Der Bundesrat hat in seiner 809. Sitzung am 18. März 2005 zu dem Jahresgutachten 2004/2005 des Sachverständigenrates gemäß § 6 Abs. 1 Sachverständigenratsgesetz und zu dem Jahreswirtschaftsbericht 2005 der Bundesregierung gemäß § 2 Abs. 1 StWG wie folgt Stellung genommen:
- 1. Der Bundesrat nimmt das Jahresgutachten 2004/2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und den Jahreswirtschaftsbericht 2005 der Bundesregierung zur Kenntnis.
- 2. Der Bundesrat stellt mit Befriedigung fest, dass Deutschland 2004 mit einem realen Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent zumindest die dreijährige Stagnationsphase hinter sich lassen konnte. Er unterstreicht, dass sich der Kalendereffekt im Umfang von rund 0,5 Prozentpunkten im Wachstum niedergeschlagen hat. Dies deutet darauf hin, dass durch Mehrarbeit ein substanzieller Beitrag zur Überwindung der Wachstums- und Beschäftigungskrise in Deutschland geleistet werden könnte.
- 3. Allerdings dürfte es erneut - trotz des seit Jahren höchsten Wachstums der Weltwirtschaft, von dem Deutschland als weltweit führende Exportnation in besonderer Weise profitiert - nicht gelungen sein, die Wachstumslücke zu den USA und den EU-Partnerstaaten zu vermindern. Von 1998 bis 2003 ist das reale Bruttoinlandsprodukt der USA beinahe dreimal so schnell und das der EU-15 doppelt so schnell gewachsen wie das deutsche. Zudem kann der Bundesrat unverändert keine wirkliche Aufbruchstimmung im Land erkennen. So bewegte sich die deutsche Wirtschaft im zweiten Halbjahr 2004 in kalenderbereinigter Rechnung bereits zum vierten Mal innerhalb der letzten vier Jahre am Rande einer Rezession.
- 4. Der Bundesrat hält die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftslage in Deutschland nach wie vor für katastrophal:
Der Bundesrat stellt fest, dass das Wirtschaftswachstum auch im vergangenen Jahr nicht ausgereicht hat, um auf dem Arbeitsmarkt eine wirkliche Wende zum Besseren einzuleiten. Im Gegenteil: Mit 5,037 Millionen registrierten Arbeitslosen und einer Arbeitslosenquote von 12,1 Prozent wurde Anfang 2005 nicht nur ein Nachkriegsrekord aufgestellt, sondern Deutschland dürfte aller Voraussicht nach unter den alten EU-Mitgliedstaaten mittlerweile auch die höchste Arbeitslosenquote aufweisen.
Die Februar-Zahlen der Bundesagentur zeigen mit 5,216 Mio. Arbeitslosen ein noch schlimmeres Bild.
Eine Besserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt ist nicht in Sicht: So wird nach der Prognose des Sachverständigenrats auch in 2005 die Zahl der Arbeitslosen nur um 0,1 Prozent sinken; die Bundesregierung erwartet sogar einen Anstieg um rund 50 000 Personen.
Zwar ist die Erwerbstätigkeit in 2004 zum ersten Mal seit drei Jahren wieder gestiegen; die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze ist jedoch weiterhin gesunken: Von 1998 bis 2004 ist die Beschäftigung bundesweit sogar um rund 2,5 Prozent zurückgegangen.
- 5. Anstatt endlich entschlossen Reformen anzugehen, die zu mehr Beschäftigung führen, versucht die Bundesregierung, die Zahl von 5 Millionen Arbeitslosen durch statistische Effekte zu senken. So soll es Überlegungen geben, ältere Arbeitslose von der Pflicht zur Arbeitsplatzsuche zu entbinden, so dass sie in der Arbeitslosenstatistik nicht mehr auftauchen. Damit aber würden ältere Menschen jeglicher Hoffnung auf einen Arbeitsplatz beraubt und als bloße Empfänger von Transferleistungen abgestempelt. Auch die Vergabe von Ein-Euro-Jobs ist abzulehnen, wenn sie nur dazu dient, die Arbeitslosenstatistik zu entlasten, ohne den Bedarf an Arbeitslosengeld II abzubauen.
