Der Bundesrat hat in seiner 893. Sitzung am 2. März 2012 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt den vorliegenden Beschlussvorschlag dem Grunde nach.
- 2. Er erkennt die Initiative der Kommission an, die Kapazitäten und Strukturen der EU zur wirksamen Reaktion auf schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen zu verbessern. Eine Verbesserung der Verfahren zur Koordinierung der Verhütung und Bekämpfung schwerwiegender Gesundheitsgefahren wird grundsätzlich begrüßt.
- 3. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es aus der Sicht des Bundesrates klarer Regeln für die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Systemen zum Umgang mit schwerwiegenden Gesundheitsgefahren auf mitgliedstaatlicher Ebene und auf EU-Ebene. Unverhältnismäßige Eingriffe in die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten dürfen damit nicht verbunden sein.
- 4. Er gibt dabei zu bedenken, dass der Aufbau von Parallelstrukturen in Form von gesundheitsbezogenen Schnellwarnsystemen zu bereits bestehenden Systemen im Bereich der Sicherheit in der Lebensmittelkette vermieden werden muss.
Zur Vermeidung unnötiger Doppelarbeit wird die entsprechende Überarbeitung der Zuständigkeits- und Zusammenarbeitsstrukturen als erforderlich angesehen.
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, im Rahmen der weiteren Beratung auf EU-Ebene für klare Strukturen unter Berücksichtigung der Belange des gesundheitlichen Verbraucherschutzes einzutreten.
- 5. Der Bundesrat betont, dass die vertraglich garantierte Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten in den Bereichen Katastrophenschutz und Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit für die Länder von großer Bedeutung ist.
Die EU hat mit dem Vertrag von Lissabon zwar erstmals eine spezielle Kompetenz zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung von Maßnahmen der Mitgliedstaaten zum Schutz und der Verbesserung der menschlichen Gesundheit erhalten sowie im Katastrophenschutz. Die von ihr vorzusehenden Maßnahmen haben aber ausschließlich unterstützende Funktion und dürfen nicht in die grundsätzliche Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten eingreifen.
Aus der Begründung des Beschlussvorschlags (Ziffer 1, insbesondere 1.3) wird deutlich, dass die Regelungen des Legislativ-Vorschlags der Kommission zur Stärkung des Katastrophenschutzverfahrens der Union zu eigenen Kompetenzen der EU im Katatastrophenschutz führen können.
Der Bundesrat bittet, dass der Beschluss der EU so ausgestaltet wird, dass er zwar die Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten stärkt, jedoch keine neuen Institutionen und Zuständigkeiten schafft. Insbesondere muss vermieden werden, dass Entscheidungs-, Durchführungs- und Finanzierungskompetenzen für gemeinsame Einsätze auf die Kommission übertragen werden.
- 6. Bereits jetzt gibt es auf Ebene der EU gut funktionierende Systeme zum Umgang mit Gesundheitsgefahren (z.B. im Arzneimittel- und Lebensmittelbereich, bei der Bekämpfung von Tierseuchen etc.). Mit dem vorliegenden Vorschlag soll das bestehende gemeinschaftsrechtliche Regime zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten auf EU-Ebene nun auf nahezu alle schwerwiegenden grenzüberschreitenden (außer nuklearen) Gesundheitsgefahren ausgedehnt werden. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass das neue System grundsätzlich nur dann zur Anwendung kommen sollte, wenn bei einer Gesundheitsgefahr kein anderer Mechanismus greift. Der Gesundheitsschutz der Bevölkerung muss in allen Regimen die höchste Priorität haben und darf nicht zum Aufbau von Parallelstrukturen führen. Die internationalen Gesundheitsvorschriften regeln die Maßnahmen an Grenzübergangsstellen. Darüber hinaus werden keine speziellen europäischen Regelungen benötigt.
