Unterrichtung durch die Bundesregierung
Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren KOM (2005) 696 endg.; Ratsdok. 5381/06

Übermittelt vom Bundesministerium der Finanzen am 20. Januar 2006 gemäß § 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (BGBl. I 1993 S. 313 ff.).

Die Vorlage ist von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 26. Dezember 2005 dem Generalsekretär/Hohen Vertreter des Rates der Europäischen Union übermittelt worden.


Hinweis: vgl.
Drucksache 396/03 (PDF) = AE-Nr. 030752

Grünbuch
über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren

Mit diesem Grünbuch soll eine umfassende Konsultation aller interessierten Kreise zu Kompetenzkonflikten in Strafsachen sowie zum Grundsatz ne bis in idem eingeleitet werden.

Im Grünbuch werden Problemstellungen aufgezeigt, die sich aus der derzeitigen Rechtslage ergeben können, und Lösungsvorschläge vorgestellt. Im beigefügten Arbeitspapier wird näher auf einzelne Aspekte eingegangen.

Stellungnahmen zu diesem Grünbuch können bis zum 31. März 2006 an folgende Anschrift gerichtet werden:


Europäische Kommission
Generaldirektion Justiz, Freiheit und Sicherheit
Referat D3 - Strafjustiz
Büro LX46 003/20 (PDF)
B -1049 Brüssel
E-Mail: JLS-criminaljustice@cec.eu.int
Fax: (+32-2) 296 76 34

Soll eine Stellungnahme nicht auf der Website der Kommission veröffentlicht werden, bittet die Kommission darum, in der Stellungnahme ausdrücklich darauf hinzuweisen.

1. Hintergrund

In dem Maße, wie Straftäter zunehmend international agieren, ist die Strafjustiz in der EU immer häufiger mit Situationen konfrontiert, in denen mehrere Mitgliedstaaten in einem bestimmten Fall für die Strafverfolgung zuständig sind. So genannte positive Kompetenzkonflikte, d.h. die Behörden mehrerer Mitgliedstaaten ermitteln in ein und demselben Fall, dürften heute zudem häufiger auftreten, da der Zuständigkeitsbereich der einzelstaatlichen Strafverfolgungsbehörden in der Vergangenheit vielfach erheblich erweitert wurde.

Die Mehrfachverfolgung derselben Straftat steht im Widerspruch zu den Rechten und Interessen der Betroffenen und hat u. U. unnötigen Doppelaufwand zur Folge.

So kann es dazu kommen, dass Beschuldigte, Opfer und Zeugen in mehreren Ländern vor Gericht geladen werden. Sie werden durch Mehrfachverfahren in ihren Rechten und Interessen, z.B. in ihrer Freizügigkeit, eingeschränkt. Die anwaltliche Vertretung wird komplizierter und zieht höhere Kosten nach sich. Damit einher geht auch eine stärkere psychische Belastung. In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sollten solche negativen Wirkungen nach Möglichkeit vermieden und die Mehrfachverfolgung wegen ein und derselben Straftat begrenzt werden.

Den einzelstaatlichen Behörden steht es derzeit frei, in einem bestimmten Fall parallel zu den Strafverfolgungsmaßnahmen anderer Behörden eigene Ermittlungen anzustellen. Die einzige rechtliche Schranke ist das Verbot der doppelten Strafverfolgung (ne bis in idem) in den Artikeln 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens. Dieser Grundsatz verhindert jedoch keine Kompetenzkonflikte, wenn in zwei oder mehr Mitgliedstaaten parallel Strafverfolgungsmaßnahmen laufen. Er kommt nur dann zum Tragen, wenn ein Strafverfahren in einem Mitgliedstaat mit einer rechtskräftigen Entscheidung beendet wurde. Eine zweite Strafverfolgung wegen desselben Tatbestands ist dann ausgeschlossen.

Zu bedenken ist auch, dass der Grundsatz ne bis in idem ohne eine Zuständigkeitsregelung, auf deren Grundlage einem geeigneten Gericht die Zuständigkeit für einen bestimmten Fall übertragen wird, zu zufälligen oder gar willkürlichen Ergebnissen führen kann. Wenn das Gericht den Vorzug erhält, das als erstes in der Lage ist, eine rechtskräftige Entscheidung zu erlassen, läuft der Grundsatz im Ergebnis darauf hinaus, dass nach dem Motto "wer zuerst kommt, mahlt zuerst" verfahren wird. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts erfolgt derzeit eher zufällig, und das ist wohl auch der Grund, warum das Verbot der doppelten Strafverfolgung nach wie vor diversen Ausnahmen unterliegt.