- 6. Es macht auch keinen Sinn, die Folgen der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und des dadurch bedingten Anstiegs der zu vermittelnden Arbeitslosen zu beklagen. Es entspricht der ausdrücklichen Zielsetzung des SGB II, jedem, der drei Stunden am Tag arbeiten kann, entsprechende Vermittlungsleistungen zur Verfügung zu stellen, auch wenn er nicht arbeitsmarktnah ist oder auf Grund von Betreuungsproblemen dem Arbeitsmarkt bisher nicht zur Verfügung stand.
- 7. Der pauschale Vorwurf, Kommunen versuchten sich auf Kosten des Bundes zu entlasten, geht fehl.
- 8. Die Bundesregierung hofft für 2005 weiterhin auf ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent, während der Sachverständigenrat ein Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent prognostiziert. Zwischenzeitlich haben jedoch mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute aktuellere Prognosen vorgelegt, die teilweise deutlich niedriger liegen. Das von den Wirtschaftsinstituten im Durchschnitt vorhergesagte Wachstum liegt bei 1,2 Prozent - und damit deutlich unter der Projektion der Bundesregierung. Damit reicht das Wirtschaftswachstum auch weiterhin nicht zur Schaffung eines zusätzlichen Arbeitsvolumens aus.
- 9. Der Bundesrat weist darauf hin, dass trotz der Integration erwerbsfähiger Sozialhilfeempfänger in die Arbeitslosenstatistik die tatsächliche Zahl der Erwerbslosen in Deutschland nach wie vor unterzeichnet ist. Unter Berücksichtigung von Arbeitslosen in Maßnahmen der Bundesagentur oder der Kommunen, der Arbeitslosen im Vorruhestand, der Kurzarbeiter und der so genannten Stillen Reserve liegt das wahre Ausmaß der Arbeitslosigkeit in Deutschland bei bis zu 9 Millionen Personen.
- 10. Besorgnis erregend ist für den Bundesrat die negative Entwicklung der Zahl sozialversicherungspflichtig beschäftigter Personen in Deutschland. Bereits im Zeitraum 2000 bis 2003 gingen insgesamt 870.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren, von Januar bis November 2004 nochmals 439.000. Für das Gesamtjahr 2004 rechnet der Sachverständigenrat mit einem Verlust von 450.000 sozialversicherungspflichtigen Stellen - rechnerisch mehr als 1.200 pro Tag. Die Zunahme der Erwerbstätigen im Jahresdurchschnitt 2004 um 128.000 Personen ist aus Sicht des Bundesrates differenziert zu bewerten: Soweit sie auf einer Steigerung der Zahl geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse (Mini-Jobs) beruht, ist darin ein Beitrag zur Flexibilisierung der immer noch stark regulierten deutschen Arbeitsmärkte zu sehen. Soweit sie auf den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumenten wie die Ich-AGs zurückzuführen ist, muss sich die Effizienz dieser Instrumente unter Kosten-Nutzen-Aspekten erst noch erweisen.
- 11. Der Bundesrat stellt fest, dass die inländische Nachfrage auch im vierten Jahr in Folge schwunglos verlief. Sowohl die privaten Konsumausgaben als auch die Bruttoanlageinvestitionen waren im vergangenen Jahr rückläufig. Der private Verbrauch leidet unter höheren Sozialabgaben und höheren Energiepreisen sowie der anhaltenden Angst vor Arbeitsplatzverlust. Die hieraus resultierende zurückhaltende Nachfrage der privaten Haushalte konnte auch durch die Entlastungen im Zuge der kleinen Steuerreformstufe 2004 nicht entscheidend belebt werden. Die Investitionstätigkeit konzentriert sich auf Ersatz- und Rationalisierungsinvestitionen, arbeitsplatzschaffende Erweiterungsinvestitionen blieben die Ausnahme. Auch die Talfahrt am Bau konnte noch nicht gestoppt werden.
- 12. Der Bundesrat stimmt mit dem Sachverständigenrat und dem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung darin überein, dass die Exportnachfrage sich einmal mehr als stützendes Element der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland erwiesen hat. Der Bundesrat hebt allerdings hervor, dass der klassische deutsche Konjunkturzyklus mit einer zunächst vom Export ausgehenden neuen Dynamik der binnenwirtschaftlichen Auftriebskräfte in Zeiten von Globalisierung, Europäisierung und damit einhergehender vertiefter internationaler Arbeitsteilung in der bisher bekannten Form offensichtlich nicht mehr greift. Denn die Beschäftigung, Kaufkraft und damit Nachfrage schaffende Wirkung findet über erhöhte Vorleistungsimporte zunehmend in den Bezugsländern statt und nicht mehr in Deutschland. Umso schwerer für die Konjunkturentwicklung im laufenden Jahr wiegt die Prognose des Sachverständigenrates, dass sich das Exportwachstum der deutschen Wirtschaft 2005 von 10 auf 6 Prozent abschwächen werde.
