Der Bundesrat hat in seiner 876. Sitzung am 5. November 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Kommission, dass die Mobilität zu Lernzwecken es jungen Menschen ermöglicht, neues Wissen und interkulturelle Kompetenzen zu erwerben, Sprachkenntnisse zu erweitern, ihre persönliche Entwicklung voranzubringen und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu steigern. Vor diesem Hintergrund sieht der Bundesrat in der Behandlung des Themas einen erheblichen europäischen Mehrwert. Der Bundesrat weist aber angesichts des Schwerpunkts, den die Kommission auf die Beschäftigungsfähigkeit legt, erneut darauf hin, dass sich Bildung nicht darin erschöpft, die Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern, sondern das umfassendere Ziel haben muss, Werte zu vermitteln und die gesamte Persönlichkeit zur Entfaltung zu bringen.
- 2. Soweit die Kommission herausstellt, dass die Mobilität zu Lernzwecken wesentlich zur Europäisierung der Bildungssysteme beigetragen hat, weist der Bundesrat mit Nachdruck darauf hin, dass dies im Hinblick auf das Kompetenzgefüge der EU-Verträge und das für den Bildungsbereich geltende Harmonisierungsverbot nicht Ziel der europäischen Bildungskooperation im Allgemeinen und der Mobilitätsförderung im Besonderen sein kann.
- 3. Im Hinblick auf die Ratsschlussfolgerungen vom 2 1. November 2008 zur Mobilität junger Menschen, wonach Lernphasen im Ausland für alle jungen Menschen in Europa allmählich die Regel werden sollen, begrüßt der Bundesrat die vielfältigen Aktionen der EU zur Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität zu Lernzwecken. Er unterstützt deshalb grundsätzlich die Bestrebungen, bis zum Jahr 2020 allen jungen Menschen in Europa die Möglichkeit zu geben, einen Teil ihrer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat zu absolvieren, betont aber zugleich, dass insoweit lediglich Möglichkeiten geschaffen, aber keine Verpflichtungen begründet werden können.
- 4. Die Einschätzung der Kommission, dass nach wie vor verhältnismäßig wenig junge Menschen zu Lernzwecken ins Ausland gehen, wird vom Bundesrat geteilt. Deshalb erachtet auch er es für notwendig, jungen Menschen die vielfältigen Vorteile einer Mobilitätsphase näher zu bringen und Hindernisse abzubauen. Wie von der Kommission dargelegt, bedarf es hierzu eines intensiven Zusammenwirkens aller Partner, um Mobilitätspotenziale auszuschöpfen und bestehende Angebote zur Bildungsmobilität zu verbessern. Der Bundesrat setzt dabei vor allem auf einen qualitativen Ausbau der Programme und auf bessere Information über die Fördermöglichkeiten.
- 5. Der Bundesrat ist sich der wichtigen Rolle des Erasmus-Programms bewusst, das seit über 20 Jahren die Mobilität im Hochschulbereich erfolgreich fördert. Er warnt aber davor, die Bedeutung zu unterschätzen, die der Mobilität auch für die schulische und berufliche Bildung sowie im Hinblick auf das lebenslange Lernen zukommt. Insbesondere hält er - ebenso wie Kommission - die Teilnahme an Mobilitätsmaßnahmen bereits in jungen Jahren insofern für besonders effizient, als sie zugleich die Bereitschaft fördert, die Chancen der Mobilität auch für Studium und Beruf zu nutzen. Die angestrebte Hauptzielgruppe der 16- bis 35-Jährigen erscheint vor diesem Hintergrund sowohl nach oben als auch nach unten zu eng gefasst.
- 6. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass auch Auslandspraktika förderungsfähig sein sollten. Bei der künftigen Ausgestaltung von Förderprogrammen sollte sich deshalb verstärkt das Ziel widerspiegeln, die Mobilität junger Menschen auch bereichsübergreifend zu fördern. So sollten grundsätzlich Schülerinnen und Schüler aller Schularten die Möglichkeit erhalten, im Rahmen eines geförderten Praktikumsaufenthalts betriebliche Erfahrungen zu sammeln. Dies würde sich zugleich in die Bestrebungen der europäischen Bildungskooperation einfügen, Partnerschaften zwischen Bildungseinrichtungen und der Welt der Arbeit zu entwickeln. Auf Grund der erheblichen strukturellen Unterschiede zwischen den Bildungs- und Ausbildungssystemen der Mitgliedstaaten wäre dabei darauf zu achten, dass die betreffenden Programmteile ausreichend Flexibilität vorsehen, um diesen Unterschieden Rechnung tragen zu können.
- 7. Der Bundesrat setzt sich dafür ein, wirtschaftlich oder sozial benachteiligte Menschen sowie Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder mit Migrationshintergrund stärker in die Mobilitätsprogramme einzubeziehen und zusätzliche Unterstützungen in Erwägung zu ziehen. Denn gerade diese Menschen sehen sich oftmals mit spezifischen Hindernissen konfrontiert, die ihnen eine Teilnahme an Mobilitätsmaßnahmen erschweren.
- 8. Der Bundesrat ist überzeugt, dass Multiplikatoren wie Lehrkräfte, Ausbildende, Jugendbetreuer und ehemalige Teilnehmer an Mobilitätsmaßnahmen eine Schlüsselrolle bei der Förderung der Mobilität junger Menschen spielen. Multiplikatoren, die selbst bereits im Ausland waren, fungieren als Botschafter der positiven Auswirkungen von Mobilität und vermögen diese anschaulich und glaubwürdig zu vermitteln. Allerdings gibt der Bundesrat zu bedenken, dass bei derartigen Mobilitätsmaßnahmen gleichzeitig Lösungen gefunden werden müssen, die den personellen, organisatorischen und finanziellen Bedürfnissen der Schulen und Ausbildungsbetriebe angemessen Rechnung tragen.
