950. Sitzung des Bundesrates am 4. November 2016
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Frauen und Jugend (FJ) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
Allgemeines
- 1. Der Bundesrat betont die Bedeutung der internationalen Gemeinschaft bei der Bewältigung der Herausforderungen in der Asyl- und Migrationspolitik, die nicht zuletzt durch die Wahl des portugiesischen Diplomaten und ehemaligen Chefs des UN-Flüchtlingskommissariats António Guterres zum UN-Generalsekretär unterstrichen wird. Von der EU wird erwartet, dass sie ihrem Rang als weltpolitischer Akteur gerecht wird und angemessene Lösungen für die Herausforderungen angesichts der großen Zahl von Geflüchteten und Schutzsuchenden findet.
- 2. Der Bundesrat bedauert die geringen Fortschritte bei der gerechten Umverteilung von Geflüchteten in der EU. Sie offenbaren eine mangelnde Bereitschaft, den Werten und Zielen der EU gemäß Artikel 2ff. EUV in allen Mitgliedstaaten gerecht zu werden. Vor dem Hintergrund dieser problematischen Ausgangslage erkennt der Bundesrat das Bemühen der Kommission ausdrücklich an, gemeinsame europäische Rahmenbedingungen und Standards für die Asylpolitik zu setzen.
- 3. Der Bundesrat teilt grundsätzlich die Zielsetzung der Kommission, das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu verbessern und durch eine stärkere Harmonisierung zu gewährleisten, dass Asylsuchende überall in der EU gleich und in angemessener Weise behandelt werden und den notwendigen Schutz erhalten, und mit der Neufassung der Dublin-Verordnung eine gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen.
- 4. Der Bundesrat betont, dass die Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele nur nach Maßgabe der Grundrechtecharta, insbesondere Artikel 18 der Charta der Grundrechte der EU, bzw. des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie der bestehenden Verträge ergriffen werden dürfen.
- 5. Der Bundesrat begrüßt, dass mit der Neufassung der Dublin-Verordnung deren Effizienz verbessert, Missbrauch entgegengewirkt und Sekundärmigration von Antragstellenden auf internationalen Schutz innerhalb der EU verhindert werden soll.
- 6. Der Bundesrat ist der Überzeugung, dass wesentliches Ziel der vorgeschlagenen Verordnung eine faire Lastenteilung und die Berücksichtigung der unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Kapazitäten der Mitgliedstaaten sein muss. Die EU muss auf die permanente Überforderung der Mitgliedstaaten an ihren Außengrenzen eine angemessene Antwort finden, die dieser Herausforderung gerecht wird.
Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates
- 7. Der Bundesrat betrachtet die Ausweitung der Definition des Begriffs "Familienangehörige" auf Geschwister von Antragstellenden auf internationalen Schutz als kritisch. Er kann die Feststellung der Kommission, dass das Verwandtschaftsverhältnis in diesen Fällen leicht nachzuweisen und zu überprüfen sei, nicht teilen. Im Gegenteil sieht der Bundesrat hier ein nicht unerhebliches Missbrauchspotential sowie einen hohen Verwaltungsaufwand. In der bisherigen Praxis konnten hier Lösungen über die Ermessensklausel gefunden werden, wenn dies als erforderlich erschien.
- 8. Der Bundesrat hält die Bestimmung, derzufolge der als zuständig bestimmte Mitgliedstaat auch für die Prüfung sämtlicher künftiger Anträge des betreffenden Antragstellenden zuständig ist, nur für effizient, wenn künftig sichergestellt ist, dass das Dublin-System uneingeschränkt funktioniert und der beibehaltene Grundsatz der Zuständigkeit des Mitgliedstaates der Ersteinreise wirksam praktisch umgesetzt wird. Abgelehnt wird der Vorschlag der Kommission für eine solche dauerhafte Zuständigkeit hingegen in den Fällen, in denen der Antragstellende aus einem ersten Asylstaat oder einem sicheren Drittstaat einreist bzw. aus einem sicheren Herkunftsstaat stammt und sein Antrag auf internationalen Schutz deshalb keine Aussicht auf Erfolg hatte. Bei einer Wiedereinreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten könnte der Antragstellende dadurch nämlich erreichen, dass auch ein erneutes Asylverfahren in dem Staat durchgeführt wird, den er erstmals bei seiner irregulären Weiterreise im Schengen-Raum erreicht hatte.
