Empfehlungen der Ausschüsse
Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung
(Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz - PNG)

900. Sitzung des Bundesrates am 21. September 2012

A

Begründung:

Das Gesetz bleibt hinter den Notwendigkeiten und den Erwartungen zurück. Es wird seinem Namen nicht gerecht. Die erforderliche Neuausrichtung der Pflege ist wieder einmal verschoben worden.

Die Bundesregierung hat es versäumt, die notwendigen Weichen für eine umfassende, solidarische, gerechte und zukunftssichere Reform der Pflege zu stellen. Das vom damaligen Bundesminister für Gesundheit Dr. Rösler für 2011 angekündigte "Jahr der Pflege" ist ungenutzt verstrichen. Die Bundesregierung hat es zu Beginn der Legislaturperiode versäumt, die detaillierten Vorschläge zur Umsetzung der Beiratsergebnisse zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff aufzugreifen.

Einzelne im Gesetz enthaltene Maßnahmen, insbesondere die teilweise höheren Leistungen für Menschen mit Demenz sowie die Ansätze zur Flexibilisierung des Leistungsrechts, gehen zwar in die richtige Richtung; weil aber die Bundesregierung kein Gesamtkonzept für die Zukunft der Pflege hat, wird mit diesen Einzelmaßnahmen keine Neuausrichtung der Pflege im Sinne einer nachhaltigen Verbesserung erreicht.

Für ein Gesetz zur nachhaltigen und umfassenden Reform der Pflege wären vielmehr folgenden Elemente von zentraler Bedeutung:

Die Begrenzung des Leistungsanspruchs in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen ist zu streichen. Es darf keinen Ausschluss von Menschen mit Behinderung von den Leistungen der Pflegeversicherung geben.

Die Koordinierung gesundheitlicher und pflegerischer Hilfen sowie die medizinische Rehabilitation und aktivierende Pflege sind über die im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen hinaus zu verbessern. Dazu ist beispielsweise die Begutachtung der Rehabilitationsfähigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen um notwendige Maßnahmen der aktivierenden Pflege zu ergänzen. Zudem ist sicherzustellen, dass der in § 40 SGB V verankerte Rechtsanspruch auf medizinische Rehabilitation eingelöst wird. Die bestehende Sanktionsregelung bei nicht rechtzeitig erbrachten Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ist dafür nicht ausreichend. Vor dem Hintergrund der oft eingeschränkten Mobilität pflegebedürftiger und von Pflegebedürftigkeit bedrohter Menschen sind darüber hinaus insbesondere im Bereich der Rehabilitation wohnortnahe, ambulante Strukturen anzustreben. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Rahmenbedingungen der geriatrischen Rehabilitation zu verbessern, damit entsprechende Angebote insgesamt deutlich ausgebaut werden.

Die geplanten Detailänderungen allein reichen für umfassende sozialrechtliche Verbesserungen für pflegende Angehörige nicht aus. Insbesondere vor dem Hintergrund des Rückgangs familialer Pflegepotentiale sind im Bereich der Angehörigenpflege verstärkte Anreizsetzungen notwendig. Ein wirklicher Mehrwert kann nur durch deutlich weiterführende Leistungen erreicht werden.

B

Der Gesundheitsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, zu dem vom Deutschen Bundestag am 29. Juni 2012 verabschiedeten Gesetz zu verlangen, dass der Vermittlungsausschuss gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes aus folgenden Gründen einberufen wird:

2. Zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe i (Inhaltsübersicht, Dreizehntes Kapitel), Nummer 47 (§ 121 Absatz 1 Nummer 6 und 7 und Absatz 3 SGB XI), Nummer 49 (Dreizehntes Kapitel, §§ 126 bis 130 SGB XI) und Artikel 15 (§ 12f Satz 1 und § 8ld Absatz 1 Satz 3 VAG)*

Begründung:

Das Gesetz bleibt hinter den Notwendigkeiten und den Erwartungen an eine umfassende und zukunftsfeste Reform zurück. Die Bundesregierung hat es versäumt, die notwendigen Weichen für eine umfassende, solidarische, gerechte und zukunftssichere Reform der Pflege zu stellen.

