Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 19. Januar 2006 angenommen.
Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage in Tschetschenien nach den Wahlen und zur Zivilgesellschaft in Russland Das Europäische Parlament,
- - unter Hinweis auf das Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit1 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits, das am 1. Dezember 1997 in Kraft getreten ist,
- - in Kenntnis des Ziels der Europäischen Union und Russlands, die auf dem EURussland-Gipfel am 10. Mai 2005 vereinbarten vier "gemeinsamen Räume" zu schaffen
- - unter Hinweis auf seine Entschließung vom 26. Mai 2005 zu den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland2,
- - unter Hinweis auf seine Entschließung vom 15. Dezember 2005 zu den Menschenrechten in Russland und den neuen NGO-Gesetzen3,
- - unter Hinweis auf die Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und ihre fünf Protokolle,
- - unter Hinweis auf die vielen glaubwürdigen Berichte russischer und internationaler NGOs über fortgesetzte schwere Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Verfahren, die Tschetschenien betreffen,
- - gestützt auf Artikel 103 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,
1 ABl. L 327 vom 28.11.1997, S. 3.
2 Angenommene Texte, P6_TA(2005)0207.
3 Angenommene Texte, P6_TA(2005)0534.
A. in der Erwägung, dass am 29. November 2005 der britische EU-Ratsvorsitz die Parlamentswahlen, die am 27. November 2005 in der russischen Teilrepublik Tschetschenien stattgefunden haben, begrüßt hat und diese Wahlen als bedeutenden Schritt zur Vertretung eines breiteren Meinungsspektrums in der tschetschenischen Gesellschaft bezeichnet hat,
B. in der Erwägung, dass die Kommission es als ermutigend bezeichnet hat, dass diese Parlamentswahlen, die ersten in Tschetschenien seit acht Jahren, ohne größere gewaltsame Zwischenfälle verlaufen seien, es jedoch abgelehnt hat, sich zur Fairness dieser Wahlen zu äußern,
C. in der Erwägung, dass Menschenrechtsaktivisten in einem offenen Brief an die Europäische Union, der von der russischen Menschenrechtsgruppe Memorial, der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte, der Gesellschaft für russischtschetschenische Freundschaft und anderen, einschließlich der in Paris ansässigen Internationalen Föderation für Menschenrechte, unterzeichnet wurde, der Europäischen Union vorwerfen, sie beschönige durch ihre optimistische Einschätzung dieser Wahlen die Wirklichkeit, und unterstreichen, dass diese Erklärung nicht nur den von russischen und internationalen Menschenrechtsaktivisten zusammengetragenen Nachweisen widerspricht , sondern auch das Bekenntnis der Europäischen Union zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Frage stellt,
D. in der Erwägung, dass die offiziell genannte Wahlbeteiligung von 57 % von Memorial in Frage gestellt wurde, die behauptet, dass die Beteiligung viel geringer gewesen und die Abstimmung durch weit verbreitete Betrügereien und Akte der Einschüchterung beeinträchtigt worden sei,
E. in der Erwägung, dass in Tschetschenien und in einigen Fällen in den Nachbarregionen im Nordkaukasus nach wie vor schwere Menschenrechtsverletzungen wie Mord, gewaltsames Verschwinden, Folter, Geiselnahmen und willkürliche Festnahmen begangen werden,
F. in der Erwägung, dass die russische Regierung zahlreiche Zuständigkeiten im Bereich Terrorismusbekämpfung von den föderalen Behörden auf lokale Behörden übertragen hat um so den Anschein zu erwecken, bei dem seit nunmehr zehn Jahren andauernden Konflikt zwischen Russland und Tschetschenien handele es sich um eine interne tschetschenische Auseinandersetzung, bei der es, wie in einem unlängst vorgelegten gemeinsamen Bericht der Helsinki-Föderation, der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, des norwegischen Helsinki-Komitees und Memorial dargelegt wird, zu einer Brutalisierung des Vorgehens der Konfliktparteien und allgegenwärtiger Angst und Unsicherheit unter der Zivilbevölkerung gekommen ist,