- 13. Tief besorgt ist der Bundesrat darüber, dass die Bundesregierung im dritten Jahr hintereinander mit der Konsolidierung des Bundeshaushalts gescheitert ist und der Sachverständigenrat für 2005 zum vierten Mal in Folge den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt gebrochen sieht. Die Verantwortung dafür liegt beim Bund, nicht bei Ländern und Kommunen, die auch 2004 die ihnen im Rahmen der nationalen Vereinbarungen des Finanzplanungsrats zugestandenen Defizitspielräume eingehalten haben. Besonders bedenklich ist, dass die Investitionsquote des Bundes mit 8,9 Prozent auf einen Rekordtiefststand verfallen ist, während Sozialleistungs- und Zinslastquote immer weiter steigen und damit die Handlungsspielräume der Bundespolitik zunehmend einengen. Explizite und implizite Staatsverschuldung belaufen sich mittlerweile auf 330 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nicht umsonst attestiert das ifo-Institut in einem Gutachten für die Bundesregierung, dass die Finanzpolitik des Bundes dem Grundsatz der Nachhaltigkeit nicht entspricht.
- 14. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Einhaltung des 3 %-Defizitkriteriums im Jahr 2005 zur Priorität der deutschen Finanzpolitik zu machen, um die Glaubwürdigkeit des Paktes nicht noch weiter zu beschädigen. Der Bundesrat lehnt - wie auch der Sachverständigenrat - alle Bestrebungen zur Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts ab. Durch die Einführung von Sonderregelungen zur Berücksichtigung länderspezifischer Gegebenheiten, wie sie die Bundesregierung fordert, würden nicht nur das gesamte Regelwerk an Transparenz verlieren, sondern auch die 3 %-Defizitgrenze faktisch ausgehebelt und vielfältigen Missbrauchsmöglichkeiten der Weg bereitet. Ohne glaubwürdige Sanktionsdrohung würde der Pakt letztlich leer laufen, Stabilität und Wachstum in Europa gerieten in Gefahr.
- 15. Der Bundesrat teilt die positive Einschätzung des Sachverständigenrats zur Preisniveaustabilität. Eine Inflationsrate von prognostiziert 1,6 Prozent für 2005 ist der einzige wirkliche wirtschaftspolitische Lichtblick. Die Möglichkeiten der Europäischen Zentralbank, zur Belebung von Wachstum und Beschäftigung in Deutschland beizutragen, sind angesichts des bereits expansiven Kurses der Geldpolitik, der Entwicklung der Verbraucherpreise im Euro-Raum sowie der strukturellen Probleme der deutschen Wirtschaft allerdings eng begrenzt. Nachdem Deutschland als die mit Abstand größte europäische Volkswirtschaft mittlerweile anhaltend gegen die zentralen Stabilitätskriterien verstößt, fehlt es auch an der notwendigen finanzpolitischen Flankierung für weitere geldpolitische Lockerungen der Europäischen Zentralbank.
- 16. Der Bundesrat weist nachdrücklich darauf hin, dass der für 2005 vom Sachverständigenrat prognostizierte moderate wirtschaftliche Aufschwung von real plus 1,4 Prozent mit erheblichen Risiken behaftet ist. Hauptsächlich zu nennen sind hier eine mögliche weitere Euro-Aufwertung und ein nicht auszuschließender weiterer Ölpreisanstieg. Schon wegen der niedrigen Ausgangsbasis auf Grund des wirtschaftlich schwachen dritten und vierten Quartals 2004 dürfte sich die im Jahreswirtschaftsbericht abgegebene Wachstumsprognose der Bundesregierung von real plus 1,6 Prozent bzw. 1,5 bis zwei Prozent einmal mehr als zu optimistisch erweisen. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung deshalb auf, ihre Wachstumsprognose kritisch zu überprüfen, um ein neuerliches nachträgliches Eingeständnis einer schwächeren wirtschaftlichen Entwicklung als erwartet zu vermeiden.