Zwar gehen einzelne in dem Gesetz enthaltene Maßnahmen, insbesondere die teilweise höheren Leistungen für Menschen mit Demenz sowie die Ansätze zur Flexibilisierung des Leistungsrechts, in die richtige Richtung. Ohne Einbettung in ein systemisch stimmig gestaltetes leistungsrechtliches Gesamtkonzept für die Zukunft der Pflege wird mit diesen Einzelmaßnahmen keine Neuausrichtung der Pflege im Sinne einer nachhaltigen Verbesserung erreicht.

Nach den eigenen Berechnungen der Bundesregierung stellt die geplante Beitragserhöhung im Umlageverfahren die Finanzierung der Ausgaben nur bis zum Jahr 2015 sicher. Ergänzend soll eine private Pflege-Zusatzversicherung in Form einer Risikoversicherung die Pflege finanziell sicherstellen.

Beide Annahmen der Bundesregierung gehen fehl:

Zu den Mengengerüsten geht die Bundesregierung in ihren Finanzierungsüberlegungen davon aus, dass lediglich 40 000 Personen unterhalb der Pflegestufe I von den Leistungen des neuen § 123 Absatz 2 SGB XI profitieren. Bereits im schriftlichen Anhörungsverfahren zum Referentenentwurf hat Nordrhein-Westfalen diese Zahl als deutlich zu niedrig angezweifelt und auf die daraus folgenden Konsequenzen für die Finanzierung der Pflegeversicherung hingewiesen. Diese Bewertung hat sich bestätigt: Auf der Grundlage unabhängiger Berechnungen der Pflegekassen ist nicht auszuschließen, dass die Zahl von Erstantragstellern bis zum zehnfachen über den Berechnungen der Bundesregierung liegen wird. Die tatsächlichen Mehraufwendungen für diese Personen können sich über die Schätzungen der Bundesregierung hinaus deutlich im dreistelligen Millionenbereich bewegen. Für Abweichungen von ihren Zahlen, schon gar nicht im erheblichen Ausmaß, trifft die Bundesregierung im Gesetz keine Vorsorge. Hinzu ist als weitere Folge eine hohe Belastung der Pflegekassen durch Probleme bei der Bewältigung von Massenantragsverfahren nicht auszuschließen, in denen künftig Strafzahlungen bei zu langer Bearbeitung fällig werden.

Das Konzept der privaten Pflege-Zusatzversicherung ist aus verschiedenen Gründen entschieden als untauglich abzulehnen, da es in erster Linie zu Mitnahmeeffekten bei Menschen mit guten Einkommen führen wird, das Pflegesystem selbst nicht zukunftsfest finanziert und sich letztlich auf eine Zuführung von Geld in die private, gewinnorientierte Versicherungswirtschaft reduziert.

Die Leistungen aus dem neuen Versicherungssystem werden nicht nach individuellen Versorgungsnotwendigkeiten erbracht, sondern nach dem Zufallsprinzip (wer hat einen Vertrag und wer nicht). Menschen mit Sozialhilfebezug können ihre Pflegesituation nicht verbessern, da die privat angesparten Leistungen auf die Sozialhilfe angerechnet werden. Personen mit geringem Einkommen werden häufig nicht in der Lage sein, den eigenen Finanzierungsanteil aufzubringen, finanzieren aber im Ergebnis über ihre Steuern die staatliche Zulage für Menschen mit, die sich eine derartige Zusatzversicherung leisten können. Für wirtschaftlich leistungsstarke und im Durchschnitt auch jüngere und gesündere Bevölkerungsgruppen werden Anreize gesetzt, sich im Ergebnis dem Solidarausgleich zu entziehen.

Mit der durch dieses Konzept faktisch herbeigeführten Dreiteilung der Pflegefinanzierung in soziale Pflegeversicherung, private Pflegepflichtversicherung und private Zusatzversicherung wird die Hauptsäule "Soziale Pflegeversicherung" geschwächt. Ungeachtet der unsolidarischen und wenig durchdachten Einzelregelungen ist zu befürchten, dass die geplante private Pflegevorsorge einen Einstieg in eine umfassende Privatisierung des Pflegerisikos und damit den Beginn des Ausstiegs aus dem solidarischen System bedeutet.

Dieser Prozess dürfte auch unumkehrbar sein. Aus den privaten Verträgen resultieren zivilrechtliche Anwartschaften und langfristige finanzielle Festlegungen sowohl aus Perspektive der Betroffenen als auch im Zusammenhang mit der geplanten Zulage aus Bundesmitteln für den Bundeshaushalt. Derartige Festlegungen schränken perspektivisch die finanziellen Spielräume für die notwendigen Reformschritte zu Lasten der Mehrzahl pflegebedürftiger Menschen, ihrer Angehörigen - aber auch der nachgelagerten Sozialhilfe - unnötig ein.