G. in der Erwägung, dass zahlreiche Entführungen, Folterungen und willkürliche Morde, zu denen es in den vergangenen zwei Jahren in Tschetschenien gekommen ist, tschetschenischen paramilitärischen Kräften zugeschrieben werden,
H. in der Erwägung, dass die in Tschetschenien begangenen Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen weitgehend ungestraft bleiben, so dass ein Klima der Straffreiheit entstanden ist, das sich von der Republik Tschetschenien und der Republik Inguschetien auf weitere Regionen des Nordkaukasus, unter anderem auf Nordossetien und in jüngster Zeit Kabardino-Balkaria, ausbreitet,
I. in der Erwägung, dass sich die Demokratie in Russland in den letzten Jahren weiter deutlich verschlechtert hat, insbesondere durch Zunahme der staatlichen Kontrolle über die wichtigsten Fernseh- und Radiosender, die Verbreitung der Selbstzensur unter den Printmedien, die Schließung unabhängiger Medien, Beschränkungen des Rechts auf Veranstaltung öffentlicher Demonstrationen, die Verschlechterung des Klimas für NGOs einschließlich Fällen der Schikanierung von Menschenrechtsaktivisten und eine verstärkte politische Kontrolle der Justiz,
J. unter Betonung der Tatsache, dass die Konsultationen zwischen der Europäischen Union und Russland zu Menschenrechtsfragen bislang keine großen Fortschritte in diesem Bereich gezeitigt haben, der in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland eine vorrangige Stellung einnehmen sollte,
K. in der Erwägung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 20. Dezember 2005 eine Beschwerde im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Ruslan Alichadijew, dem ehemaligen Präsidenten des aus fairen Wahlen hervorgegangenen Parlaments der autoproklamierten Tschetschenischen Republik Itschkeria, für zulässig erklärt hat; in der Erwägung, dass eine von der tschetschenischen Staatsanwaltschaft eingeleitete Untersuchung ergebnislos blieb und die russische Regierung es abgelehnt hat, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Ermittlungsakten zur Verfügung zu stellen,
L. in der Erwägung, dass die Kommission am 13. Dezember 2005 6 000 000 EUR bereitgestellt hat, um den Opfern der andauernden Krise im Nordkaukasus zu helfen, womit sich die Gesamthilfe der Europäischen Union für diese Region im Jahr 2005 auf 26 300 000 EUR erhöht und das Programm weltweit zur fünftgrößten humanitären Hilfsoperation der Europäischen Union und die Europäische Union zum wichtigsten Geldgeber in der Region wird,
M. in der Erwägung, dass die Gesetzesvorlage, die die Tätigkeit von NGOs in Russland einschränkt am 23. und 27. Dezember mit geringfügigen Änderungen von beiden Kammern des Parlaments angenommen wurde und nur noch von Präsident Putin unterzeichnet werden muss, um Gesetzeskraft zu erlangen,
N. in der Erwägung, dass NGOs einschließlich Memorial, der Moscow Helsinki Group und des Moscow Bureau For Civil Rights in einem Schreiben an den russischen Außenminister Sergey Lawrow vom 28. Dezember 2005 unterstrichen haben, dass zahlreiche Aspekte des Gesetzes weiterhin gegen das Völkerrecht, die russische Verfassung, das russische Zivilgesetzbuch und zahlreiche russische Gesetze verstoßen,
O. in der Erwägung, dass die Vereinigungsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht darstellt und für eine demokratische Gesellschaft von großer Bedeutung ist,
P. zutiefst beunruhigt über die Zunahme rassistisch motivierter Gewalt in Russland,
Q. in der Erwägung, dass der Prozess gegen Stanislaw Dmitrijewski, dem die Veröffentlichung des Aufrufs von Aslan Maschkadow zum Frieden in Tschetschenien in seiner Zeitung vorgeworfen wird und dem somit fünf Jahre Haft drohen, am 18. Januar 2006 wieder aufgenommen wurde,
