Der Bundesrat hat in seiner 959. Sitzung am 7. Juli 2017 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat betont die Bedeutung der in den europäischen Verträgen verankerten sozialen Werte und hebt insbesondere die Bedeutung der sozialen Dimension der EU gemäß dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft hervor. Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft zeichnet Europa aus. Der Bundesrat weist darauf hin, dass sich Europa gerade auch durch soziale Werte definiert. Sozialstaatlichkeit und Solidarität prägen die europäischen Gesellschaften. Er begrüßt daher das mit der europäischen Säule sozialer Rechte (im folgenden "Säule") verfolgte Ziel der Kommission, die soziale Dimension der EU sichtbarer zu machen.
- 2. Der Bundesrat begrüßt zudem, dass es der Kommission gelungen ist, im Spannungsfeld zwischen Forderungen nach einer sozialeren EU einerseits und eingeschränkten Kompetenzen der EU in der Sozialpolitik andererseits, einen Vorschlag für eine europäische Säule sozialer Rechte vorzulegen, die grundsätzlich geeignet erscheint, die soziale Dimension der Union zu stärken und einen Beitrag zur Erreichung der sozialpolitischen Ziele der Verträge zu leisten. Er begrüßt auch, dass die Säule als Kompass für effiziente beschäftigungspolitische und soziale Ergebnisse dienen und als Richtschnur dazu beitragen soll, soziale Rechte besser umzusetzen und anzuwenden.
- 3. Im Hinblick auf die Zustimmung zur EU in der Bevölkerung ist der Bundesrat der Auffassung, dass die Säule durch die Zusammenführung des sozialen Besitzstandes und der damit einhergehenden für die Bürgerinnen und Bürger verständlichen Formulierung ihrer sozialen Rechte und Grundsätze zu einer besseren Kommunikation der sozialen Errungenschaften des europäischen Einigungswerks beitragen kann.
- 4. Der Bundesrat bekräftigt, dass unter dem Gesichtspunkt der Stabilität im Euro-Währungsgebiet und zur Vermeidung von Armut und daraus resultierender Migration auch eine soziale Aufwärtskonvergenz erstrebenswert ist. Er begrüßt ausdrücklich, dass hierfür keine neuen Prozesse eingeleitet werden, sondern der Weg der politischen Koordinierung, wie in der Stellungnahme vom 17. Juni 2016 in BR-Drucksache 116/16(B) angeregt, im Rahmen des Europäischen Semesters fortgesetzt wird. Dies gilt im Grundsatz auch für in diesem Rahmen bereits vorhandene Indikatoren des Leistungsanzeigers (soziales Scoreboard).
- 5. Der Bundesrat weist zugleich darauf hin, dass eine soziale Aufwärtskonvergenz weitere wirtschaftliche Konvergenz voraussetzt. Die drängenden Probleme in der EU, insbesondere im Sozialbereich, zum Beispiel eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern der EU, werden vorgegebene Sozialstandards allein nicht lösen können. Ziel sollte daher die weitere Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit der EU und die Bemühungen der einzelnen Mitgliedstaaten sein, hier Fortschritte zu erzielen, mit dem Ergebnis, Arbeitsplätze zu schaffen und den sozialen Zusammenhalt zu fördern.
- 6. Der Bundesrat stellt fest, dass das begleitende Arbeitsdokument SWD(2017) 201 final für das Verständnis und die Einordnung der 20 Grundsätze und Rechte der Säule von großer Relevanz ist. Er wiederholt in diesem Zusammenhang jedoch seine Aufforderung, wesentliche Arbeitsdokumente zeitnah in allen Amtssprachen zur Verfügung zu stellen.