Das Problem der (positiven) Kompetenzkonflikte ließe sich adäquat mit einem Verweisungsverfahren lösen, mit dem die Fälle einem geeigneten Gericht zugewiesen würden. Ginge die Strafverfolgung von einem einzigen Gericht aus, würde sich das Problem der doppelten Strafverfolgung nicht mehr stellen. Ein solches Verfahren würde überdies den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ergänzen der besagt, dass eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und erforderlichenfalls vollstreckt wird.

In diesem Grünbuch skizziert die Kommission die Möglichkeiten zur Einführung eines solchen Verfahrens, das die Bestimmung des am besten geeigneten Strafgerichts erleichtern würde. Gleichzeitig wird auch eine etwaige Neugestaltung des Grundsatzes ne bis in idem erörtert. Damit kommt die Kommission der Aufforderung unter Ziff. 3.3 des Haager Programms sowie dem Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung vom 29.11.2000 nach (insbesondere den Maßnahmen 1 und 11 unter Ziff. 2.3). Einschlägige EU-Maßnahmen könnten in Form eines Rahmenbeschlusses auf der Grundlage von Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d des Vertrags über die Europäische Union (EU-Vertrag) erlassen werden, wonach das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die Vermeidung von Kompetenzkonflikten zwischen den Mitgliedstaaten einschließt.

Erforderlichenfalls könnte Buchstabe c als ergänzende Rechtsgrundlage herangezogen werden, um die Vereinbarkeit der in den Mitgliedstaaten geltenden Bestimmungen zu gewährleisten, wenn dies zur Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit notwendig ist.

2. Einführung eines Verweisungsverfahrens

1.0. Voraussetzungen

Ein Verfahren, mit dem Fälle einem geeigneten Gericht zugewiesen werden können, sollte ohne großen Verwaltungsaufwand funktionieren, gleichzeitig aber ein ausgewogenes Vorgehen in Bezug auf die Rechte der Betroffenen gewährleisten. Ein solches Verfahren kann nur funktionieren, wenn zwei grundlegende Voraussetzungen vorliegen.

Erstens sollten die zuständigen Behörden Kenntnis von den Verfahren und/oder diesbezüglichen Entscheidungen in anderen Rechtskreisen erlangen. Sie sollten einschlägige Informationen austauschen können oder vielleicht sogar zu einem solchen Austausch verpflichtet werden.

Zweitens sollten die Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats, wenn sie von Verfahren in anderen Mitgliedstaaten Kenntnis haben, die Möglichkeit haben, von der Einleitung der Strafverfolgung abzusehen oder die laufende Strafverfolgung auszusetzen wenn bereits ein anderer Mitgliedstaat in demselben Fall ermittelt.

Das Absehen von der Einleitung der Strafverfolgung (oder die Aussetzung der laufenden Strafverfolgung) kann in Justizsystemen zu Problemen führen, die auf dem Legalitätsprinzip basieren und die zur Verfolgung jeder Straftat verpflichtet sind, die in ihre Zuständigkeit fällt. Dies kann insbesondere dann Probleme verursachen, wenn dieser Grundsatz in der nationalen Verfassung verankert ist. Daher sollte in einem künftigen Rechtsakt eine Ausnahme von der Anwendung dieses Grundsatzes festgelegt werden. In dieser Hinsicht lässt sich zu Recht argumentieren, dass in einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts diesem Grundsatz Genüge getan ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat einen solchen Fall verfolgt.

2.0. Verfahren

Sind die vorgenannten Voraussetzungen gegeben, wäre ein Verweisungsverfahren in folgender Form denkbar.