Eine entsolidarisierende Politik ist mit dem Prinzip der Solidarversicherung nicht vereinbar. Gerechtigkeitslücken in der Pflegeversicherung werden nicht behoben, sondern durch die Einführung dieser privaten Zusatzversicherung noch ausgeweitet.

Was unabhängig von grundsätzlichen Erwägungen überfällig ist und unverzüglich geleistet werden muss, ist eine grundsätzliche Überprüfung der bisherigen Finanzierungsrechnungen durch die Bundesregierung noch vor Inkrafttreten des Pflege-Neuausrichtungsgesetzes. Es muss sichergestellt werden, dass die Pflegeversicherung nicht in eine erhebliche finanzielle Schieflage gerät.

3. Zu Artikel 1 Nummer 28 Buchstabe b (§ 72 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 SGB XI)*

In Artikel 1 Nummer 28 ist Buchstabe b zu streichen.

Begründung:

Eine Begrenzung der Regelung zur ortsüblichen Arbeitsvergütung auf diejenigen Beschäftigten, die "nicht von einer Verordnung über Mindestentgeltsätze aufgrund des Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz) erfasst sind", führt im Ergebnis zu einer Schlechterstellung derjenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen ein Mindestentgelt zu zahlen ist, das in der Regel unterhalb der ortsüblichen Arbeitsvergütung liegt. Die Anforderungen an die Einrichtungen werden insoweit reduziert und ein Druck auf das Lohnniveau provoziert, insbesondere für Einrichtungen, die keiner tariflichen Bindung unterliegen.

Auch die Änderungen in §§ 84 und 89 SGB XI vermögen diese Diskrepanz nicht zu lösen. Die Orientierung am Mindestlohn führt zur Absenkung des Lohnniveaus gerade für die Bereiche, die durch Festlegung einer Untergrenze vor Lohndumping geschützt werden sollen. Durch die Orientierung an einer Untergrenze anstelle der Ortsüblichkeit, erwächst die intendierte Absicherung vor Lohndumping für die betroffene Beschäftigtengruppe zu einem erheblichen Nachteil, der eine Rechtfertigung missen lässt. Daher ist die Ergänzung des § 72 SGB XI zu streichen.

4. Zu Artikel 1 Nummer 48 (§ 123 Absatz 5 - neu - SGB XI)

In Artikel 1 Nummer 48 ist dem § 123 folgender Absatz 5 anzufügen:

(5) Die nach dieser Vorschrift gewährten Pflegesachleistungen können auch für die Inanspruchnahme anerkannter niedrigschwelliger Betreuungsangebote nach § 45b Absatz 1 Satz 6 Nummer 4 verwendet werden."

Begründung:

Aus der Öffnung des ambulanten Sachleistungsanspruchs auch für Betreuungsleistungen im Gesetz ergibt sich eine ungelöste Schnittstelle zu den zusätzlichen Betreuungsleistungen nach § 45b SGB XI.

Auf der einen Seite können zugelassenen Pflegedienste jetzt sowohl nach § 36/§ 123 des Gesetzes als auch - bereits nach gegenwärtiger Rechtslage - nach § 45b Absatz 1 Satz 6 Nummer 3 SGB XI Betreuungsleistungen erbringen. Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit dieser Finanzierung aus beiden Quellen für die nach Landesrecht anerkannten niedrigschwelligen Angebote im Sinne des § 45b Absatz 1 Satz 6 Nummer 4 SGB XI nicht.

Insofern wird angeregt, den Leistungsrahmen nach § 123 des Gesetzes mit dem Ziel zu öffnen, den Betroffenen ein Wahlrecht einzuräumen, das die Erbringung von Betreuungsleistungen durch nach Landesrecht anerkannte Angebote sowohl auf der Grundlage des § 123 des Gesetzes als auch des § 45b SGB XI erlaubt. Diese Flexibilisierung würde es ermöglichen, den Einkauf der unterschiedlichen Sachleistungen (ehrenamtliche Betreuung, professionelle Betreuung, somatische Pflege) jeweils nach dem individuellen Verhältnis von Pflege- und Betreuungsbedarf an die Situation des einzelnen Betroffenen anzupassen.