- 9. Der Bundesrat stellt fest, dass die Prüfung, ob ein Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragstellende in einem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, von Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten häufig unterschiedlich ausfällt und daher auch eine Ungleichbehandlung von Antragstellenden droht. Der Bundesrat hält es daher auch für erforderlich, auf Unionsebene ein schnelles und für die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten verbindliches Verfahren zur einheitlichen Prüfung und Feststellung des Vorliegens von systemischen Schwachstellen einzuführen.
Regelungen in Bezug auf unbegleitete Minderjährige
- 10. Der Bundesrat begrüßt, dass der Verordnungsvorschlag der Kommission die Interessen und das Wohl von Minderjährigen grundsätzlich berücksichtigt. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieser Grundsatz auch bei der Prüfung des zuständigen Mitgliedstaates (Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 10) bei Folgen von Verstößen gegen die Dublin-Verordnung (Artikel 5), bei der Regelung zur Berücksichtigung des Kindeswohls bei der Prüfung einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens (Artikel 10), bei der Inhaftnahme (Artikel 29) und beim Korrekturmechanismus für die Zuweisung (Kapitel VII) anzuwenden ist.
- 11. Der Bundesrat sieht es als erforderlich an, dass unbegleitete Minderjährige zu jedem Verfahrenszeitpunkt rechtlich vertreten werden müssen, und stets eine sorgfältige Abwägung des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls erfolgen muss. Dies schließt vorgeschaltete (Artikel 3 Absatz 3) oder beschleunigte bzw. Grenzverfahren aus. Sicherzustellen ist zudem, dass keine Verfahrenshandlungen ohne die rechtliche Vertretung vorgenommen und Verwaltungsakte grundsätzlich auch gegenüber der rechtlichen Vertretung erklärt werden.
- 12. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass Nachteile, die aus Verstößen gegen die Dublin-Verordnung entstehen, nicht dazu führen dürfen, dass bei unbegleiteten Minderjährigen der Schutzumfang beeinträchtigt wird. Es ist vielmehr sicherzustellen, dass unbegleiteten Minderjährigen jederzeit und unter allen Umständen ein reguläres Verfahren zur Anerkennung internationalen Schutzes offensteht, um den Schutz der Minderjährigen in jedem Einzelfall, zu jedem Zeitpunkt und unabhängig vom eigenmächtigen Handeln der unbegleiteten Minderjährigen sicherstellen zu können.
- 13. Der Bundesrat lehnt es ab, dass für Asylanträge von minderjährigen alleinreisenden Personen zukünftig gemäß Artikel 10 Absatz 5 des Verordnungsvorschlags nur noch der Ersteinreisestaat zuständig sein soll, sofern nicht der Ausnahmefall vorliegt, dass sich ein Familienmitglied bereits im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates befindet.
Gemäß Artikel 8 Absatz 4 der derzeitigen Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) ist bei Abwesenheit eines Familienangehörigen, eines seiner Geschwister oder eines Verwandten der Mitgliedstaat zuständig, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz stellt, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. Hierzu hat der EuGH in einem grundlegenden Urteil vom 6. Juni 2013 (EuGH, Rechtssache C-648/11) in einem Fall, in dem ein unbegleiteter Minderjähriger in mehreren Mitgliedstaaten einen Asylantrag gestellt hat, entschieden, dass derjenige Mitgliedstaat als "zuständiger Mitgliedstaat" anzusehen sei, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat. Unbegleitete Minderjährige seien als besonders gefährdete Personengruppe zu identifizieren, bei der sich die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nicht länger als unbedingt nötig hinziehen sollten. Deshalb sollten laut EuGH unbegleitete Minderjährige das Asylverfahren grundsätzlich in dem Mitgliedstaat durchlaufen, in dem sie sich zu dem Zeitpunkt aufhalten, es sei denn, das Kindeswohl gebietet eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat (zum Beispiel zum Aufenthaltsort von Familienangehörigen).
- 14. Der Bundesrat sieht es für erforderlich an, bei der Prüfung des Kindeswohls im Rahmen von Artikel 10 des Verordnungsvorschlags statt einer nachzuweisenden Annahme eine grundsätzliche Prüfung vorzunehmen, ob eine Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen werden kann bzw. ob das Kindeswohl ein Absehen von der Überstellung erfordert.
