Der Bundesrat hat in seiner 881. Sitzung am 18. März 2011 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Die Kommission weist darauf hin, dass sich die Mitgliedstaaten im Rahmen der Europa-2020-Strategie dazu verpflichtet haben, ausgehend von ihrer Ausgangssituation und den nationalen Gegebenheiten nationale Zielvorgaben zur Senkung der Schulabbrecherquote aufzustellen. Ergänzend erinnert der Bundesrat daran, dass vom Europäischen Rat zugleich betont wurde, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, quantitative Ziele im Bildungsbereich festzulegen und zu verwirklichen, und dass länderspezifische Empfehlungen die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Bereichen wie Bildung, unberührt lassen müssen.
- 2. Der Bundesrat stellt heraus, dass die Länder in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europa-2020-Strategie gemeinsam mit dem Bund das Ziel vereinbart haben, bis zum Jahr 2020 den Anteil der frühen Schulabgänger auf weniger als 10 Prozent der 18- bis 24-Jährigen zu verringern. Als frühe Schulabgänger gelten dabei gemäß der im Jahr 2003 beschlossenen EU-Definition diejenigen, die über keinen Abschluss der Sekundarstufe II verfügen und keine weiterführende Schul- oder Berufsausbildung durchlaufen.
- 3. Der Bundesrat erinnert daran, dass sich Bund und Länder auch schon lange vor der Annahme der Europa-2020-Strategie, beispielsweise im Rahmen der Qualifizierungsinitiative für Deutschland "Aufstieg durch Bildung", Ziele zur Senkung der Schulabbrecherquote gesetzt und hierfür vielfältige Maßnahmen ergriffen haben. Die Bekämpfung von Schulabbruch stellt demnach eine (bildungs-)politische Priorität in Deutschland dar, der sich insbesondere die für die schulische Bildung zuständigen Länder seit vielen Jahren intensiv widmen. Seit dem Jahr 2000 ist es Deutschland gelungen, die Schulabbrecherquote kontinuierlich zu senken.
- 4. Ebenso wie die Kommission ist der Bundesrat der Auffassung, dass sich Präventions-, Interventions- und Kompensationsmaßnahmen ergänzen sollten und umfassende Strategien zur Bekämpfung von Schulabbruch ein wichtiges Instrument für eine erfolgreiche Politikgestaltung darstellen können. Soweit die Kommission die Mitgliedstaaten aufruft, auf der Grundlage eines gemeinsamen europäischen Rahmens solche Strategien anzunehmen, weist der Bundesrat darauf hin, dass in manchen Mitgliedstaaten bereits Strategien vor dem Hintergrund der jeweiligen regionalen Gegebenheiten existieren, die den von der Kommission gemachten Vorschlägen entsprechen. Maßgeblich kann daher nicht sein, ob derartige Strategien von den Mitgliedstaaten infolge der Europa2020-Strategie bzw. auf der Grundlage eines gemeinsamen europäischen Rahmens erarbeitet wurden, sondern ob diese Strategien geeignet sind, im Laufe des nächsten Jahrzehnts den Anteil der Schulabbrecher zu reduzieren.
- 5. Da der Sinn und die Notwendigkeit einer gesamtstaatlichen Strategie zur Bekämpfung von Schulabbruch von den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland bereits erkannt wurde, haben die Länder im Rahmen der Kultusministerkonferenz im März 2010 eine gemeinsame Förderstrategie angenommen. Darin haben die Länder Maßnahmen vereinbart, die die individuelle Förderung verstärken, Lernen neu gestalten, Abschlüsse ermöglichen, Partner verbinden, Qualitätssicherung und -entwicklung verstärken und Bildungsforschung intensivieren sollen. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, die Chance auf einen Schulabschluss sowie die erfolgreiche Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben für alle Schüler und Schülerinnen zu erhöhen.