- 7. Der Bundesrat begrüßt das deutliche Bekenntnis der Kommission zur strengen Beachtung der jeweiligen Zuständigkeiten auf Ebene der Union und der Mitgliedstaaten sowie der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bei der Umsetzung der in der Säule festgelegten Grundsätze und Rechte. Dies ist umso wichtiger, da das von der Kommission vorgeschlagene Umsetzungskonzept eine Einbindung und Verantwortung der Akteure aller Ebenen - der EU-Ebene, der Mitgliedstaaten, regionaler und lokaler Behörden, der Wirtschafts- und Sozialpartner sowie der Zivilgesellschaft - vorsieht. Dementsprechend bekräftigt er seine schon im Rahmen der Konsultation eingebrachte Position, dass die primäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ebenso wie die strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips gerade in der Sozialpolitik Zurückhaltung gegenüber neuen Legislativakten gebieten und nur neue Legislativakte gestatten, die diesem Grundsatz Rechnung tragen. Vor diesem Hintergrund werden auch weitere sich in Umsetzung der sozialen Säule ergebende Initiativen kritisch und differenziert zu prüfen und zu begleiten sein. Dies gilt insbesondere hinsichtlich möglicher Initiativen zum Sozialschutz, bei welchen für mögliche Rechtsetzungsmaßnahmen auf die sogenannte Abrundungskompetenz nach Artikel 352 AEUV zurückgegriffen würde.
- 8. Der Bundesrat stellt zu den 20 Kernbestandteilen der geplanten Säule, wie sie der vorgeschlagenen Proklamation zu entnehmen sind, zusammenfassend fest, dass die weite Bezeichnung "Grundsätze und Rechte" vorangestellt wird. Er bittet die Kommission um Darlegung im Einzelnen, wo aus ihrer Sicht einerseits individuelle Rechte "bekräftigt" und andererseits neue Grundsätze mit politischem Charakter, die auf geltendes Unionsrecht hervorhebend verweisen, proklamiert werden sollen. Ferner bittet der Bundesrat die Kommission, die beabsichtigte Rechtsnatur einer solchen Proklamation im europarechtlichen Rahmen einordnend zu erläutern. Er stellt darüber hinaus fest, dass zu 15 der 20 Grundsätze und Rechte bereits Festlegungen in der Charta der Grundrechte der EU bestehen, die für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union gelten und die teilweise ergänzt, umformuliert oder präzisiert werden sollen. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass es grundsätzlich für die Rechtsanwendung bzw. Umsetzung durch die Mitgliedstaaten nicht hilfreich ist, wenn an verschiedenen Stellen ähnliche, aber eben abweichende Grundsätze formuliert sind, da dies grundsätzlich nicht gewünschten Spielraum bei der Anwendung eröffnet.
- 9. Er betont, dass die in der Säule angesprochenen Elemente, wie beispielsweise zu den Teilbereichen Work-Life-Balance, sozialer Dialog und Arbeitnehmerbeteiligung oder sichere Beschäftigung, bereits Gegenstand verschiedener EU-Rechtsakte sind, die grundsätzlich ein ausreichendes Schutzniveau auf EU-Ebene im Sinne von Mindeststandards vorsehen.
- 10. Der Bundesrat versteht die Kommission dahingehend, dass durch Kapitel I Nummer 1 der Säule kein Recht auf Bildung, Ausbildung und lebenslanges Lernen festgeschrieben werden soll, sondern damit die grundsätzliche Zielsetzung und der Anspruch verfolgt werden, dass jeder Bürger bzw. jede Bürgerin die Möglichkeit haben sollte, an Bildung, Ausbildung et cetera teilzunehmen. Eine dahingehende Verpflichtung der Mitgliedstaaten lehnt der Bundesrat ab, da auch die Jugendlichen hier kooperativ sein müssen. Ein Recht auf lebenslanges Lernen kann nur auf der Basis von Angeboten umgesetzt werden. Der Bundesrat unterstützt den Vorschlag hingegen, soweit er inhaltlich mit den Bestimmungen des Achten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VIII) und den Zielen und Leistungen der Jugendhilfe im Einklang steht.
- 11. Der Bundesrat stellt fest, dass die Kommission eine "Überwachung" der Fortschritte der Mitgliedstaaten ankündigt. Vor dem Hintergrund der in Artikel 165 und 166 AEUV sehr eng gesteckten Kompetenzgrenzen lehnt er ein derartiges Leistungsscreening als formalisierte Überwachung und Bewertung bei Bildungsthemen entschieden ab (siehe bereits Stellungnahme vom 17. Juni 2016, BR-Drucksache 116/16(B) , Ziffer 13). Im Bildungsbereich darf die EU lediglich die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten fördern und deren Tätigkeit unter strikter Beachtung der mitgliedstaatlichen Verantwortung für die Lehrinhalte und der Freiwilligkeit der europäischen Bildungskooperation unterstützen. Darüber hinaus sieht der Bundesrat kritisch, dass für den Leistungsanzeiger der Indikator für die Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen aufgegriffen wurde, bei dem sogar die Kommission selbst im Jahr 2015 in ihrer Arbeitsunterlage zum Entwurf des gemeinsamen Berichts über die Umsetzung des strategischen Rahmens auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung (Education and Training 2020 - "ET 2020", SWD(2015) 161 final) Verbesserungsmöglichkeiten konstatiert hatte. Der Bundesrat hat wiederholt eine Überarbeitung dieses ungeeigneten Indikators gefordert.