- 15. Der Bundesrat erachtet Inhaftierungen von unbegleiteten Minderjährigen die auf der "Verordnung zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist" beruhen, nur aus Gründen der nationalen Sicherheit oder einer erheblichen Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung für zulässig.
- 16. Der Bundesrat hält eine weitere Prüfung für erforderlich, ob die bestehenden Regelungen für den Datenaustausch gewährleisten, dass bei der Übergabe von unbegleiteten Minderjährigen die Übermittlung aller kindeswohlrelevanten
Daten zwischen den für die Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen zuständigen Behörden ausgetauscht werden bzw. werden können.
- 17. Der Bundesrat bittet um Klarstellung, ob im Rahmen des Korrekturmechanismus für die Zuweisung die Überstellung von unbegleiteten Minderjährigen vorgesehen ist. Sofern dies der Fall ist, wird es als notwendig erachtet, dass in diesen Fällen sichergestellt ist, dass die Überstellung eines unbegleiteten Minderjährigen dem Kindeswohl nicht widerspricht bzw. das Kindeswohl nicht gefährdet, dass gesundheitliche Gründe nicht dagegen sprechen und dass über das Verfahren in einem angemessenen Zeitraum und - damit verbunden - unter Vermeidung von Abbrüchen sozialer Integration entschieden wird.
Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates
- 18. Der Bundesrat spricht sich gegen die in der momentanen Fassung des Verordnungsvorschlags (Artikel 3 Absatz 3 und 4) vorgesehene Einführung einer Prüfung der Zulässigkeit eines Asylantrags vor Beginn des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates aus, was in den Fällen der Herkunft des Antragstellenden aus einem ersten Asylstaat, aus einem sicheren Drittstaat oder aus einem sicheren Herkunftsstaat bzw. bei einer Gefahr für die öffentliche Ordnung zur Zuständigkeit des prüfenden Mitgliedstaats abweichend von der Zuständigkeit nach der Dublin-Verordnung führen soll. Ein wesentliches Ziel der Neufassung der Dublin-Verordnung ist, Antragstellenden auf internationalen Schutz zu verdeutlichen, dass es ihnen nicht freisteht, den für die Prüfung ihres Asylgesuchs zuständigen Mitgliedstaat selbst zu bestimmen. Durch die Einführung einer Vorprüfung der Zulässigkeit mit entsprechendem Zuständigkeitsübergang würde für zahlreiche Antragstellende jedoch genau diese Möglichkeit eröffnet. Zumindest sollte klargestellt werden, dass ein solches Verfahren nur von dem (Erst-)Einreisestaat durchgeführt werden muss, jedoch nicht in den Mitgliedstaaten, in die Antragstellende irregulär weitergereist sind. Dies könnte für erste Asylstaaten, sichere Drittstaaten und sichere Herkunftsstaaten dann anders zu bewerten sein, wenn das Verfahren nur in dem Fall in Betracht kommt, dass die Rückführung tatsächlich durchführbar ist. Das setzt vor allem voraus, dass die betreffenden Staaten bei der Rückführung kooperieren.
- 19. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass einige Artikel des vorliegenden Verordnungsvorschlags zu unangemessenen Einschnitten für Asylsuchende insbesondere für Familien und andere besonders schutzbedürftige Personen führen könnten. Dies betrifft insbesondere die Regelung, dass eine Vorprüfung hinsichtlich der Anwendung der Drittstaatenklausel zwingend und abschließend vor der weiteren Prüfung eines Asylantrages vorgenommen werden muss. Diese Regelung beinhaltet die Gefahr, dass bisher mögliche Schutzvorschriften, die zum Beispiel der Familienzusammenführung dienen, nicht mehr zu Anwendung kommen können. Das im Grundgesetz und der Grundrechtecharta festgeschriebene Recht auf Schutz der Familie und des familiären Zusammenlebens wäre damit nicht vereinbar.
