Punkt 24 a) und b) der 868. Sitzung des Bundesrates am 26. März 2010
Der Bundesrat möge anstelle der Ziffern 1 bis 9 der Drucksache 41/1/10 wie folgt beschließen:
- 1. Der Bundesrat nimmt das Jahresgutachten 2009/2010 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und den Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bundesregierung zur Kenntnis.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass nach dem schweren Einbruch der deutschen Wirtschaft im Winterhalbjahr 2008/09 mittlerweile ein Stabilisierungsprozess eingesetzt hat. Insgesamt sind die Rückschläge durch die schwere Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise aber bei weitem noch nicht überwunden. Die endogenen Wachstumskräfte werden in Anbetracht der nach wie vor starken Unterauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten, des zu erwartenden Anstiegs der Arbeitslosigkeit und nur verhaltener außenwirtschaftlicher Impulse schwach bleiben.
- 3. Der Bundesrat sieht darüber hinaus wie die Bundesregierung nach wie vor erhebliche Risiken für die Wirtschaftsentwicklung durch die Situation auf den internationalen Finanzmärkten. Er stellt fest, dass der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte weiterhin zentrale Bedeutung zukommt. Der Bundesrat stimmt mit der Bundesregierung darin überein, dass die Verletzung zentraler marktwirtschaftlicher Prinzipien wie Haftung und Verantwortung Auslöser der Finanz- und Wirtschaftskrise war. Der Bundesrat begrüßt, dass zukünftig alle systemisch relevanten Finanzmarktakteure, alle Finanzmarktprodukte und alle Finanzmärkte einer Aufsicht und Regulierung unterliegen sollen und die hierzu in den letzten Monaten eingeleiteten und die im Jahreswirtschaftsbericht 2010 aufgeführten noch vorgesehenen Maßnahmen. Der Bundesrat sieht allerdings darüber hinausgehenden Handlungsbedarf. Er teilt die Auffassung des Sachverständigenrates, dass die Fortschritte bei der Restrukturierung von Banken und der Bereinigung der Bankbilanzen von Problem-Aktiva bisher unzureichend sind. Daher muss der Druck auf Banken mit mangelnder Eigenkapitalausstattung, Problem-Aktiva auszulagern und Rekapitalisierungen durchzuführen, erhöht werden. Ohne eine konsequente Bereinigung der Bankbilanzen wird es nicht gelingen, eine solide Eigenkapitalbasis der Banken zu schaffen, die Voraussetzung dafür ist, eine Dämpfung der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage durch eine unzureichende Kreditversorgung zu verhindern. Vor diesem Hintergrund hält der Bundesrat kurzfristig eine Überprüfung der mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Finanzmarktstabilisierung (so genannte "Bad-Bank-Gesetz") geschaffenen Regelungen für erforderlich.
- 4. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, dass die Akteure des Finanzmarkts einen angemessenen Beitrag zur Bewältigung der durch die Bekämpfung der Finanzkrise in den öffentlichen Haushalten entstandenen Lasten erbringen. Eine internationale Finanztransaktionssteuer wäre ein wirksames Mittel, um die von der Realwirtschaft weitgehend losgelösten Spekulationen auf den internationalen Finanzmärkten spürbar einzudämmen und einen Teil der auf den Finanzmärkten erzielten Gewinne zu Gunsten der öffentlichen Haushalte umzuleiten. Der enorme Anstieg der Finanztransaktionen ist vor allem eine Folge der Expansion der Aktivitäten auf den Derivatmärkten. Derivate haben häufig hochspekulativen Charakter und sind von der realen Wirtschaft entkoppelt. Deswegen müssen endlich überzeugende Anstrengungen ergriffen werden, eine Besteuerung auf Finanztransaktionen einzuführen. Der Bundesrat erwartet von der Bundesregierung, dass sie sich konsequent für die Einführung einer internationalen oder zumindest EU-weiten Finanztransaktionsbesteuerung einsetzt. Mit einer solchen internationalen Steuer würden die bei einem nationalen Alleingang zu erwartenden negativen Auswirkungen für den Finanzplatz Deutschland nicht entstehen.