- 6. Bund, Länder und Wirtschaft haben außerdem im Oktober 2010 vereinbart, den erfolgreichen Ausbildungspakt bis 2014 zu verlängern. Dieser Pakt verfolgt das Ziel, die Ausbildungsreife und Berufsorientierung zu verbessern, schwächere Jugendliche intensiver zu fördern, Jugendliche zielgerichteter in Ausbildungen zu vermitteln, das Übergangssystem effizienter zu gestalten und die Datenlage zu verbessern. Verstärkt sollen dabei solche Jugendliche in den Blick genommen werden, die bisher Schwierigkeiten beim Übergang in eine Ausbildung hatten.
- 7. Der Bundesrat stimmt der Kommission darin zu, dass Bildungsreformen Zeit benötigen, um Wirkung zu zeitigen. Da es sich zudem bei einem Schulabbruch in der Regel eher um einen Prozess als um ein einmaliges Ereignis handelt, kann sich der Erfolg von Maßnahmen zur Senkung der Schulabbrecherquote allenfalls mittelfristig abzeichnen. Angesichts der Ankündigung der Kommission, regelmäßig mittels des Jahreswachstumsberichts über die Erfolge Bericht zu erstatten, warnt der Bundesrat davor, unrealistische Erwartungen für die Entwicklung innerhalb eines Jahres zu hegen. Zu Recht haben sich Kommission und Mitgliedstaaten für die Reduzierung des Schulabbruchs ein quantitatives Ziel gesetzt, das im Laufe von zehn Jahren verwirklicht werden soll.
- 8. Auch der Bundesrat ist der Auffassung, dass es sich beim Schulabbruch um ein komplexes Problem handelt, das sich nicht allein mit Blick auf die Bildung lösen lässt. Wie die Kommission sieht der Bundesrat daher die Notwendigkeit einer Kooperation mit einer Vielzahl von Akteuren aus dem Bildungs-, Jugend-, Sozial- und Beschäftigungsbereich. Im Hinblick auf die Bildung gilt es, der vorschulischen und außerschulischen Bildung größere Aufmerksamkeit zu widmen und auch nicht formale und informelle Bildungsprozesse einzubeziehen. Während die frühkindliche Bildungsarbeit insofern für den schulischen Erfolg entscheidend ist, als während dieses Zeitraums eine Prägung für die gesamte weitere Bildungsbiographie erfolgt, ist die außerschulische Bildung von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit, die Befähigung zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft und damit auch für den Zugang zum Arbeitsmarkt.
- 9. Der Bundesrat nimmt die Analyse der Kommission, dass die Ursachen für den Schulabbruch in den einzelnen Ländern, aber auch innerhalb einer Region höchst unterschiedlich sind, mit Interesse zur Kenntnis. Er begrüßt die Schlussfolgerung der Kommission, dass eine Politik zur Senkung der Schulabbrecherquote deshalb an die besonderen Bedingungen in einer Region bzw. in einem Land angepasst werden muss und es keine einheitliche Lösung für alle Mitgliedstaaten gibt. Eine einheitliche EU-Strategie zur Reduzierung von Schulabbruch wäre deshalb weder zielführend noch im Hinblick auf das vertragliche Kompetenzgefüge und das Subsidiaritätsprinzip zulässig. Angesichts der vielfältigen Ursachen und der unterschiedlichen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten verbieten sich demnach schematische Lösungen; erforderlich sind stattdessen maßgeschneiderte Konzepte, die den individuellen Bedürfnissen vor Ort Rechnung tragen können.
- 10. Wegen der Vielschichtigkeit der Probleme, der unterschiedlichen Situation in den Mitgliedstaaten und der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Gestaltung des Bildungssystems kann die Entscheidung, welche Maßnahmen in einer Strategie beschlossen werden sollten, welche Akteure einzubeziehen sind und ob bereits existierende Strategien die Annahme einer neuen Strategie auf der Grundlage eines europäischen Rahmens entbehrlich machen, nur von den Mitgliedstaaten selbst getroffen werden. Diesen Umständen ist bei der Ausgestaltung des europäischen Rahmens Rechnung zu tragen.