- 12. Der Bundesrat betont erneut, dass die Bildungskooperation auf europäischer Ebene einen ausschließlich freiwilligen Prozess darstellt und sich der Bildungsbereich hierin elementar von dem stärker vergemeinschafteten Beschäftigungsbereich unterscheidet. Der Bildungsbereich darf nicht faktisch mit anderen Politikbereichen gleichgestellt werden (siehe auch Stellungnahme vom 17. Juni 2016, BR-Drucksache 116/16(B) , Ziffer 14). Vor diesem Hintergrund sieht der Bundesrat kritisch, dass die von der Kommission im Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas (BR-Drucksache 353/17 (PDF) ) als "Ansätze für die Zukunft" dargelegten Vorstellungen von einer Vertiefung der sozialen Dimension weit in den nicht vergemeinschafteten Bildungsbereich übergreifen. So ist davon die Rede, dass für wichtige Parameter verbindliche Richtwerte unter anderem in Bezug auf leistungsfähige Bildungssysteme entwickelt oder die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger durch die EU mittels erweiterter Berufsbildungsprogramme gestärkt werden könnten.
- 13. Der Bundesrat verleiht zudem seiner Sorge Ausdruck, dass originäre Bildungsangelegenheiten immer mehr von anderen Politikbereichen vereinnahmt werden. Dies steht weder in Einklang mit den europäischen Verträgen, noch wird es dem Eigenwert von Bildung gerecht (siehe auch die Stellungnahme des Bundesrates vom 17. Juni 2016, BR-Drucksache 116/16(B) , Ziffer 15).
- 14. Des Weiteren begrüßt er alle Maßnahmen zur Beschäftigung junger Menschen (Kapitel I Nummer 4 der Säule), die zu einer schnellstmöglichen Eingliederung in den Arbeitsmarkt führen oder dieses Ziel im Sinne von entsprechenden Angeboten unterstützen. Passgenaue Qualifizierungsmaßnahmen und der Zeitfaktor spielen dabei eine maßgebliche Rolle. Der Bundesrat stellt fest, dass das Recht auf Übertragung von Ansprüchen auf Fortbildung bei beruflichen Übergängen unklar bleibt, zumal die englische Fassung "transfer of training entitlements during professional transitions" weiter zu gehen scheint als die deutsche Übersetzung. Er erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass eine Modularisierung mit dem in Deutschland etablierten System in der allgemeinen und beruflichen Bildung nicht vereinbar ist (siehe auch die Stellungnahme des Bundesrates vom 23. September 2016, BR-Drucksache 315/16(B) , Ziffer 15).
- 15. Der Bundesrat lehnt eine von einem hierauf gerichteten Verlangen unabhängige Pflicht zur Begründung einer Kündigung ausdrücklich ab (Kapitel II Nummer 7 Buchstabe b der Säule). Mit Blick auf die primäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Arbeitsrecht und das Subsidiaritätsprinzip werden auch EU-Vorgaben für eine Verpflichtung zur Zahlung einer Entschädigung bei ungerechtfertigten Kündigungen abgelehnt. Im Falle erfolgreicher Rechtsbehelfe wegen ungerechtfertigter Kündigung besteht das Arbeitsverhältnis fort. Er weist darauf hin, dass eine "zusätzliche" Entschädigung bei fortgesetztem Arbeitsverhältnis den Arbeitgeber belastet.