- 17. Arbeitsmarktpolitik
Der Bundesrat begrüßt und unterstützt die wesentlichen Aussagen im arbeitsmarktpolitischen Teil des Jahresgutachtens des Sachverständigenrats. Insbesondere teilt der Bundesrat die Auffassung des Sachverständigenrates, dass
- - eine Flexibilisierung des institutionellen Regelwerks auf dem Arbeitsmarkt weiterhin notwendig ist,
- - der gesetzliche Mindestlohn ein untaugliches, sogar schädliches Instrument
ist,
- - die Tariflohnpolitik ihren beschäftigungsfreundlichen Kurs fortsetzen und die Lohnstruktur weiter spreizen sollte,
- - eine massive Vergabe so genannter Ein-Euro-Jobs zu massiven beschäftigungspolitischen Fehlanreizen führen kann.
Der Bundesrat bemängelt, dass der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung lediglich auf die bereits beschlossenen Arbeitsmarktreformen
- - die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - verweist und weitergehende strukturelle Reformen von der Bundesregierung offenbar nicht für notwendig gehalten werden.
Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf, möglichst rasch einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Flexibilität des Arbeitsmarkts in ausreichendem Maße verbessert wird. Der Bundesrat fordert die Tarifpartner auf, in den anstehenden Tarifverhandlungen des Jahres 2005 ihre gesamtwirtschaftliche und beschäftigungspolitische Verantwortung wahrzunehmen und die tarifpolitischen Empfehlungen des Sachverständigenrats zu berücksichtigen.
- 18. Gesetzliche Krankenversicherung
Der Bundesrat stimmt mit dem Sachverständigenrat überein, dass weitere nachhaltige Reformen zur Verbesserung der Effizienz sowie der Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung notwendig sind. Dies ist insbesondere für eine Absenkung der Lohnnebenkosten dringend erforderlich. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass auch das vom Sachverständigenrat vorgeschlagene Modell einer Bürgerpauschale unbefriedigend bleibt. Der Bundesrat bemängelt, dass es die Bundesregierung im Rahmen des Jahreswirtschaftsberichts versäumt, sich mit konkreten Reformmaßnahmen auseinander zu setzen.
- 19. Soziale Pflegeversicherung
Der Bundesrat stimmt mit dem Sachverständigenrat überein, dass das seit 1. Januar 2005 geltende Kinder-Berücksichtigungsgesetz keinen geeigneten Weg darstellt, die Pflegeversicherung zukunftsfest und hinreichend familiengerecht zu machen. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass dieses Gesetz eine konzeptionell unausgereifte Lösung darstellt, da es keine Ansätze für eine grundlegende strukturelle und inhaltliche Reform zur Sicherung der mittel- und langfristigen finanziellen Grundlagen der Pflegeversicherung enthält und den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, die Leistungen der Familien besser anzuerkennen, nicht ausreichend beachtet.
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, baldmöglichst einen Gesetzentwurf für eine umfassende Reform der sozialen Pflegeversicherung vorzulegen, damit im Hinblick auf die zu erwartende demografische Entwicklung und die Situation der Familien noch rechtzeitig entsprechende Maßnahmen ergriffen werden können.
- 20. Angesichts der auch in diesem Jahr absehbar unzureichenden wirtschaftlichen Entwicklung ist nach Einschätzung des Bundesrates nicht mit substanziellen Fortschritten beim Abbau der Arbeitslosigkeit zu rechnen. Der Bundesrat teilt auch hier die Prognose des Sachverständigenrates, dass die Arbeitslosenquote 2005 jahresdurchschnittlich bei rund 10,5 Prozent stagnieren dürfte. Ob die vom Sachverständigenrat erhoffte Trendwende bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung tatsächlich einsetzt, bleibt angesichts des insgesamt schwachen wirtschaftlichen Umfelds und der anhaltenden Deindustrialisierungs-Prozesse in Deutschland abzuwarten, zumal die Beschäftigungsverluste in der Industrie in den vergangenen zwölf Jahren bundesweit nicht einmal zur Hälfte durch neue Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor aufgefangen werden konnten.
- 21. Umso nachdrücklicher appelliert der Bundesrat in weitgehendem Einklang mit dem Sachverständigenrat an die Tarifpartner, durch moderate Tarifabschlüsse, eine stärkere Spreizung der qualifikatorischen Lohnstruktur sowie Öffnungsklauseln, die - auch präventiv - betriebsindividuelle Lösungen im Benehmen mit dem jeweiligen Betriebsrat zur Beschäftigungssicherung ermöglichen, die tarifpolitischen Voraussetzungen für eine Wachstums- und Beschäftigungswende zu schaffen.