Schritt 1: Feststellung und Information der "interessierten Behörden"

Als erstes wäre festzustellen, welche Mitgliedstaaten ein Interesse daran haben könnten bei der Bestimmung des geeignetsten Gerichts für einen bestimmten Fall mitzuwirken. Diese Mitgliedstaaten würden dann entsprechend informiert. Hierzu könnte eine EU-Regelung vorsehen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, der eine Strafverfolgung eingeleitet hat oder einzuleiten beabsichtigt ("Staat der Strafverfolgung"), in einem Fall, der eine enge Verbindung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweist, die zuständigen Behörden dieses anderen Mitgliedstaats rechtzeitig informieren muss. Eine solche Verpflichtung könnte Strafverfolgungsbehörden und/oder anderen Justiz-, Ermittlungs- oder Strafvollstreckungsbehörden je nach Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Strafjustizsysteme auferlegt werden. Die auf diese Weise informierten Behörden könnten dann ihrerseits ihr Interesse an der Verfolgung des betreffenden Falls bekunden. Diese Interessenbekundung sollte innerhalb einer bestimmten Frist erfolgen. In Ausnahmefällen könnte eine solche Interessenbekundung jedoch auch nach Fristablauf zulässig sein. Wenn kein Mitgliedstaat Interesse an einer Strafverfolgung bekundet, könnte der Staat, der die Strafverfolgung eingeleitet hat, den Fall ohne weitere Rücksprache weiterverfolgen, solange keine neuen Umstände eintreten die eine andere Bewertung des Sachverhalts nahelegen.

Schritt 2: Konsultation/Diskussion Sind zwei oder mehr Mitgliedstaaten an der Verfolgung desselben Falles interessiert, sollten ihre zuständigen Behörden gemeinsam prüfen können, wo der Fall am besten verfolgt werden kann. Es könnte eine Pflicht zur Kontaktaufnahme vorgesehen werden damit allen interessierten Mitgliedstaaten Gelegenheit zur Äußerung geboten wird. Zum jetzigen Zeitpunkt dürfte ein direkter Kontakt das effizienteste Kommunikationsmittel darstellen. Erforderlichenfalls könnten Eurojust und/oder andere Einrichtungen der EU zur Unterstützung herangezogen werden.

Schritt 2 dürfte in der Regel zu einer frühen Einigung darüber führen, welches Gericht am besten zur Verfolgung eines Falles geeignet ist, bei dem Kompetenzkonflikte auftreten. Daraufhin wird eine nationale Behörde das Verfahren einleiten oder fortsetzen, während andere Behörden ihre Verfahren freiwillig einstellen oder aussetzen werden (oder auf eine Einleitung der Strafverfolgung verzichten). Die zuständigen nationalen Behörden könnten dann einfach nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts weiter verfahren. Für solche Fälle bedarf es wohl keiner verbindlichen EU-Regelung. Bei neuen Erkenntnissen, die den Fall in einem anderen Licht erscheinen lassen, könnte im Rahmen dieses Lösungsvorschlags die diesbezügliche einzelstaatliche Entscheidung von den betroffenen Mitgliedstaaten überprüft werden. In manchen Fällen dürften die zuständigen Behörden jedoch eine verbindliche Festlegung ihrer Zuständigkeit vorziehen, um Rechtssicherheit zu gewährleisten und eine erneute Diskussion über Zuständigkeitsfragen zu vermeiden. Sie könnten in diesem Fall, auf eine EU5 Mustervereinbarung zurückgreifen, die u. a. gemeinsame Vorschriften für die Kündigung solcher Vereinbarungen enthalten könnte.

Schritt 3: Streitbeilegung/Mediation Ist eine Einigung nicht ohne weiteres möglich, bedarf es eines Streitschlichtungsverfahrens. Schritt 3 sollte den interessierten Behörden die Gelegenheit zu einem strukturierten Dialog bieten, der eine objektive Interessenabwägung ermöglicht. Hier dürfte sich die Einschaltung eines auf EUEbene tätigen Gremium als Mediator empfehlen, der den beteiligten Mitgliedstaaten auf der Grundlage der nachstehenden Kriterien dabei behilflich ist, aus freien Stücken zu einer Einigung zu gelangen. Eurojust erscheint für diese Aufgabe besonders geeignet. Denkbar wäre auch die Einrichtung einer neuen Streitschlichtungsstelle, die mit Staatsanwälten und/oder Richtern aus den Mitgliedstaaten besetzt würde.

