einsatz von Auszubildenden bringt - wenn überhaupt - keinen annähernd vergleichbaren Mehrwert für ambulante Pflegedienste. Eine sachliche Rechtfertigung für die (durch den geringeren Anrechnungsschlüssel nur unerheblich abgeschwächte) Gleichbehandlung der ambulanten Pflegeeinrichtungen mit den stationären Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern durch die Berücksichtigung eines Anrechnungsschlüssels ist nicht zu erkennen.
- bb) Aufteilung zwischen ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen
- aa) Datengrundlage und Belastungsgleichheit
- a) Fehlende Gesetzgebungskompetenz - Keine Wahrung der Wirtschaftseinheit
- 3. Da bei einer in Gerichtsverfahren festgestellten Verfassungswidrigkeit der Regelungen zur Aufbringung der Fondsbeiträge nur die Finanzierung der Fonds, nicht aber die hieraus zu erfüllenden Zahlungsansprüche entfallen würden, träfe die Länder im Fall erfolgreicher Klagen das volle Ausfallrisiko für die Gesamtkosten der Pflegeausbildung. Daher muss im Interesse der Länder den verfassungsrechtlichen Bedenken umgehend nachgegangen werden. Jede Möglichkeit einer rechtssichereren Umsetzung ist zu nutzen. Die unter Ziffer 3 Buchstabe b bis d angesprochenen Finanzierungsmodalitäten entsprechen dem nordrheinwestfälischen Umlageverfahren und haben insoweit der gerichtlichen Überprüfung bereits Stand gehalten.