- 20. Der Bundesrat begrüßt ausdrücklich die Zielsetzung des mit der Neufassung der Verordnung vorgeschlagenen Korrekturmechanismus, eine gerechte Aufteilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten in Situationen zu gewährleisten, in denen ein Mitgliedstaat mit einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Anträgen auf internationalen Schutz, für die er nach der Verordnung zuständig ist, konfrontiert ist. Der Bundesrat ist jedoch der Auffassung, dass mit dem vorgeschlagenen Korrekturmechanismus nicht die Situation erfasst wird, in der ein Mitgliedstaat mit einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Anträgen auf internationalen Schutz konfrontiert ist, bei denen er das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchzuführen hat. Gleiches gilt für das vorgeschlagene Verfahren zur (Vor-)Prüfung der Zulässigkeit eines Asylantrags. Eine hohe Zahl solcher Prüfungen kann zwar nach dem Verordnungsvorschlag bei der Auslösung des Korrekturmechanismus berücksichtigt werden, jedoch werden nach Auslösung des Korrekturmechanismus neue Fälle, bei denen die Zulässigkeit des Asylgesuchs vorab zu prüfen ist, nicht anderen Mitgliedstaaten zugewiesen. Für beide Fallgruppen (also hohe Zahl an Zuständigkeitsbestimmungsverfahren und hohe Zahl an Zulässigkeitsprüfungen) bedarf es ebenfalls eines (ausreichenden) Korrekturmechanismus, um unverhältnismäßige Belastungen eines Mitgliedstaates auszugleichen.
- 21. Der Bundesrat sieht es zudem als kritisch an, dass künftig keine Zuständigkeitswechsel nach Ablauf von vorgesehenen Fristen erfolgen sollen (Artikel 26, Streichung des derzeitigen Absatzes 3 der Dublin-III-Verordnung). Bisher musste ein Mitgliedstaat, der eine Dublin-Zurückführung durchführen wollte, bestimmte Fristen einhalten. Wurden diese überschritten, ging die Zuständigkeit automatisch auf den Staat über, in dem sich der Schutzsuchende aufhielt. Die Fristen und der Zuständigkeitswechsel haben die Funktion, eine schnelle Klärung und einen effektiven Zugang zum Asylsystem zu gewährleisten. Fällt diese Regelung weg, dann besteht die Gefahr, dass Schutzsuchende, bei denen eine Dublin-Überstellung zum Beispiel wegen gesundheitlicher Gründe zunächst scheitert, in dieser Zeit keinen Zugang zum Asylverfahren haben. Diese neue Regelung könnte zu einem Anstieg von Schutzsuchenden in Europa führen, für die sich kein Mitgliedstaat zuständig fühlt. Die Einführung von verbindlichen Fristen für einen Zuständigkeitswechsel wurde in die Dublin-III-Verordnung aufgenommen, um genau dieses Problem zu lösen.
- 22. Eine weitere problematische Änderung sieht der Bundesrat in der Beschränkung der Selbsteintrittsklausel eines Staates allein bei familiären Konstellationen. Bisher stand die Ausübung des Selbsteintrittsrechts im Ermessen des jeweiligen Staates. Bisher konnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge flexibel mit dem Gebrauch der Selbsteintrittsklausel umgehen und zum Beispiel besonders schutzbedürftige Personen von der Überstellung ausnehmen.
Rechte und Pflichten der Antragstellenden
- 23. Der Bundesrat begrüßt die vorgeschlagenen Pflichten der Antragstellenden und deren Sanktionierung bei Nichteinhaltung. In diesem Zusammenhang bittet der Bundesrat darum, in der vorgeschlagenen Verordnung ausreichend zu berücksichtigen, dass der Verstoß gegen die Pflicht, den Asylantrag im Staat der irregulären Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu stellen, leistungsrechtlich auf die Aufnahmebedingungen in den anderen Mitgliedstaaten Auswirkungen haben sollte, um Sekundärmigration wirksam zu verhindern.
- 24. Der Bundesrat regt an, zur Verhinderung von Sekundärmigration auch zu prüfen, ob und in welchem Umfang Überstellungskosten künftig von den Antragstellenden zu tragen sind.
Ausreise
- 25. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich bei der Reform der Dublin-III-Verordnung gegenüber der Kommission und im Rat dafür einzusetzen, dass - in vergleichbarer Weise wie bei der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) - der Vorrang der freiwilligen Ausreise festgeschrieben wird, die sich generell als humaner, effektiver und kostengünstiger als die zwangsweise Überstellung erwiesen hat und Ausreisen ermöglicht, die unter besonderer Achtung der Menschenwürde sowie des Wohls des Kindes stattfinden können.