Dieser dritte Schritt könnte auf Antrag eines Mitgliedstaats eingeleitet werden, der Interesse an der Verfolgung eines Falls bekundet hat. Wenn in Schritt 2 eine gewisse Zeit ergebnislos verstrichen ist, könnte ein Streitschlichtungsverfahren auch automatisch eingeleitet werden, um sicherzustellen, dass bei Uneinigkeit zügig eine Stelle auf EU-Ebene eingeschaltet wird, die vermitteln kann. Wird in Schritt 3 Einvernehmen erreicht, sollten die zuständigen Behörden dieselben Optionen haben wie in Schritt 2 (Aufnahme oder Fortsetzung der Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat und freiwillige Aussetzung der Verfahren in den anderen Mitgliedstaaten oder Abschluss einer verbindlichen Vereinbarung).

Mit der ordnungsgemäßen Befolgung dieses Drei-Stufen-Verfahrens und den Kriterien für die Auswahl des zuständigen Gerichts (siehe 2.5) dürfte sich in vielen, wenn nicht gar den meisten Fällen eine Einigung herbeiführen lassen. Ein solches Verfahren lässt sich rasch bewerkstelligen und könnte vorerst ausreichend sein, bis weitere Erfahrungen weitere Schritte erforderlich machen. Kommt keine Einigung zustande würde wieder der Grundsatz ne bis in idem greifen.

Möglicher zusätzlicher Schritt: verbindliche Entscheidung durch eine EU-Einrichtung?

Langfristig wäre zu erwägen, in Fällen, in denen das vorgeschlagene Streitschlichtungsverfahren versagt, als weiteren Schritt die Einschaltung einer Einrichtung auf EU-Ebene vorzusehen, die verbindlich darüber entscheidet, welche Behörde zur Verfolgung des Falls am geeignetsten ist. Dieser zusätzliche Schritt wäre allerdings auf der Grundlage des EU-Vertrags in seiner jetzigen Form nur sehr schwer zu realisieren. Erstens müsste eine neue Einrichtung geschaffen werden, da die Rolle eines Mediators und die einer verbindlich entscheidenden Stelle nicht miteinander kompatibel sind. Zweitens stellt sich dann die Frage nach der gerichtlichen Nachprüfung einer solchen Entscheidung auf EU-Ebene (siehe unten).

3.0. Stellung der Betroffenen und gerichtliche Nachprüfung

Während der Ermittlungsphase stellt das Verweisungsverfahren hauptsächlich auf eine Konsultation der konkurrierenden Strafverfolgungsbehörden ab. Bei der Diskussion über Zuständigkeitsfragen mit den Betroffenen treten häufig Tatsachen zutage die eine Strafverfolgung gefährden oder die Rechte und Interessen der Opfer und Zeugen beeinträchtigen könnten. Ob in einem bestimmten Fall ein solches Risiko besteht, dürfte der Entscheidung der nationalen Gerichte überlassen bleiben.

Ist ein solches Risiko nicht ersichtlich, könnte von den zuständigen Behörden verlangt werden, dass sie umgehend die Verteidigung und die Opfer von der Festlegung des am besten geeigneten Gerichts in Kenntnis setzen. Den Betroffenen müssen jedenfalls spätestens zum Zeitpunkt der Anklageerhebung die Hauptgründe für die Wahl eines bestimmten Gerichts mitgeteilt werden.

Das einzelstaatliche Gericht, bei dem Anklage erhoben wurde, prüft gewöhnlich im Hauptverfahren (und/oder in einem Zwischenverfahren), ob es für den Fall zuständig ist während dieser Aspekt im Ermittlungsverfahren eine eher geringe Rolle spielt und der Betroffene von daher nur geringe Einflussmöglichkeiten hat. Denkbar ist eine EU-Regelung, wonach das im Wege des Verweisungsverfahrens bestimmte Gericht prüfen müsste, ob es für die Verhandlung des Falles geeignet ist. Die nationalen Gerichte scheinen zu einer solchen Prüfung durchaus in der Lage zu sein.

Eine umfassende Nachprüfung aller Aspekte, die möglicherweise eine Rolle bei der Zuweisung des Falles gespielt haben, erscheint weder realistisch noch notwendig.