- 5. Der Bundesrat sieht wie die Bundesregierung im Wirtschaftsfonds Deutschland ein wichtiges Instrument zur Unterstützung der Unternehmen bei der Überwindung der Folgen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. Der Bundesrat ist allerdings der Auffassung, dass trotz zwischenzeitlich erfolgter Verbesserungen im KfW-Sonderprogramm weitere Veränderungen vorgenommen werden sollten, um eine noch bessere Nutzung der Angebote zu erreichen und den Zugang von wettbewerbsfähigen Unternehmen mit positiven Zukunftsaussichten, die nur durch die Krise in Schwierigkeiten geraten sind, zu erleichtern. Hierzu gehört beispielsweise eine Lockerung des Kriteriums der Einjahresausfallwahrscheinlichkeit und die Anpassung der Haftungsfreistellungen für Betriebsmitteldarlehen an die für Investitionskredite geltenden Bedingungen, sofern es sich nicht um Anschlussfinanzierungen handelt. Nach Auffassung des Bundesrates ist es absehbar, dass auch im Jahr 2011 erhebliche Probleme bei der Unternehmensfinanzierung bestehen werden. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, frühzeitig eine angemessene Laufzeitverlängerung des Wirtschaftsfonds Deutschland einschließlich des KfW-Sonderprogramms zu prüfen, damit den Unternehmen auch über das Jahr 2010 hinaus verlässliche Hilfen angeboten werden können. Darüber hinaus bittet der Bundesrat die Bundesregierung zu prüfen, ob die Abwicklung des KfW-Sonderprogramms nicht zumindest teilweise auf die Landesförderinstitute übertragen werden kann.
- 6. Der Bundesrat stimmt der Bundesregierung ausdrücklich zu, dass die Konjunkturpakete einen sehr wichtigen Beitrag geleistet haben, um die Auswirkungen der Krise insbesondere auf den deutschen Arbeitsmarkt zu begrenzen. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Bundesregierung und des Sachverständigenrates, dass die krisenbedingte fiskalische Expansion und die Ausweitung der Staatstätigkeit auf Grund der Wirtschafts- und Finanzkrise ohne Alternative waren. Der Bundesrat nimmt angesichts des ungewöhnlich starken Anstiegs der Nettokreditaufnahme zur Kenntnis, dass sich die Bundesregierung zur grundgesetzlich verankerten Schuldenregel, zum Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt und zu den Beschlüssen der EU zu einer finanzpolitischen Exit-Strategie bekennt. Eine Rückführung der fiskalpolitischen Impulse sollte vorgenommen werden, sobald die konjunkturellen Bedingungen dies gestatten.
- 7. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass ein zu früher Ausstieg aus der erfolgreichen, stärker nachfrageorientierten Konjunktur- und Wachstumspolitik die Erholung der Wirtschaft zurückwerfen wird. Er hält es deswegen für erforderlich, Impulse durch öffentliche Investitionen in Zukunftsbereichen wie Bildung und Klimaschutz zu setzen, eine Anschlussregelung für die Kurzarbeit zu schaffen, Maßnahmen einzuleiten, die zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führen, notwendige Reformen der Hartz-Gesetze vorsieht und Zukunftsbranchen und -technologien gezielt fördert.
- 8. Mit Sorge sieht der Bundesrat die Entwicklung des privaten Konsums. Eine wesentliche Ursache für die schwache Konsumnachfrage ist die in den letzten Jahren gewachsene Ungleichverteilung der Einkommen. Der Bundesrat hält es daher für erforderlich, die Tarifbindung zu erhöhen und in möglichst vielen Branchen allgemeinverbindliche tarifliche Mindestlöhne einzuführen. Ziel ist ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn als unterste Grenze, um Armutslöhne zu verhindern, die unmittelbar zu Lasten der Binnennachfrage gehen.