- 7. Der Bundesrat bezweifelt, dass eine Koordinierung der Krisenreaktionen der Mitgliedstaaten auf schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen durch den bisher nur beratend tätigen und zukünftig rechtlich formalisierten Gesundheitssicherheitsausschuss (Health Security Comitee, HSC) zweckmäßig und umsetzbar ist, da insbesondere unklar ist, wie die Koordinierung von Prävention und Krisenmanagement funktionieren soll. Der Gesundheitssicherheitsausschuss soll Gefahrbewertungen einholen oder Risikoeinschätzungen durch Experten vornehmen lassen, hat jedoch keinerlei Entscheidungs- oder Vorschlagsrechte, sondern soll lediglich die Kommission beraten. Der Bundesrat hält es für notwendig, zunächst die Aufgaben des Gesundheitssicherheitsausschusses eindeutig festzulegen und von den "Adhoc-Monitoringnetzen", dem Frühwarn- und Reaktionssystem (EWRS) und anderen EU-Agenturen (zum Beispiel Arzneimittel) abzugrenzen, um zu klären, ob mit dem Gesundheitssicherheitsausschuss überhaupt ein Mehrwert erreicht werden kann. Darüber hinaus sieht der Bundesrat keine Notwendigkeit zur Koordinierung von Bereitschafts- und Reaktionsplänen (zum Beispiel Pandemiepläne) durch den Gesundheitssicherheitsausschuss, da bereits Mechanismen etabliert sind, um die Interoperabilität der Pläne zu ermöglichen.
- 8. Der Bundesrat hat zwar grundsätzlich keine Bedenken, dass eine Rechtsgrundlage zur Möglichkeit der freiwilligen gemeinsamen Beschaffung von Impfstoffen und Arzneimitteln (Joint Procurement) geschaffen wird, da die Teilnahme der Mitgliedstaaten freiwillig ist. Er weist jedoch darauf hin, dass dies keine finanziellen Auswirkungen für nicht teilnehmende Mitgliedstaaten haben darf.
- 9. Der Bundesrat bezweifelt, dass die im Ereignisfall zeitlich begrenzt aufgebauten "Adhoc-Monitoringnetze" in der Lage sind, ausreichend belastbare Daten zu liefern, um die Kommission und die Mitgliedstaaten aktuell über die Entwicklung der Situation in den betroffenen Staaten zu informieren. Zudem fordert der Bundesrat, bestehende Frühwarnsysteme in das EWRS zu integrieren, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, über verschiedene Systeme Warnmeldungen und Informationen zum gleichen Ereignis abzusetzen.
- 10. Der Bundesrat sieht keinen unionsrechtlichen Spielraum für die Kommission, im Wege eines delegierten Rechtsaktes gemeinsame befristete Gesundheitsschutzmaßnahmen ergänzend zu den Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu erlassen. Der Beschlussvorschlag ermöglicht der Kommission tiefgreifende Eingriffe in die originäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die nicht mit dem AEUV, insbesondere den Anforderungen des Artikels 290 AEUV, vereinbar sind.
- 11. Die in Artikel 12 vorgesehene Übertragung der Befugnis zum Erlass von delegierten Rechtsakten stützt sich auf Artikel 290 AEUV. Demnach kann der Kommission die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen. Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung müssen in dem Gesetzgebungsakt ausdrücklich festgelegt werden. Für die wesentlichen Aspekte eines Bereichs ist eine Befugnisübertragung ausgeschlossen. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass Artikel 12 des Kommissionsvorschlags diesen Anforderungen nicht entspricht. Es ist nicht hinreichend bestimmt, wie und durch wen festgestellt werden soll, unter welchen Voraussetzungen sich die Koordinierung der Mitgliedstaaten als unzureichend erweist. Ebenso wird nicht hinreichend festgelegt, zu welchen Maßnahmen die Kommission ermächtigt werden soll. Für die Mitgliedstaaten verbindliche Gesundheitsschutzmaßnahmen sind zudem tiefgreifende Eingriffe in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten und stellen wesentliche Aspekte im Sinne von Artikel 290 Absatz 1 AEUV im Bereich der Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren dar.
- 12. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.