Eine gerichtliche Nachprüfung könnte demnach auf eine Entscheidung hinauslaufen, ob das Angemessenheitsprinzip und der Grundsatz eines fairen Verfahrens eingehalten worden sind. Das zuständige Gericht könnte von der Gerichtswahl abgehen wenn es feststellt, dass diese Wahl willkürlich ist. Diese Nachprüfung könnte auf der Grundlage einzelstaatlicher Rechtsgrundsätze wie dem Verbot des Verfahrensmissbrauchs erfolgen. Fragen zur Auslegung EU-weit geltender Vorschriften über das Verweisungsverfahren und die Kriterien zur Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit könnten nach Artikel 35 EUV dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Vorabentscheidung vorgelegt werden.

Auf Antrag eines Betroffenen sollte die Verweisung des Falles an ein bestimmtes Gericht gerichtlich nachprüfbar sein, zumindest wenn die Verweisung im Wege einer verbindlichen Vereinbarung erfolgt. Den beteiligten Mitgliedstaaten wäre es bei einer verbindlichen Vereinbarung nämlich nicht möglich, die Gerichtswahl zu einem späteren Zeitpunkt in Frage zu stellen. Die Entscheidung, ob eine gerichtliche Nachprüfung auch dann zulässig sein soll, wenn keine verbindliche Vereinbarung über die Gerichtswahl getroffen wurde, könnte den Mitgliedstaaten und ihrem innerstaatlichen Recht überlassen bleiben (z.B. wenn eine mitgliedstaatliche Behörde auf eine Strafverfolgung verzichtet oder eine bereits eingeleitete Strafverfolgung einstellt, weil ein anderer Mitgliedstaat in dem Fall ermittelt).

Komplizierter wäre die Lage, wenn in einem weiteren Schritt einer EU-Einrichtung Entscheidungsbefugnisse übertragen würden. In diesem Fall wäre eine gerichtliche Nachprüfung unerlässlich. Es wäre jedoch unangemessen und derzeit rechtlich auch nicht möglich, nationale Gerichte mit der Nachprüfung von Entscheidungen zu betrauen die von einer EU-Einrichtung erlassen worden sind. Andererseits sehen die Gemeinschaftsverträge derzeit auch keine Rechtsgrundlage für eine solche Nachprüfung durch den EuGH vor. Nur Artikel III-359 des Vertrags über eine Verfassung für Europa enthält eine solche Rechtsgrundlage. Es wäre zu prüfen, inwieweit eine Änderung der Gemeinschaftsverträge in diesem Sinne möglich wäre.

4.0. Vorrang der Strafverfolgung im "Verfahrensmitgliedstaat"

Parallel zum Verweisungsverfahren könnte eine EU-Regelung vorgesehen werden, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, im Fall einer Mehrfachverfolgung das Verfahren auf einen "federführenden" Staat ("Verfahrensstaat") zu beschränken.

Ab einem bestimmten Verfahrensabschnitt könnte den anderen Mitgliedstaaten vorgeschrieben werden, ihre Strafverfolgung auszusetzen und von der Einleitung neuer Strafverfolgungsmaßnahmen abzusehen. Die Anwendung einer solchen Vorrangregel müsste parallel zu dem oben beschriebenen Verfahren erfolgen, da die Bestimmung des Verfahrensstaats andernfalls vom Zufall abhängen würde.

Da neue Erkenntnisse oft ein anderes Bild dessen vermitteln, was zunächst als der für die Strafverfolgung am besten geeignete Staat erschien, wäre es nicht ratsam, die zuständigen Behörden schon früh zu zwingen, endgültig über die gerichtliche Zuständigkeit zu entscheiden. Der geeignetste Zeitpunkt, zu dem eine Vorschrift, die die Bündelung aller parallelen Strafverfolgungsmaßnahmen bei einem einzigen Gericht vorschreibt, greifen könnte, wäre der Moment, in dem vor einem nationalen Gericht Anklage erhoben wird, da den zuständigen Behörden zu diesem Zeitpunkt die für eine sorgfältige Zuständigkeitsprüfung erforderlichen Informationen vorliegen. Auch ist die Belastung für die Betroffenen nach Anklageerhebung häufig am größten, so dass eine Mehrfachbelastung immer noch weitgehend vermieden werden kann, wenn die Vorschrift ab diesem Verfahrensabschnitt Anwendung findet.