- 16. Der Bundesrat unterstützt aus familienpolitischer Perspektive grundsätzlich die Zielsetzung der Kommission zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (Kapitel II Nummer 9 der Säule) mit Blick auf ein Recht von Eltern und von Menschen mit Betreuungs- und Pflegepflichten auf angemessene Freistellungs- und flexible Arbeitszeitregelungen sowie Zugang zu Betreuungsdiensten. Ein durchsetzbarer Rechtsanspruch braucht allerdings den Ausgleich auch mit den Erfordernissen der Unternehmen. Vieles wird in Deutschland durch das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz sowie des Teilzeit- und Befristungsgesetz bzw. das SGB VIII und landesrechtliche Regelungen zur Förderung der Kinderbetreuung sowie durch das Pflegezeitgesetz und das Familienpflegezeitgesetz bereits gewährleistet.
- 17. Der Bundesrat unterstützt außerdem das Ziel der Maßnahmen zur Betreuung und Unterstützung von Kindern (Kapitel III Nummer 11 der Säule). Hier ergibt sich das Recht auf hochwertige, bezahlbare frühkindliche Bildung aus Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention. Der Schutz von Kindern vor (absoluter) Armut wird in Deutschland durch Sozialtransfers (existenzsichernde Leistungen einschließlich der Leistungen für Bildung und Teilhabe, Familienleistungen) erreicht. Die Aussage, dass Kinder aus benachteiligten Verhältnissen das Recht auf besondere Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit haben, deckt sich inhaltlich mit den Bestimmungen des § 13 SGB VIII.
- 18. Der Bundesrat erinnert ferner erneut daran, dass die Verwirklichung der sozialen Dimension innerhalb der Mitgliedstaaten der EU unter anderem von einem effektiven Abruf der bereits zur Verfügung stehenden Fördermittel, beispielsweise des Europäischen Sozialfonds, abhängt (siehe bereits die Stellungnahme des Bundesrates vom 29. November 2013, BR-Drucksache 721/13(B) , Ziffer 10, und die Stellungnahme des Bundesrates vom 17. Juni 2016, BR-Drucksache 116/16(B) , Ziffer 11). Er ruft die Kommission deshalb auf, den Aufbau der für einen besseren Mittelabruf erforderlichen Strukturen in den Mitgliedstaaten mit besonderen sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen stärker und nachhaltig zu begleiten sowie die administrativen Abläufe zu verschlanken bzw. zu vereinfachen. Darüber hinaus stellt der Bundesrat fest, dass es auch in wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten nach wie vor Regionen mit sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen gibt, die einer besonderen Förderung aus Strukturfondsmitteln bedürfen.
- 19. Der Bundesrat begrüßt, dass die Säule ausdrücklich nicht das Recht der Mitgliedstaaten berühren soll, die Grundsätze ihrer Systeme der sozialen Sicherheit festzulegen. Dazu zählen aus seiner Sicht insbesondere der abzusichernde Personenkreis und die Leistungshöhe. Er weist auf die unterschiedlichen Sozialmodelle in der EU und die differenziert ausgestalteten Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten im sozialpolitischen Bereich hin. Vor diesem Hintergrund ist eine Standardisierung des Zugangs zu Systemen der gesetzlichen Alterssicherung und des Leistungsniveaus dieser Systeme durch die europäische Säule sozialer Rechte (Kapitel III Nummern 12 und 15) nicht zielführend. Vor diesem Hintergrund bittet der Bundesrat um Klarstellung, ob Renten Gegenstand des sozialpolitischen Scoreboards sein sollen, zumal hinsichtlich der einzelnen Bestandteile und Indikatoren des Scoreboards insgesamt noch Prüfungs- und Klärungsbedarf im Detail besteht.
- 20. Er fordert die Kommission im Hinblick auf die Zielsetzung der Säule dazu auf, die Möglichkeiten der sozialen Querschnittsklausel in Artikel 9 AEUV effektiver zu nutzen und der sozialen Folgenabschätzung eine stärkere Bedeutung beizumessen. Die im Zuge der Bemühungen um eine bessere Rechtsetzung von der Kommission durchgeführten sogenannten Folgenabschätzungen (impact assessments) erscheinen bisher aus strukturellen Gründen unzureichend, um gerade auch die möglichen sozialen Folgen eines Vorschlages angemessen zu berücksichtigen. Um die sozialen Folgen möglichst frühzeitig einschätzen und gegebenenfalls Alternativen entwickeln zu können und um die Organe der EU stärker in die Pflicht für ihre soziale Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu nehmen, sollten solche Folgenabschätzungen künftig nicht mehr von den Dienststellen der Kommission selbst, sondern von einem unabhängigen Gremium vorgenommen werden.
- 21. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.