Begründung zu Ziffern 3, 4 und 25 (nur gegenüber dem Plenum):
Der vorliegende Vorschlag der Kommission sieht - wie auch schon die geltende Dublin-III-Verordnung - in Erwägungsgrund 36 vor, dass Überstellungen in den für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat entsprechend der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission (ABl. L 222 vom 05.09.2003, Seite 3) auf freiwilliger Basis, in Form der kontrollierten Ausreise oder in Begleitung erfolgen können. Die Mitgliedstaaten sollten sich durch entsprechende Information des Antragstellers für Überstellungen auf freiwilliger Basis einsetzen und sicherstellen, dass Überstellungen in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung in humaner Weise und in voller Übereinstimmung mit den Grundrechten und unter Achtung der Menschenwürde sowie des Wohls des Kindes und unter weitestgehender Berücksichtigung der Entwicklung der einschlägigen Rechtsprechung, insbesondere hinsichtlich Überstellungen aus humanitären Gründen, vorgenommen werden.
Die weiteren Regelungen der Dublin-III-Verordnungen selbst geben bisher keine Rangfolge hinsichtlich der drei von ihnen vorgesehenen Überstellungsmodalitäten vor; diese liegt vielmehr weitgehend in der Regelungskompetenz des ersuchenden Mitgliedstaates. Um dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu genügen, muss eine Überstellung ohne Verwaltungszwang auch nach der deutschen Rechtsprechung jedoch wenigstens dann möglich sein, wenn gesichert erscheint, dass der Asylbewerber sich freiwillig in den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat begibt und sich dort fristgerecht bei der verantwortlichen Behörde meldet (BVerwG, Urteil vom 17.09.2015 - 1 C 26.14). Eine derartige Verhältnismäßigkeitsprüfung obliegt im Wesentlichen den Vollstreckungsbehörden nach nationalem Verwaltungsvollstreckungsrecht. In vergleichbarer Weise sieht die Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie), die für alle Flüchtlinge gilt, bereits heute vor, dass die freiwillige Rückkehr der Rückführung vorzuziehen ist, sofern keine Veranlassung zu der Annahme besteht, dass das Rückkehrverfahren dadurch gefährdet wird.
Abschiebungen sind schwere Grundrechtseingriffe und wirken nicht selten traumatisierend für die Betroffenen, ihre Familienangehörigen und insbesondere für Kinder. Länder, wie zum Beispiel Rheinland-Pfalz, haben gute Erfahrungen mit der Förderung freiwilliger Rückführung gemacht, deren Wirksamkeit vom Statistischen Bundesamt noch immer nicht zahlenmäßig erfasst wird. Die freiwillige Ausreise hat sich generell als humaner, effektiver und kostengünstiger erwiesen als die zwangsweise Rückführung. Ausgehend von diesen positiven Erfahrungen - denen das Bundesministerium des Innern aktuell mit einer geplanten außerplanmäßigen Erhöhung der Haushaltsmittel für die Rückkehrprogramme REAG und GARP (Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany bzw. Government Assisted Repatriation Program) Rechnung getragen hat - sollte an die Mitgliedstaaten nicht länger nur allgemein appelliert werden, sich für Überstellungen auf freiwilliger Basis einzusetzen. Es sollte vielmehr - in vergleichbarer Weise wie bei der Rückführungsrichtlinie - der generelle Vorrang der freiwilligen Ausreise vor der zwangsweisen Überstellung in der Verordnung festgeschrieben werden, um somit Ausreisen zu ermöglichen, die unter besonderer Achtung der Menschenwürde sowie des Wohls des Kindes stattfinden können und zudem erheblich kostengünstiger sind.
Rechtsbehelfe
- 26. Der Bundesrat spricht sich dagegen aus, für die Entscheidung der Gerichte über Rechtsbehelfe gegen die Überstellungsentscheidung eine starre Frist von 15 Tagen vorzusehen (Artikel 28 Absatz 3 des Verordnungsvorschlags). Eine starre Frist für die gerichtliche Entscheidung lässt sich mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bzw. dem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Artikel 47 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der EU, Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes) und der sachlichen Unabhängigkeit der Gerichte (Artikel 47 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 97 Absatz 1 des Grundgesetzes) nicht vereinbaren. Die effektive Gewährung von Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren wird innerhalb einer 15-tägigen Frist regelmäßig nicht zu erreichen sein. Die Prüfung, ob aufgrund systemischer Schwachstellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht, sowie die Klärung familiärer Verhältnisse oder humanitärer Belange können umfangreichere Ermittlungen des Gerichts erfordern. Der Amtsermittlungsgrundsatz kann in verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen eine Überstellungsentscheidung nicht außer Kraft gesetzt werden. Über den Rechtsbehelf (Hauptsacheentscheidung) ist aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Den Beteiligten ist eine angemessene Frist zur Ladung, Stellungnahme und Einarbeitung einzuräumen. Bei mittellosen Klägern kann die Entscheidung erst erfolgen, wenn über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe und bei dessen Ablehnung auch über etwaige Rechtsmittel entschieden worden ist (vergleiche Artikel 47 Absatz 3 der Charta der Grundrechte der EU) .