- 22. Der Bundesrat teilt die Einschätzung des Sachverständigenrates, dass die Bundesregierung den nach wie vor bestehenden umfassenden wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Reformbedarf in Deutschland noch in diesem Jahr entschieden anzugehen hat, um die binnenkonjunkturelle Entwicklung endlich nachhaltig zu stabilisieren und die strukturellen Probleme zu überwinden. Das betrifft die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, die Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Sozialsysteme, die nachhaltige Konsolidierung des Bundeshaushalts, die Reform der Einkommen- und Unternehmensbesteuerung und den Bürokratieabbau. Die bislang von der Bundesregierung vorgesehenen Maßnahmen wie der vage Hinweis auf die Sicherung der Finanzierungsgrundlagen von Renten-, Kranken - und Pflegeversicherung, die vorgesehenen Maßnahmen zu Marktliberalisierung und Bürokratieabbau, unter anderem durch Anpassung des GWB an europäisches Recht und eine Reform des Vergaberechts für öffentliche Beschaffung, günstigere Finanzierungsbedingungen für Mittelstand und Unternehmensgründer sowie der Aufbau einer neuen Förderarchitektur für Technologieunternehmen reichen dafür bei weitem nicht aus. Die Bundesregierung steht nach Auffassung des Bundesrates in der Pflicht gerade auch angesichts der absehbaren Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung in Deutschland ihrer politischen Verantwortung für die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung schnell und mit Nachdruck gerecht zu werden.
- 23. Eine nachhaltige Konsolidierung des Bundeshaushalts ist nach Überzeugung des Bundesrates Grundvoraussetzung für die Rückkehr auf einen stabilen Wachstums- und Beschäftigungspfad. Zudem muss das von der Bundesregierung zugestandene Ziel, die Staatsquote längerfristig unter 40 Prozent zu senken, Richtschnur aller Reformanstrengungen bleiben. Durch die Umschichtung von konsumtiven zu investiven Ausgaben müssen zudem gezielte Impulse für die Verbesserung der Infrastruktur und eine Innovations- und Modernisierungsoffensive gegeben werden, mit der die genannten notwendigen Reformen flankiert werden müssen, um neben der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland auch die technologische Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken und der Binnennachfrage neue Impulse zu verleihen. Der Bundesrat weist darauf hin, dass eine Behinderung von Innovationen durch Gesetze wie das neue Gentechnikgesetz oder durch die faktisch drohende Entwertung der Innovationsschutzklausel für innovative Arzneimittel Deutschland als Forschungsstandort im internationalen Wettbewerb zurückwirft und dem selbst gesteckten Anspruch der Bundesregierung zuwiderläuft, neue Technologien zu stärken.
- 24. Mit Hartz IV allein ohne eine weitere durchgreifende Flexibilisierung der Arbeitsmärkte sind nach Auffassung des Bundesrates weder ein substanzieller Abbau der Arbeitslosigkeit noch die Schaffung zusätzlicher Beschäftigung zu erreichen. Der Bundesrat bezweifelt, dass unter den gegebenen arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen dem von der Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht erhofften Abschmelzen der Arbeitslosenzahl im Jahresverlauf um 200.000 Personen gegenüber dem Vorjahr realistische Erfolgschancen eingeräumt werden können. Der Bundesrat hält eine Senkung der Einstellungshürden, unter anderem durch Lockerungen beim Kündigungsschutz, Erleichterung betrieblicher Bündnisse für Arbeit auf tarifgesetzlicher Grundlage, eine stärkere Spreizung der Tariflöhne und -gehälter zur gezielten Stärkung des Niedriglohnbereichs sowie eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung für unentbehrlich.
- 25. Nach Auffassung des Bundesrates steht besonders der Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft durch die unverändert hohe bürokratische Regelungsdichte sowie durch die anhaltenden Probleme bei der Unternehmensfinanzierung auf Grund der anhaltenden konjunkturbedingten Ertragsschwäche unter Druck. Die wenigen bisher von der Bundesregierung im Rahmen des "Masterplans Bürokratieabbau" ergriffenen Maßnahmen reichen zur Entlastung der Unternehmen nicht annähernd aus und werden durch neue Initiativen wie das Antidiskriminierungsgesetz sogar entscheidend konterkariert. Für Existenzgründer sowie speziell für kleine und mittlere Unternehmen müssen, gerade auch im Hinblick auf Basel II, die Finanzierungsbedingungen durch steuerliche Erleichterungen zu Gunsten der Bildung von Eigenkapital verbessert werden.