- 9. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass weder das so genannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz noch die Mehrzahl der im Jahreswirtschaftsbericht 2010 skizzierten Maßnahmen dazu geeignet sind, dass die Bundesrepublik Deutschland aus der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise gestärkt und zukunftsfest hervorgeht. Mit Sorge sieht der Bundesrat die Belastung der öffentlichen Haushalte und die Bestrebungen der Bundesregierung, insbesondere durch die angekündigten Steuersenkungen, die öffentlichen Finanzen weiter zu schwächen. Damit wird die Handlungsfähigkeit des Staates, insbesondere im Hinblick auf Investitionen in wachstumsfreundliche Infrastruktur, aber auch die Vermeidung künftiger krisenhafter Entwicklungen, nachhaltig beeinträchtigt. Der Bundesrat weist zudem darauf hin, dass ein beträchtlicher Teil des im Jahr 2010 zu erwartenden gesamtstaatlichen Defizits durch die wachstumspolitisch verfehlten und verteilungspolitisch bedenklichen Maßnahmen der Bundesregierung im so genannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz herbeiführt wurde. Der Bundesrat betont nachdrücklich, dass angesichts der angespannten Haushaltslage für weitere Steuersenkungen auf absehbare Zeit kein Spielraum besteht. Von Seiten der Bundesregierung erhobene Forderungen in diese Richtung nehmen eine Verfehlung der Vorgaben der neuen Schuldenregel in Kauf und ignorieren die Vorgaben aus dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Der Bundesrat erinnert daran, dass die seit dem Herbst 2008 beschlossenen Steuererleichterungen die Einnahmebasis des Staates dauerhaft um mehr als 34 Mrd. Euro schwächen, wovon auf den Bund rund 16 Mrd. Euro und auf Länder und Kommunen rund 18 Mrd. Euro entfallen. Der Bundesrat vertritt daher in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigenrates die Auffassung, dass in einer solchen Situation weitere Steuersenkungen mit einer seriösen Finanzpolitik nicht vereinbar sind. Der Bundesrat teilt in diesem Zusammenhang die Auffassung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, dass der im Jahreswirtschaftsbericht angekündigte Stufentarif nicht nennenswert zu einer Vereinfachung des Einkommensteuersystems beiträgt. Ansatzpunkt für eine nachhaltige Steuervereinfachung ist vielmehr aus Sicht des Bundesrates die Ermittlung der Bemessensgrundlage.
- 10. Der Bundesrat bezweifelt insbesondere, dass die so genannte "Doppelstrategie" der Bundesregierung - Erhöhung des Potentialwachstums nicht zuletzt durch Steuersenkungen einerseits und massive Reduzierung staatlicher Ausgaben andererseits - tragfähig ist. Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen des Sachverständigenrates hin, dass selbst die Annahme einer für Deutschland in absehbarer Zeit "unrealistisch hohen Potentialwachstumsrate" das strukturelle Defizit maximal um ein Drittel vermindern würde. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung im Einklang mit dem Sachverständigenrat darüber hinaus auf, den von ihr angekündigten "konsequenten Sparkurs" zeitnah zu konkretisieren. Dabei erwartet der Bundesrat von der Bundesregierung, dass die Lasten der avisierten Einsparungen nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und unter Berücksichtigung der Verantwortung für die krisenhafte Entwicklung getragen werden. Des Weiteren erwartet der Bundesrat von der Bundesregierung, dass die notwendige Verbesserung des Bundeshaushalts nicht durch die Verschiebung von Einnahmepotenzialen und/oder Ausgabenverpflichtungen auf Kosten anderer staatlicher Ebenen realisiert wird.