Um eine Umgehung des Verweisungsverfahrens zu verhindern, sollte eine Anklageerhebung so lange nicht möglich sein, wie die Konsultationen und/oder ein Streitschlichtungsverfahren noch andauern. Die nationalen Behörden könnten somit erst Anklage erheben, nachdem sie ihren Informations- und Konsultationspflichten nachgekommen sind. Andernfalls müssten sie das Gerichtsverfahren auf Antrag eines anderen Mitgliedstaats aussetzen.

Eine Vorrangregel darf andere Mitgliedstaaten aber keinesfalls daran hindern, den Verfahrensstaat im Wege bestehender EU- oder internationaler Regelungen in jeder nur möglichen Form zu unterstützen. Sie sollten im Gegenteil ihre Unterstützung von sich aus anbieten.

5.0. Kriterien für die Bestimmung des Verfahrensstaats

Als dritter Bestandteil einer umfassenden Strategie zur Verhinderung und Lösung von Kompetenzkonflikten sollte neben dem Verweisungsverfahren und einer Vorrangregel eine Liste von Kriterien aufgestellt werden, die von den Mitgliedstaaten bei der Wahl des Verfahrensstaats heranzuziehen wären. Es könnten eine Reihe einschlägiger Kriterien festgelegt werden, die im Einzelfall recht flexibel angewandt und gewichtet werden sollten, d.h. den zuständigen Behörden wäre ein erheblicher Ermessensspielraum einzuräumen.

Diese Kriterien oder Faktoren, die die gerichtliche Zuständigkeit beeinflussen, sollten objektiv sein und könnten in einer künftigen EU-Regelung festgelegt werden.

In die Liste könnten u. a. Kriterien aufgenommen werden wie das Territorialitätsprinzip, Kriterien, die auf die Interessen des Beschuldigten sowie auf die Interessen des Staates abstellen, Effizienz und Dauer des Verfahrens.

Möglicherweise könnten auch Faktoren aufgeführt werden, die nicht von Belang sein sollten.

Als weiteren Schritt könnten sich die Mitgliedstaaten erforderlichenfalls auf eine Reihe von Grundprinzipien zur Aufstellung einer Rangfolge der Kriterien verständigen. Vielleicht wäre aber auch eine flexiblere Vorgehensweise vorzuziehen.

Unabhängig davon, ob in einer EU-Regelung eine Rangfolge unter den Kriterien aufgestellt wird, erscheint zumindest eine Einigung über ein allgemeines Leitprinzip für die Zuständigkeitszuweisung erforderlich und machbar. Ein solcher Grundsatz könnte beispielsweise auf das Angemessenheitsprinzip und/oder das Recht auf ein faires Verfahren Bezug nehmen. Die zuständigen Behörden könnten mit anderen Worten verpflichtet werden, den Interessen der Betroffenen Rechnung zu tragen.

Maßstab und maßgebliches Kriterium für eine etwaige gerichtliche Nachprüfung sollte die Sicherstellung eines fairen Verfahrens sein auf der Grundlage einer umfassenden Tatsachenwürdigung und einer ausgewogenen Abwägung der relevanten Kriterien.

3. der Grundsatz NE BIS IN IDEM

Die Artikel 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens zum Grundsatz ne bis in idem gelten derzeit im ganzen Schengen-Raum, in den zehn 2004 beigetretenen EU-Mitgliedstaaten, in Island, Norwegen und im Vereinigten Königreich; eine Erstreckung auf Irland dürfte in Kürze folgen. Im Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung vom Dezember 2000 wurde eine Überprüfung dieser Bestimmungen, insbesondere der Ausnahmen vom Verbot der doppelten Strafverfolgung, gefordert.

Über die diesbezügliche Initiative Griechenlands für einen Rahmenbeschluss1 kam im Rat keine Einigung zustande, dennoch wurde betont, "dass die Beratungen über das "Nebisinidem"-Prinzip insbesondere unter Berücksichtigung der von der Kommission vorgelegten Mitteilung zu Kompetenzkonflikten fortgesetzt werden sollten um sicherzustellen, dass ein nachweisbarer Mehrwert erzielt werden kann".