Zu beachten ist zudem, dass bei der innerhalb der Frist zu treffenden Entscheidung in der Sache (Hauptsacheentscheidung) eine lediglich summarische oder vorläufige Prüfung nicht zulässig ist. Eine starre Entscheidungsfrist kann schließlich zu einer zwingenden Priorisierung dieser Verfahren gegenüber anderen, ebenfalls eilbedürftigen gerichtlichen Verfahren führen, die im Einzelfall nicht gerechtfertigt erscheint.
- 27. Der Bundesrat hält unabhängig hiervon jedenfalls eine Klarstellung für erforderlich, ob die 15-tägige Entscheidungsfrist und die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs auch für die Entscheidung über etwaige Rechtsmittel gegen die gerichtliche Entscheidung erster Instanz gelten und inwieweit Rechtsmittel gegen die Überstellungsentscheidung zulässig sein sollen. Insoweit stellt sich die Frage, ob über ein Rechtsmittel ebenfalls innerhalb von 15 Tagen zu entscheiden ist und ob eine Überstellung vor einer rechtskräftigen Entscheidung des Rechtsmittelgerichts erfolgen kann, wofür Artikel 30 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags sprechen könnte.
- 28. Der Bundesrat sieht die inhaltliche Beschränkung der gerichtlichen Prüfung (Artikel 28 Absatz 4 des Verordnungsvorschlags) unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kritisch und hält jedenfalls eine Klarstellung im Hinblick auf die Gewährleistungen des Artikels 30 Absatz 1 Unterabsatz 3 des Verordnungsvorschlags für erforderlich. Die gerichtliche Prüfung einer Überstellungsentscheidung mit der Festlegung der Art ihres Vollzugs (kontrollierte Ausreise oder Ausreise in Begleitung) muss im Hinblick auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Artikel 47 der Charta der Grundrechte der EU, Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes) und das Recht von Flüchtlingen auf freien Zugang zu den Gerichten (Artikel 18 der Charta der Grundrechte der EU in Verbindung mit Artikel 16 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951) grundsätzlich alle subjektiven Rechte des Betroffenen umfassen, die durch eine Überstellungsentscheidung oder deren Vollzug verletzt sein können. Im Rahmen des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung oder deren Vollzug ist daher auch zu prüfen, ob eine Überstellung im Einzelfall und unabhängig von systemischen Schwachstellen aus humanitären Gründen oder wegen einer drohenden Selbstverletzung oder wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands ausscheidet oder ob wegen der überlangen Dauer des Dublin-Verfahrens eine Überstellung nicht mehr erfolgen kann. Soweit Artikel 28 Absatz 4 des Verordnungsvorschlags dagegen lediglich dahin zu verstehen sein sollte, dass die Verletzung anderer als der ausdrücklich in der Vorschrift genannten Zuständigkeits- und Verfahrensbestimmungen der Dublin-Verordnung als objektive Verfahrensregelungen keine subjektiven Rechte der Betroffenen begründet und deshalb im Rechtsbehelfsverfahren nicht zu prüfen ist, müsste dies im Verordnungstext deutlicher als bislang Ausdruck finden.
- 29. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung sicherzustellen, dass das bislang im nationalen Recht vorgesehene, auf der geltenden Dublin-Verordnung beruhende und mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes vereinbare Rechtsbehelfsverfahren gegen Dublin-Entscheidungen durch die vorgeschlagene Neufassung keine nachteilige Änderung erfährt.
Delegierte Rechtsakte
- 30. Der Bundesrat erachtet die Ermächtigung zum Erlass von Durchführungsrechtsakten kritisch und hält eine erneute Prüfung für erforderlich, ob mit den Durchführungsrechtsakten nicht doch zentrale, die Länder betreffende Regelungen getroffen werden, für die es einer weitergehenden Abstimmung mit den Ländern bedarf, um den Verfahrensvollzug zu gewährleisten.
Direktzuleitung der Stellungnahme
- 31. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
B
- 32. Der Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.