- 11. Der Bundesrat begrüßt ebenfalls, dass Bildung, Forschung und Innovation in der wirtschaftspolitischen Strategie der Bundesregierung trotz des erheblichen Konsolidierungsbedarfs eine hohe Priorität behalten sollen. Der Bundesrat verweist jedoch darauf, dass unter den Bedingungen der neuen Schuldenregel und den aktuellen finanz- und wirtschaftspolitischen Gegebenheiten die Finanzierung von Seiten der Länder mit den vorhandenen Ressourcen nicht sichergestellt werden kann und dass es deshalb einer Unterstützung der Länder durch den Bund in Form zusätzlicher Umsatzsteuermittel bedarf.
- 12. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass es in Deutschland einer Stärkung der Innovationskraft mittelständischer Unternehmen und einer intensiven Förderung von Bildung, Forschung und Zukunftstechnologien bedarf. Der Bundesrat hält es wie die Bundesregierung darüber hinaus für erforderlich, den wirtschaftlichen Aufholprozess der neuen Länder weiter wirkungsvoll zu unterstützen. Er stimmt der Bundesregierung ausdrücklich zu, die Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur auf hohem Niveau fortzuführen und begrüßt außerdem, dass sich die Bundesregierung gegenüber der Europäischen Kommission für angemessene Übergangsregelungen für die Strukturfondsförderung in den neuen Ländern in der im Jahr 2014 beginnenden neuen Förderperiode einsetzen wird. Darüber hinaus spricht sich der Bundesrat für die Fortsetzung der Regional- und Strukturpolitik im Rahmen der Europäischen Strukturfonds nach 2013 in allen förderfähigen Regionen aus. Der Bundesrat betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, die Kernelemente der jetzigen erfolgreichen Kohäsionspolitik in der neuen Förderperiode beizubehalten.
- 13. Der Bundesrat plädiert für eine aktive Industriepolitik, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten und auszubauen. Die Industriepolitik muss den knapper werdenden Ressourcen Rechnung tragen. Der Ausbau und die Erschließung von Leitmärkten wie die Klima- und Umwelttechnik sind für den Bundesrat integraler Bestandteil einer aktiven Industriepolitik. Vor diesem Hintergrund lehnt der Bundesrat die von der Bundesregierung beabsichtigten Kürzungen der Einspeisevergütungen für Solarstrom ab, da damit die erfolgreiche Entwicklung der Solarwirtschaft in Frage gestellt wird.
- 14. Der Bundesrat vertritt in Übereinstimmung mit dem Sachverständigenrat - angesichts der Schwierigkeiten Griechenlands und einiger anderer Mitglieder des Euroraums - die Auffassung, dass Regelungen allein des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht ausreichen, um ausgeglichene Haushalte im Euroraum in der mittleren Frist zu erreichen. Ergänzend sind geeignete Maßnahmen der EU-Partner zu ergreifen, um spekulative Bewegungen auf den Kapitalmärkten einzudämmen, die sich direkt gegen einzelne Länder der EU und damit auch gegen die Gemeinschaftswährung richten. Neben der Frage des Defizitabbaus wird sich die EU künftig verstärkt der Frage des Abbaus der anwachsenden Handels- und Entwicklungsungleichgewichte im EU-Raum widmen müssen.
- 15. Der Bundesrat begrüßt die vom spanischen Ministerpräsidenten und EU-Ratspräsidenten angestoßene Diskussion über eine eng koordinierte europäische Wirtschafts- und Investitionspolitik, um so Wachstum und Beschäftigung zu stärken. Koordinierte staatliche Investitionsprogramme, die Bestimmung gemeinsamer europäischer industriepolitischer Projekte auf Zukunftsmärkten und eine GreenTech- und Energieeffizienzoffensive durch FuE-Investitionen, europäische Netzwerke, intelligente Rahmenbedingungen und Zulassungsverfahren, sind in diesem Zusammenhang wichtige Ansatzpunkte.