Wenn ein Verfahren eingeführt werden kann, das eine ausgewogene Gerichtswahl ermöglicht statt der "am schnellsten" agierenden Strafverfolgungsbehörde eine ausschließliche Zuständigkeit zuzuerkennen (nach dem Motto "wer zuerst kommt, mahlt zuerst"), könnten die Beratungen über das Nebisinidem-Prinzip mit größeren Erfolgschancen wieder aufgenommen werden.

Dabei könnten folgende Fragen erörtert werden:

Zunächst wäre genauer zu prüfen, ob bestimmte Definitionen und Begriffe klärungsbedürftig sind. Zu klären wäre beispielsweise, auf welche Entscheidungen der Grundsatz ne bis in idem Anwendung finden kann bzw. wann Strafklageverbrauch eintritt und/oder was unter "idem" bzw. "derselben Tat" zu verstehen ist.

Zweitens gilt der Grundsatz derzeit im Fall einer Verurteilung nur, wenn die verhängte Strafe "bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann". Diese Bedingung war bei der herkömmlichen Form der Rechtshilfe berechtigt, da sich die Strafvollstreckung in anderen Mitgliedstaaten mitunter als schwierig erwies. Es ist fraglich ob diese Bedingung in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Vollstreckung in einem anderen Staat nun im Wege der EU-Regelungen zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung geregelt ist, weiterhin notwendig ist.

Drittens ist fraglich, ob die derzeitigen Ausnahmen vom Nebisinidem-Prinzip weiterhin notwendig sind. Nach Artikel 55 des Schengener Durchführungsübereinkommen können die Mitgliedstaaten Ausnahmen vom Nebisinidem-Prinzip vorsehen, wenn sie ein Interesse an der Verfolgung bestimmter Taten in ihrem Hoheitsgebiet haben (z.B. wenn die Tat in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde, wenn die Tat gegen die Sicherheit des Mitgliedstaats gerichtet war oder wenn die Tat von einem Bediensteten des Mitgliedstaats unter Verletzung seiner Amtspflichten begangen wurde). Diese Ausnahmen werden mit der Einführung einer ausgewogenen Zuständigkeitsregelung möglicherweise gegenstandslos.


1 ABl. C 100 vom 26.4.2003, S. 24.

4. Stärkung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung

Die vorgeschlagenen Maßnahmen könnten die Europäische Union auch in die Lage versetzen die Zahl der in einigen EU-Rechtsakten aufgeführten Gründe für die Versagung der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen, die in anderen Mitgliedstaaten ergangen sind, zu reduzieren. Angesichts der derzeitigen Situation bei Kompetenzkonflikten in Strafsachen können einige dieser Ablehnungsgründe allerdings als notwendig angesehen werden. Dies dürfte bei Ablehnungsgründen der Fall sein, die darauf gestützt sind, dass eine Straftat im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats begangen wurde (vgl. Artikel 4 Absatz 7 Buchstabe a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl).

Fragen

(1) Bedarf es einer EU-Regelung, wonach das innerstaatliche Recht die Aussetzung eines Verfahrens zulassen muss, weil bereits Verfahren in anderen Mitgliedstaaten laufen?

(2) Sollte eine Pflicht zur Unterrichtung anderer Mitgliedstaaten über eine laufende oder bevorstehende Strafverfolgung bestehen, wenn die Tat eine enge Verbindung zu diesen anderen Mitgliedstaaten aufweist? Wie sollen Informationen über laufende Verfahren, rechtskräftige Entscheidungen und andere damit zusammenhängende Entscheidungen ausgetauscht werden?

(3) Sollten nationale Behörden zur Aufnahme von Kontakten mit Mitgliedstaaten verpflichtet sein, zu denen die Tat eine enge Verbindung aufweist?

(4) Besteht Bedarf an einem EU-Muster für verbindliche Vereinbarungen zwischen zuständigen Behörden?

(5) Sollte ein Streitschlichtungs-/Mediationsverfahren eingeleitet werden, wenn im direkten Kontakt kein Einvernehmen erzielt wird? Welche Einrichtung erscheint als Streitschlichtungs- oder Mediationsstelle bei Kompetenzkonflikten am besten geeignet?

(6) Besteht über die Streitschlichtung/Mediation hinaus langfristig Bedarf an einer weitergehenden Regelung, z.B. in Form einer Entscheidung durch ein Gremium auf EU-Ebene?