- 26. Der Bundesrat teilt die Auffassung des Sachverständigenrates, dass im Bereich der Unternehmensbesteuerung dringender Handlungsbedarf besteht, um die steuerliche Attraktivität des Standorts Deutschland zu verbessern. Internationale Steuerbelastungsvergleiche belegen, dass die steuerliche Belastung deutscher Kapitalgesellschaften international eine Spitzenstellung einnimmt. Der Bundesrat fordert deshalb die Bundesregierung auf, ihre abwartende Haltung aufzugeben und für die notwendige Reform der nationalen Unternehmensbesteuerung ein Konzept vorzulegen, das die Steuerbelastung nationaler Unternehmen senkt und den Standort Deutschland im europäischen und internationalen Wettbewerb stärkt.
- 27. Der Bundesrat stellt fest, dass eine entschlossene Fortsetzung des eingeleiteten Reformprozesses zur Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gerade aus der Sicht der neuen Länder von entscheidender Bedeutung ist. Der Wettbewerb um Unternehmensinvestitionen, in dem sich der Standort Ostdeutschland behaupten muss, hat sich durch die Erweiterung der Europäischen Union weiter verschärft. Die zur Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufbauprozesses notwendigen Unternehmensinvestitionen werden in Ostdeutschland nur dann getätigt werden, wenn die Attraktivität Deutschlands als Wirtschaftsstandort gesteigert wird.
- 28. Der Bundesrat stimmt mit Sachverständigenrat und Bundesregierung darin überein, dass über die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hinaus weiterhin besondere wirtschaftspolitische Maßnahmen erforderlich sind, um den wirtschaftlichen Anpassungsprozess in den ostdeutschen Ländern zu unterstützen. Das dynamische Wachstum im ostdeutschen verarbeitenden Gewerbe und zahlreiche positive Entwicklungsansätze auf regionaler Ebene können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Rückstand der ostdeutschen Wirtschaft, gemessen an gesamtwirtschaftlichen Kennzahlen, weiterhin beträchtlich ist und in den letzten Jahren nur geringfügig abgenommen hat. Auch die wirtschaftliche Leistungskraft der Regionen in den neuen Ländern, die sich überdurchschnittlich entwickelt haben, liegt noch hinter dem westdeutschen Durchschnitt zurück.
- 29. Der Bundesrat begrüßt die Diskussion, die in den letzten Monaten über den Aufbau Ost und die Weiterentwicklung des Förderinstrumentariums geführt worden ist. Der Sachverständigenrat hat mit seinen Analysen der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern und möglicher wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Förderung des Anpassungsprozesses einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung dieser Diskussion geleistet. Nach Auffassung des Bundesrates sind als Grundlage für die weitere Diskussion über die Förderung des Aufbaus Ost insbesondere folgende Punkte festzuhalten:
- - Die bisherige Förderung hat wesentlich zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft beigetragen. Dies gilt insbesondere für die umfangreichen Investitionen zum Ausbau der Infrastruktur und die Förderung gewerblicher Investitionen.
- - Der Anteil besonderer Leistungen und Aufbauhilfen machte nach Angaben des Sachverständigenrates im Jahr 2003 etwa 13 Prozent der Bruttosumme der in die neuen Länder geflossenen Transferleistungen aus. Der Großteil der Transfers ergibt sich aus der Rechtseinheit bzw. aus der Wahrnehmung gesamtstaatlicher Aufgaben.
- - Für den weiteren Erfolg des Aufbauprozesses kommt es vor allem darauf an, dass die Mittel, die den neuen Ländern über den Solidarpakt II zufließen, so eingesetzt werden, dass größtmögliche Wachstumseffekte erreicht werden.