- 1. wiederholt, dass es jegliche Terrorakte in der Russischen Föderation auf das Schärfste verurteilt für diese kann es keinerlei Rechtfertigung geben;
- 2. ist tief besorgt, dass Rat und Kommission nicht in der Lage waren, auf die andauernden Menschenrechtsverletzungen in der Republik Tschetschenien in geeigneter Weise zu reagieren obwohl die zahlreichen von beiden Konfliktparteien in einem Klima fast vollständiger Straffreiheit begangenen Menschenrechtsverletzungen nach wie vor andauern
- 3. fordert den Rat und die Kommission auf, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Europäischen Union vorzugehen;
- 4. fordert den Rat und die Kommission auf, eine aktive Rolle bei der Verhinderung weiterer Menschenrechtsverletzungen und bei der Überwindung des Klimas der Straffreiheit in der Republik Tschetschenien zu übernehmen und gegenüber den russischen Behörden darauf zu drängen, dass alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden damit die Rechte, die in der auch von Russland unterzeichneten Europäische Menschenrechtskonvention verankert sind, in der Republik Tschetschenien uneingeschränkt respektiert werden und all jene, die diese Rechte missachten, ungeachtet ihrer Stellung oder Nationalität unverzüglich juristisch zur Verantwortung gezogen werden;
- 5. bedauert, dass bei der Vorbereitung und Durchführung der Parlamentswahlen in Tschetschenien eine Gelegenheit für einen wirklichen politischen und demokratischen Prozess unter Einbeziehung aller Teile der tschetschenischen Gesellschaft versäumt wurde
- 6. bekräftigt seine volle Unterstützung für die territoriale Unversehrtheit der Russischen Föderation, weist jedoch darauf hin, dass es keine militärische Lösung für den Tschetschenien-Konflikts geben kann, und fordert die Einleitung eines wirklichen Friedensprozesses, der darauf ausgerichtet ist, eine politische Regelung auszuhandeln, die auf einem Dialog zwischen allen demokratischen Kräften der tschetschenischen Gesellschaft basiert;
- 7. fordert die russischen Behörden auf, den derzeitigen Zustand der Straffreiheit zu beenden indem die paramilitärischen Gruppen aufgelöst werden, den Aktivitäten der Sicherheitskräfte Schranken gesetzt werden und die Armee der uneingeschränkten zivilen Kontrolle unterstellt wird;
- 8. fordert den Rat und die Mitgliedstaaten auf, die Tschetschenien-Frage bei ihren politischen Treffen, im Dialog über Menschenrechtsfragen und bei anderen Treffen mit der Russischen Föderation immer wieder zur Sprache zu bringen, um sicherzustellen, dass sich dieser Bereich nicht der internationalen Aufmerksamkeit und Sorge entzieht;
- 9. fordert eine Intensivierung der Konsultationen zwischen der Europäischen Union und Russland zu Menschenrechtsfragen, die effizienter gestaltet, gegebenenfalls für NGOs geöffnet und ergebnisorientiert geführt werden sollten, um diese Komponente in dem neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, das demnächst ausgehandelt werden soll, zu stärken;
- 10. fordert den Rat und den amtierenden Ratsvorsitz auf, weitere Anstrengungen zu unternehmen um Russland bei der Suche nach einer friedlichen Lösung des Konflikts zu unterstützen, wozu auch ein Vermittlungsangebot der Europäischen Union gehören würde unterstreicht, dass die Europäische Union mit einer Stimme sprechen und sich an die im Rahmen der GASP gegenüber Russland vereinbarten Positionen halten muss;
- 11. fordert die Russische Staatsduma auf, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, um aufzuklären warum die Strafverfolgungsbehörden in der Republik Tschetschenien es versäumt haben, diejenigen, die schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben, wie dies von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert wird, zur Verantwortung zu ziehen; weist darauf hin, dass bisher nur wenige Fälle vor Gericht gekommen sind und die Verfahren in den meisten Fällen ausgesetzt, weiterüberwiesen oder abgewiesen wurden;