- 9. Der Bundesrat teilt die von der Kommission getroffene Einschätzung, dass der Überwindung von sprachlichen und kulturellen Hindernissen, die junge Menschen von einem Auslandsaufenthalt abhalten können, große Bedeutung zukommt. Dennoch weist er im Hinblick auf die uneingeschränkte Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Gestaltung der Lehrpläne die Forderung der Kommission zurück, wonach die sprachliche und kulturelle Vorbereitung einer Mobilitätsphase ein zentraler Bestandteil der Lehrpläne werden muss.
- 10. Soweit die Kommission die Mitgliedstaaten aufruft, die Kohärenz und Komplementarität nationaler und europäischer Programme sicherzustellen, weist der Bundesrat darauf hin, dass die EU nach den vertraglichen Grundlagen zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung dadurch beiträgt, dass sie die Tätigkeit der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten erforderlichenfalls unterstützt und ergänzt. Vor diesem Hintergrund sind vorrangig nicht die Mitgliedstaaten, sondern die Kommission aufgerufen, die Kohärenz und Komplementarität der europäischen Programme mit den nationalen Programmen sicherzustellen.
- 11. Der Bundesrat begrüßt die Absicht der Kommission, die EU-Programme wie Erasmus, Leonardo da Vinci, Comenius und Grundtvig weiterhin zu nutzen und auszubauen, da sich aus Sicht des Bundesrates das Programm für Lebenslanges Lernen als Instrument zur Förderung der Mobilität zu Lernzwecken bewährt hat. Er spricht sich deshalb dafür aus, dieses Programm auch im Rahmen des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens in seiner derzeitigen Grundstruktur fortzuführen und nur in einzelnen Programmteilen weiterzuentwickeln. Aus diesem Grund begegnet der Bundesrat der gleichzeitigen Ankündigung der Kommission, für die EU-Bildungsprogramme im nächsten Finanzrahmen (2014 bis 2020) ein stärker integriertes Konzept auszuarbeiten, mit größter Zurückhaltung. Unklar ist auch, wie sich diese Initiative, die namentlich auf die Jugend abstellt, zum Anspruch des lebenslangen Lernens verhalten soll. Soweit die Kommission für den Bildungsbereich eine bessere Ausschöpfung des Europäischen Sozialfonds (ESF) anstrebt, gibt der Bundesrat außerdem zu bedenken, dass der Fokus des ESF auf der Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit liegt, die als primäres Ziel der Mobilität zu Lernzwecken vom Bundesrat abgelehnt wird.
- 12. Angesichts der Forderung der Kommission, die Umsetzung der bestehenden EU-Instrumente sicherzustellen, weist der Bundesrat darauf hin, dass im Hinblick auf deren unverbindlichen Rechtscharakter es den Mitgliedstaaten obliegt, nicht nur über die Modalitäten, sondern auch über das "Ob" der Umsetzung zu entscheiden. Der Bundesrat erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass er die deutsche Beteiligung an der europäischen Bildungskooperation nach wie vor als freiwilligen Prozess betrachtet, der sich auf Grund der vertraglichen Bestimmungen jedweder Vorgabe durch die europäische Ebene entzieht.
- 13. Der Bundesrat nimmt die Einschätzung der Kommission zur Kenntnis, dass die Empfehlung 2001/613/EG vom 10. Juli 2001 über die Mobilität von Studierenden, in der Ausbildung stehenden Personen, Freiwilligen, Lehrkräften und Ausbildern veraltet und deshalb auf den neuesten Stand zu bringen ist. Als wesentliche Neuerung der vorgeschlagenen Empfehlung sticht im Gegensatz zu zahlreichen Vorschlägen, die weitgehend den bisherigen Regelungen entsprechen, der sogenannte "Mobilitätsanzeiger" heraus, der eine Bewertung der Fortschritte ermöglichen soll, die die Mitgliedstaaten bei der Beseitigung von Mobilitätshemmnissen erzielen. Mangels konkreter Darstellung zur Ausgestaltung und Funktionsweise des Mobilitätsanzeigers ist eine abschließende Bewertung des Vorschlags zwar nicht möglich. Derartige Überwachungs- und Kontrollmechanismen sind aber nach Auffassung des Bundesrates geeignet, die Bildungshoheit der Mitgliedstaaten zu untergraben, und werden im Hinblick auf das vertragliche Kompetenzgefüge als nicht vertragskonforme Bewertung bildungspolitischer Maßnahmen der Mitgliedstaaten abgelehnt.
- 14. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Kommission, dass die Rahmenbedingungen für Statistiken zu grenzüberschreitender Mobilität verbessert werden sollten, da in diesem Bereich vergleichbare und belastbare Daten nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund ist eine verlässliche Datenlage anzustreben, ohne dadurch aber unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand für die Mitgliedstaaten zu verursachen.
- 15. Unter dem Gesichtspunkt des Verwaltungsaufwands begrüßt der Bundesrat den Vorschlag der Kommission, etwaige Berichte über die Förderung der Mobilität zu Lernzwecken im Rahmen bereits bestehender Berichtsprozesse zu erstellen, und lehnt vorsorglich die Begründung neuer Berichtspflichten zu diesem Themenbereich ab.