- 30. Der Bundesrat ist wie der Sachverständigenrat und die Bundesregierung der Auffassung, dass es keinen Königsweg und keine Patentrezepte zur Beschleunigung des wirtschaftlichen Anpassungsprozesses gibt. Im Mittelpunkt der Förderung in den neuen Ländern müssen die besonderen Strukturprobleme der ostdeutschen Wirtschaft stehen. Zu diesen Problemen zählen vor allem zu geringe FuE-Aktivitäten in den Unternehmen, die zu starke Ausrichtung auf regionale Absatzmärkte sowie die Eigenkapitalschwäche vieler Unternehmen und damit verbundene Schwierigkeiten bei der Unternehmensfinanzierung. Der Einsatz der wirtschaftspolitischen Instrumente (z.B. Ausbau der Verkehrs- und FuE-Infrastruktur, Förderung von Netzwerken, Investitionen im Bereich Bildung und Ausbildung) muss aufeinander abgestimmt und an die jeweiligen regionalen Gegebenheiten angepasst sein. Bestehende Entwicklungsansätze, vor allem Cluster und Netzwerke, müssen gezielt gestärkt und die wirtschaftlichen Potenziale aller Regionen möglichst weitgehend genutzt werden.
- 31. Der Bundesrat spricht sich wie der Sachverständigenrat dafür aus, dass über die Ausgestaltung der regionalen Förderstrategien dezentral entschieden werden muss.
- 32. Ziel der Förderung der neuen Länder bleibt nach Auffassung des Bundesrates die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Unterschiede zwischen den Regionen stehen zu dieser Zielsetzung nicht im Widerspruch. Sie sind unvermeidlich und müssen in Kauf genommen werden. Allerdings steht außer Frage, dass vor allem angesichts der um etwa zehn Prozentpunkte über dem westdeutschen Niveau liegenden Arbeitslosenquote in den neuen Ländern noch nicht von gleichwertigen Lebensverhältnissen in Ost und West gesprochen werden kann. Der Erfolg des Aufbaus Ost liegt im gesamtstaatlichen Interesse. Der Transferbedarf der neuen Länder wird sich nur in dem Maß verringern lassen, in dem es gelingt, ihre Wirtschaftskraft zu steigern. Die Überwindung der teilungsbedingten Strukturprobleme der ostdeutschen Wirtschaft wird das Wachstumspotenzial der deutschen Wirtschaft insgesamt stärken.
- 33. Der Bundesrat weist darauf hin, dass es auch in den alten Ländern Regionen mit strukturellem Anpassungsbedarf gibt. Er begrüßt in diesem Zusammenhang das Vorhaben der Gremien der Bund-Länder-GA "Verbesserung der Regionalen Wirtschaftsstruktur", strukturschwache Regionen in Deutschland zum 1. Januar 2007 mit einheitlichen Regionalindikatoren abzugrenzen. Damit kann auf der Basis von objektiven und transparenten Indikatoren der regionalpolitische Handlungsbedarf in den alten und neuen Ländern festgestellt werden. In diesem Zusammenhang begrüßt der Bundesrat die Absicht der Bundesregierung, sich für einen dauerhaften und substanziellen Spielraum zur Durchführung einer nationalen determinierten Regionalpolitik einzusetzen und so auch den alten Ländern z.B. die Möglichkeit zu geben, Regionalbeihilfen an große Unternehmen zu gewähren.
- 34. Der Bundesrat bedauert, dass die Bundesregierung in ihrem Jahreswirtschaftsbericht 2005 die regionale Wirtschaftsförderung und die EU-Strukturpolitik ausschließlich im Rahmen des Aufbaus Ost abhandelt. Er weist die Bundesregierung darauf hin, dass die regionale Wirtschaftsförderung durch die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und die EU-Strukturpolitik auch für die strukturschwachen Regionen in Westdeutschland sowohl aktuell wie auch zukünftig von erheblicher Bedeutung sind. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher auf, diesem Aspekt künftig angemessenen Raum in ihren Jahreswirtschaftsberichten einzuräumen.
- 35. Die ostdeutschen Länder benötigen Rechtssicherheit hinsichtlich der Zusage des Bundes vom 23. Juni 2001 zum Korb 2 des Solidarpaktes II. Das gemeinsame Anliegen von Bund und Ländern, den Aufbau Ost auf eine langfristige und verlässliche Grundlage zu stellen, erfordert Planungssicherheit für die Finanzplanung des Bundes und der ostdeutschen Länder. Die Bundesregierung wird deshalb aufgefordert, umgehend mit den ostdeutschen Ländern Verhandlungen zur Umsetzung dieses Ziels aufzunehmen.