- 12. betont, dass besonderer Wert auf die Aufklärung von Verbrechen gelegt werden muss, die gegen Menschenrechtsaktivisten, Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Richter und Personen, die Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerichtet haben, und deren Angehörige verübt wurden;
- 13. fordert in diesem Zusammenhang die russischen Behörden auf, die Ermittlungen und Strafverfahren gegen Generalmajor Wladimir Schamanow und Generalmajor Jakow Nedobitko wieder aufzunehmen, die beide vor Gericht gestellt und für die Dauer der Ermittlungen ihrer Funktionen enthoben werden sollten, da sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte der unterschiedslosen Bombardierung tschetschenischer Zivilisten in Katyr-Jurt im Februar 2000 für schuldig befunden wurden
- 14. fordert die Mitgliedstaaten der Europäischen Union für den Fall, dass das Klima der Straffreiheit weiter andauert, auf, in Übereinstimmung mit internationalem Recht und auf der Grundlage entsprechender Präzedenzfälle und mit russischer Zustimmung die Einrichtung eines gemischten internationalen Adhoc-Tribunals für Tschetschenien voranzutreiben um diejenigen, die in der Republik Tschetschenien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt haben, vor Gericht zu bringen;
- 15. fordert die russischen Behörden auf, das Terrorismus-Gesetz von 1998 zu ändern, um es mit den Normen des Europarats in Einklang zu bringen, insbesondere was die Befugnisse und Zuständigkeiten von Personen betrifft, die Anti-Terrormaßnahmen durchführen
- 16. fordert die Kommission nachdrücklich auf zu untersuchen, ob die von ihr für den Nordkaukasus geleistete humanitäre Hilfe tatsächlich die Hilfsbedürftigen erreicht hat, und die Wirksamkeit dieser Hilfe zu prüfen;
- 17. ist besorgt über Berichte über administrative und richterliche Schikanen gegen einige in Tschetschenien tätige NGOs, die Teil eines generelleren Prozesses der Bedrohung der freien Meinungsäußerung und der Vereinigungsfreiheit in der Russischen Föderation zu sein scheinen, und fordert die russischen Behörden auf, diese Schikanen zu beenden;
- 18. betont, dass starke und unabhängige Menschenrechtsorganisationen mit ihrer Arbeit sowohl den demokratischen Prozess als auch den Kampf gegen die Straffreiheit in der Republik Tschetschenien fördern, und fordert Russland auf, unabhängigen Medien, internationalen und inländischen humanitären Organisationen und Menschenrechtsbeobachtern uneingeschränkten Zugang zu Tschetschenien zu gewähren und so weit wie möglich dazu beizutragen, dass ihnen sichere Arbeitsbedingungen eingeräumt werden;
- 19. fordert, dass alle Anklagepunkte gegen Stanislaw Dmitrijewski fallen gelassen werden, und fordert die russischen Behörden auf, die Freiheit der Medien und Journalisten zu achten;
- 20. bedauert, dass die Gesetzesvorlage zur Verschärfung der staatlichen Kontrolle von NGOs in Russland die beiden Häuser des Parlaments ohne Probleme passiert hat und den vom Europarat in seiner vorläufigen Stellungnahme zu dieser Frage ausgesprochenen Empfehlungen nicht in vollem Umfang Rechnung trägt; hofft, dass Präsident Putin noch bevor er die Vorlage unterzeichnet, um ihr Gesetzeskraft zu verleihen sicherstellen kann, dass das Gesetz im Einklang mit den Empfehlungen des Europarats steht und klar darauf ausgerichtet ist, die Verfolgung von NGO-Aktivisten in Russland zu verhindern;
- 21. fordert in diesem Zusammenhang den Rat und die Kommission auf, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Entwicklung und Konsolidierung einer starken lebendigen, unabhängigen und echten Zivilgesellschaft in Russland als grundlegendes und unverzichtbares Elements einer funktionierenden Demokratie zu unterstützen
- 22. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Parlamenten und Regierungen der Mitgliedstaaten, der Regierung und dem Parlament der Russischen Föderation und dem Europarat zu übermitteln.