- 11. Die Einschätzung der Kommission, dass Schüler und Schülerinnen einiger Mitgliedstaaten, die sich mit der allgemeinen Bildung schwer getan haben, oft den Weg in die berufliche Bildung einschlagen, trifft nach Überzeugung des Bundesrates für Deutschland nicht zu. Das System der beruflichen Bildung in Deutschland ist nicht schwerpunktmäßig auf schwächere Schüler ausgerichtet, sondern zielt darauf ab, hochwertige berufliche Qualifikationen zu vermitteln, und sichert einen qualifizierten Fachkräftenachwuchs. Insbesondere das duale System in der beruflichen Erstausbildung in Deutschland ermöglicht Schülern und Schülerinnen aber schon frühzeitige Einblicke in die Arbeitswelt und erleichtert damit erheblich den Übergang von der Schule in den Beruf. Allgemeine Bildung und berufliche Bildung sind daher gemeinsam aufgerufen, einen Beitrag zu Senkung der Schulabbrecherquote zu leisten.
- 12. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass faktengestützte Bildungsforschung Grundlage kostenwirksamer und effizienter Bildungspolitik ist und hierfür einschlägige Daten erhoben und ausgewertet werden müssen. Der Bundesrat gibt aber zu bedenken, dass derartige Datenerhebungen in einem angemessen Verhältnis zu dem dadurch entstehenden Verwaltungsaufwand zu stehen haben und datenschutzrechtliche Vorschriften der Erhebung und Verwertung bestimmter Daten entgegenstehen können.
- 13. Unter dem Gesichtspunkt des Verwaltungsaufwands begrüßt der Bundesrat den Vorschlag der Kommission, für einen Bericht über nationale Maßnahmen zur Senkung der Schulabbrecherquote auf den bestehenden Berichterstattungsmechanismus des strategischen Rahmens für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung (ET 2020) zurückzugreifen.
- 14. Soweit die Kommission beabsichtigt, die Verwendung von EU-Finanzierungsinstrumenten zu kanalisieren und in ausnahmslos alle spezifischen EU-Maßnahmen zugunsten von Kindern und jungen Erwachsenen Maßnahmen einzubauen, die zur Senkung der Schulabbrecherquote beitragen, weist der Bundesrat darauf hin, dass es sich bei der Bekämpfung von Schulabbruch zwar um ein äußerst wichtiges Thema, jedoch nicht um das einzige Ziel der Bildungspolitik handelt. Insbesondere das EU-Programm für lebenslanges Lernen darf nicht allein der Verwirklichung der Ziele der Europa-2020-Strategie untergeordnet werden, sondern muss den Mitgliedstaaten weiterhin ausreichend Handlungsspielräume belassen, um damit auch andere bildungspolitische Zwecke zu verfolgen.
- 15. Der Bundesrat geht wie die Kommission davon aus, dass Faktoren wie die Dauer der Pflichtschulbildung oder das Angebot an schulischen und beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten Auswirkungen auf die Quote der Schulabbrecher haben können. Pauschalen Forderungen nach einer Verlängerung der Pflichtschulbildung unabhängig von der derzeitigen Dauer der Pflichtschulbildung sowie nach einer Gewährung von schulischen und beruflichen Ausbildungsgarantien über das schulpflichtige Alter hinaus erteilt der Bundesrat auch als beispielhafte Maßnahmen eine Absage.
- 16. Diese Stellungnahme ist gemäß § 5 Absatz 2 Satz 1 EUZBLG maßgeblich zu berücksichtigen. Das Vorhaben betrifft im Schwerpunkt die allgemeine schulische Bildung und damit die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder.
- 17. Gemäß § 6 Absatz 2 EUZBLG ist die Verhandlungsführung auf einen Vertreter der Länder zu übertragen.
- 18. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.