(7) Welche Art gerichtlicher Kontrolle oder Nachprüfung wäre bei einer Zuständigkeitszuweisung notwendig und angemessen?

(8) Bedarf es einer Regelung oder eines Grundsatzes, die bzw. der die Aussetzung/Beendigung paralleler Verfahren innerhalb der EU gebietet? Wenn ja, ab welchem Verfahrensabschnitt?

(9) Sollte die Konsultation mit Drittstaaten, insbesondere mit Staaten des Europarats, und/oder die Übertragung der Strafverfolgung an diese Staaten besonders geregelt werden? Wie sollte hier vorgegangen werden?

(10) Sollten in einer künftigen Regelung zu Kompetenzkonflikten die Kriterien aufgeführt werden die bei der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit heranzuziehen sind?

(11) Welche Kriterien wären außer dem Territorialitätsprinzip aufzunehmen? Sollte eine solche Aufstellung erschöpfend sein?

(12) Sollten in diese Aufstellung auch Faktoren aufgenommen werden, die für die Bestimmung des geeigneten Gerichts als irrelevant angesehen werden? Wenn ja, welche Faktoren?

(13) Ist es notwendig, machbar und angemessen, eine Rangfolge unter den Kriterien aufzustellen nach denen sich das zuständige Gericht bestimmt? Wenn ja, sollte dem Territorialitätsprinzip Vorrang eingeräumt werden?

(14) Ist eine Änderung der EU-Vorschriften zum Grundsatz ne bis in idem erforderlich?

(15) Sind Sie mit der nachstehenden Abgrenzung des Anwendungsbereichs des Nebisinidem-Grundsatzes einverstanden: "eine Entscheidung in Strafsachen, die von einer Justizbehörde erlassen wurde oder gegen die ein Rechtsmittel bei einer solchen Behörde eingelegt wurde"?

(16) Sind Sie mit der nachstehenden Definition des Begriffs "rechtskräftige Entscheidung" einverstanden: "...eine Entscheidung, die eine neue Strafverfolgung nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem die Entscheidung ergangen ist, untersagt, sofern dieses Verbot nicht den Zielen des EU-Vertrags zuwiderläuft"?

(17) Sollten in die Definition der "rechtskräftigen Entscheidung" ausdrücklich Ausnahmen aufgenommen werden (z.B. "eine Entscheidung, die eine neue Strafverfolgung nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem die Entscheidung ergangen ist, untersagt, ausgenommen in den Fällen,")?

(18) Sollte zusätzlich zu den in Fragen 16 und 17 genannten Kriterien eine vorherige Würdigung des Sachverhalts ausschlaggebend dafür sein, ob aufgrund einer Entscheidung EU-weit Strafklageverbrauch eingetreten ist?

(19) Ist eine Definition dessen, was unter "derselben Tat" zu verstehen ist, möglich und notwendig oder sollte dies der Rechtsprechung des EuGH überlassen bleiben?

(20) Gibt es Ihrer Ansicht nach Situationen, in denen eine Vollstreckungsbedingung nach wie vor erforderlich wäre; wenn ja, welche? Kann auf diese Vollstreckungsbedingung verzichtet werden, wenn es ein Verfahren zur Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit gibt?

(21) Inwieweit haben die Ausnahmen in Artikel 55 des Schengener Durchführungsübereinkommens noch ihre Berechtigung? Kann auf diese Ausnahmen verzichtet werden, wenn ein Verfahren zur Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit eingeführt ist, oder halten Sie weitere Maßnahmen für erforderlich, um den Verzicht auf diese Ausnahmen zu kompensieren?

(22) Sollte der Nebisinidem-Grundsatz als zwingender Grund für die Ablehnung von Rechtshilfeersuchen ausgestaltet werden? Wenn ja, welche EU-Bestimmungen müssten angepasst werden?

(23) Ist eine kohärentere Vorgehensweise bei der Anwendung des Nebisinidem-Grundsatzes gegenüber Drittstaaten erforderlich? Ist zwischen Mitgliedstaaten des Europarats und anderen Ländern zu unterscheiden?

(24) Sind Sie mit einer ausgewogenen Zuständigkeitsregelung einverstanden?