858. Sitzung des Bundesrates am 15. Mai 2009
A.
Der federführende Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
1. Zu Artikel 1 (Artikel 87d Absatz 1 Satz 1 GG)
In Artikel 1 Artikel 87d Absatz 1 Satz 1 sind die Wörter ", soweit Recht der Europäischen Gemeinschaft nicht entgegensteht" zu streichen.
Begründung
Die Verweisung auf entgegenstehendes Gemeinschaftsrecht ist überflüssig. Sie verkennt den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auch vor nationalem Verfassungsrecht. Mit dem Gemeinschaftsrecht kollidierendes nationales Recht - einschließlich Verfassungsrecht - bleibt danach im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts unangewendet. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht versteht sich von selbst, was mit dieser Formulierung geregelt werden soll.
Sofern es zu einem Anwendungskonflikt kommen sollte, weil das Gemeinschaftsrecht im Bereich der Luftverkehrsverwaltung "wesentliche Strukturen des Grundgesetzes" (BVerfGE 73, 339 - "Solange II") aushöhlt, wäre dieser Konflikt nicht durch die Verweisung auf vorrangiges Gemeinschaftsrecht zu beseitigen. Die Verweisung ist folglich auch nicht damit zu begründen, dass sie etwaige Anwendungskonflikte löste. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ginge das Grundgesetz in einem solchen Fall vor. Derartig weitreichende Entscheidungen sind den SES-Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004, ABl. L 96 vom 31.3.2004, S. 1, 10, 20, 26 (Verordnung (EG) Nr. 549/2004 zur Festlegung des Rahmens für die Schaffung des einheitlichen europäischen Luftraums, Verordnung (EG) Nr. 550/2004 über die Erbringung von Flugsicherungsdiensten im einheitlichen europäischen Luftraum, Verordnung (EG) Nr. 551/2004 über die Ordnung und Nutzung des Luftraums im einheitlichen europäischen Luftraum, Verordnung (EG) Nr. 552/2004 über die Interoperabilität des europäischen Flugverkehrsmanagementnetzes) sowie dem Verordnungsvorschlag zur Änderung dieser Verordnungen (vgl. BR-Drs. 482/08 (PDF) , KOM (2008) 388 endg. -"SES II") indes nicht zu entnehmen.
Eine Verweisung auf entgegenstehendes Gemeinschaftsrecht kann damit allein klarstellende Funktion haben. Eine ausdrückliche Klarstellung ist indes aus verfassungstechnischer Sicht bedenklich. Mit einer dynamischen Verweisung in einer Verfassungsnorm verschwimmt die Differenzierung von Verfassung und Gesetz; Artikel 87d Absatz 1 GG-E erhielte den Anstrich eines einfachen Gesetzes oder gar einer untergesetzlichen Norm.
2. Zu Artikel 1 (Artikel 87d Absatz 1 Satz 1 und 2 GG)
Der Bundesrat bittet, im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob von dem "Verwaltungsmodell" der Flugsicherung zugunsten eines "Dienstleistungsmodells" abgerückt werden kann.
Begründung
Die vorgesehene Ausgestaltung der Luftverkehrsverwaltung als "Bundesverwaltung" im Hinblick auf die europarechtlichen Vorgaben der SES-Verordnungen soll den von Bundespräsident Köhler im Jahr 2006 geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen ein Beleihungsmodell der Flugsicherung Rechnung tragen. Sie geht von dem tradierten Verständnis der Flugsicherung als "Luftpolizei" und damit als Teilbereich der Luftverkehrsverwaltung aus, das im Lichte des Gemeinschaftsrechts zu überdenken ist. Zudem begegnet sie Zweifeln in Hinblick auf ihre Zukunftsfähigkeit.
- a) Zwar ist der Betrieb der operativen Flugsicherung nach dem überkommenen Verfassungsverständnis der Luftverkehrsverwaltung zugeordnet; davon geht auch der Bundespräsident implizit aus. Zwingend ist ein derartiges Verständnis aber nicht. Insbesondere trägt ein solches Verständnis nicht den Vorgaben der SES-Verordnungen Rechnung. Dort wird die operative Flugsicherung durchgehend als Dienstleistung bezeichnet, die sowohl von Privaten als auch vom Staat erbracht werden kann. Ausdrücklich werden Kommunikations-, Navigations- und Überwachungsdienste (CNS-Dienste - Communication, Navigation, Surveillance) sowie Flugberatungsdienste nach Erwägungsgrund 13 zur Verordnung (EG) Nr. 550/2004 zu Marktbedingungen organisiert. Legt man den Begriff der Luftverkehrsverwaltung folglich im Lichte der SES-Verordnungen aus, ist die operative Flugsicherung keine hoheitliche Aufgabe. Eine Beleihung der Flugsicherungsorganisation wäre, folgte man dieser Ansicht, nicht erforderlich.
- b) Das angestrebte "Verwaltungsmodell" für die Flugsicherung anstelle eines "Dienstleistungsmodells" dürfte sich als nicht zukunftsfähig erweisen. Die Vorteile des "Verwaltungsmodells" liegen auf der Hand: Am bestehenden System muss nicht viel geändert werden. Das beginnt beim Verständnis der Flugsicherung als "Luftpolizei" und endet mit dem Aufgabenbereich der Deutschen Flugsicherung (DFS). Diese wird im "Verwaltungsmodell" durch einfaches Gesetz beliehen. Diese Vorteile werden jedoch von dem Nachteil überwogen, dass das "Verwaltungsmodell" vermutlich nicht lange aufrecht erhalten werden kann. Die (dynamische) Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht muss als derartiges Eingeständnis verstanden werden. Die Flugsicherung wird gemeinschaftsrechtlich bereits heute als Dienstleistung begriffen. Dass das "Verwaltungsmodell" mit den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zu vereinbaren ist, dürfte allein an Artikel 8 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 550/2004 liegen. Demnach steht es im Ermessen der Mitgliedstaaten, einen Dienstleister für Flugverkehrsdienste auszuwählen, sofern dieser bestimmte Anforderungen erfüllt und zertifiziert ist. Die SES-Verordnungen verlangen damit keine Marktöffnung. Dies soll indes geändert werden. Die Begründung verweist auf die anstehende Änderung von Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 550/2004, nach der Mitgliedstaaten die Benennung einer Flugsicherungsorganisation im eigenen Luftraum nicht mehr mit der Begründung verweigern können, dass diese in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist oder sich im Eigentum von Staatsangehörigen jenes Staates befindet oder nur Einrichtungen in dem betreffenden Staat zu nutzen hat (vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 549/2004, (EG) Nr. 550/2004, (EG) Nr. 551/2004 und (EG) Nr. 552/2004 im Hinblick auf die Verbesserung der Leistung und Nachhaltigkeit des europäischen Luftverkehrssystems - SES II -, KOM (2008) 388 endg., vgl. BR-Drs. 482/08 (PDF) ). Würde die Verordnung wie von der Kommission vorgeschlagen in Kraft treten, wäre das Beleihungsmodell kaum aufrechtzuerhalten. Eine solche Gefahr scheint jedenfalls derzeit gebannt. Die Kommission ist nämlich bereits im November 2008 auf Druck der Mitgliedstaaten von der weitreichenden Änderung abgerückt und beschränkt die Nichtdiskriminierung auf grenzüberschreitende Flugsicherungsdienste. Auch das Europäische Parlament hat den Vorschlag in Erster Lesung am 25. März 2009 mit dieser Änderung angenommen. Für die rein innerstaatliche Flugsicherung bleibt es damit bei der bisherigen Regelung des Artikels 8 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 550/2004. Die Tendenz der Kommission zur Marktöffnung, Reduzierung der Anzahl von Flugsicherungsorganisationen und großräumiger Aufgabenerfüllung im Rahmen der Luftblöcke ist jedoch klar; entsprechende Regelungsvorschläge für die Zukunft sind also zu erwarten.
- c) Auch wenn das "Verwaltungsmodell" nicht schon mit Inkrafttreten der SES-II-Verordnungen hinfällig wird, wäre ein "Dienstleistungsmodell" in dem Sinn zukunftsfähiger, als es sich in die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zum Einheitlichen Europäischen Luftraum zwanglos einpassen würde und auch bei weiteren Gemeinschaftsrechtsänderungen Bestand hätte. Gegen das "Dienstleistungsmodell" können Sicherheitsbedenken kaum ins Feld geführt werden. Denn den besonders hohen Sicherheitsanforderungen an den Betrieb der Flugsicherung tragen bereits jetzt die Vorschriften der Verordnung (EG) Nummer 550/2004 über die Qualitätsanforderungen und die Zertifizierung der Flugsicherungsorganisationen sowie über die staatliche Aufsicht über die Organisationen Rechnung.
- d) Ob das "Dienstleistungsmodell" eine Verfassungsänderung erforderlich machte, wäre im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen. Unterscheidet man - ganz im Sinne der SES-Verordnungen - zwischen der hoheitlichen Flugsicherungsaufsicht, die der Luftverkehrsverwaltung zuzurechnen ist, und der "operativen" Flugsicherung, könnte es bei der derzeitigen Regelung einer Bundeseigenverwaltung bleiben. Zu bedenken wäre allenfalls eine Klarstellung in Artikels 87d Absatz 1 GG, nach der die operative Flugsicherung nicht der Luftverkehrsverwaltung zugerechnet wird.
- e) Folgte man dem "Dienstleistungsmodell", könnte auch auf Artikel 87d Absatz 1 Satz 2 GG-E verzichtet werden. Die Regelung zielt ersichtlich auf die verfassungsrechtliche Absicherung der bislang schon praktizierten Nutzung der Dienste ausländischer Flugsicherungsorganisationen auf Regionalflughäfen und im Grenzbereich zur Schweiz ab. Eine Regelung ist, will man die Praxis aufrechterhalten - woran keine Zweifel bestehen -, aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten. Sie wäre in einem "Dienstleistungsmodell" vermutlich überflüssig. Auf den durch Satz 2 zugelassenen Systembruch könnte verzichtet werden, die Regelung des Artikels 87d Absatz 1 GG bliebe in sich konsistent.
- f) Ein umsichtiger Verfassungsgesetzgeber ist dazu aufgerufen, Verfassungsnormen nur behutsam anzupassen und ihre grundlegende Funktion zu beachten, rechtliche Grundsätze für politische Entscheidungen bereitzustellen und Einzelentscheidungen gerade nicht zu regeln. In dieser Funktion unterscheidet sich die Verfassung gerade vom einfachen Gesetz. Die vorgesehene Änderung des Artikels 87d Absatz 1 GG müsste in diesem Sinne grundlegend überdacht werden.
B.
- 3. Der Ausschuss für Fragen der Europäischen Union, der Ausschuss für Innere Angelegenheiten und der Verkehrsausschuss empfehlen dem Bundesrat, gegen den Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes keine Einwendung zu erheben.