Der Ministerpräsident Potsdam, 27. Juni 2018 des Landes Brandenburg
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Regierenden Bürgermeister
Michael Müller
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,
die Regierungen der Länder Brandenburg und Thüringen haben beschlossen, dem Bundesrat die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates - Herausforderungen in der Pflege angehen und Kosten gerecht verteilen zuzuleiten.
Ich bitte, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 969. Sitzung des Bundesrates am 6. Juli 2018 zu setzen und sodann den Ausschüssen zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dietmar Woidke
Entschließung des Bundesrates - Herausforderungen in der Pflege angehen und Kosten gerecht verteilen
Der Bundesrat möge folgende Entschließung fassen:
Die Pflege ist ein wichtiger Teil der Daseinsvorsorge, ihre Sicherstellung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die demografische Entwicklung stellt die Gesellschaft zunehmend vor die Frage, wie es auch künftig gelingen kann, den Menschen eine ausreichende, qualitätsgerechte und finanzierbare pflegerische Versorgung zur Verfügung zu stellen. Dazu ist es erforderlich, die Ausbildungs- und Beschäftigungsbedingungen in der Pflege nachhaltig zu verbessern. Die Pflegebranche muss in der Konkurrenz um Fachkräfte mithalten können. Hierzu gehören gute Arbeitsbedingungen und eine angemessene Entlohnung der Pflegekräfte. Dass Pflege und Betreuung von Menschen im Vergleich zu anderen Branchen geringer vergütet wird, trifft auf immer weniger gesellschaftliche Akzeptanz.
Mit den durch notwendige Qualitätsverbesserungen verbundenen Kostensteigerungen stellt sich jedoch in zunehmendem Maße die Frage nach der Bezahlbarkeit von Pflege. Wenn Pflegedienste oder Pflegeeinrichtungen ihre Beschäftigten besser bezahlen als bisher, ihren Personalschlüssel anheben oder in den betrieblichen Gesundheitsschutz investieren, treffen die damit verbundenen Kosten aufgrund der gedeckelten Leistungsbeträge der Pflegeversicherung zunächst ausschließlich die pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen. Mit der Hilfe zur Pflege steht zwar ein ergänzendes Hilfesystem zur Verfügung. Im Alter zum Sozialfall zu werden wird jedoch zunehmend als unzumutbar und entwürdigend empfunden. Es lässt sich nicht mehr vermitteln, dass Pflegebedürftige, ihre Angehörigen oder letztlich die Sozialhilfe die finanziellen Lasten allein zu tragen haben, die durch die demografische Entwicklung und steigende Pflegekosten anfallen.
In den Jahren 2005 - 2015 stiegen die pflegebedingten Kosten in der vollstationären Pflege um durchschnittlich 16,5 Prozent, die Kosten für Unterkunft und Verpflegung um 17,8 Prozent und die Investitionskosten um 6,6 bis 8 Prozent. Trotz der in den vergangenen Jahren erreichten Verbesserungen stand dem in der stationären Pflege keine gleichwertige Erhöhung der Pflegeversicherungsleistungen gegenüber. Auch infolgedessen steigen seit Jahren die Bruttoausgaben in der Hilfe zur Pflege in vollstationären Pflegeeinrichtungen, obwohl der Anteil der vollstationär versorgten pflegebedürftigen Menschen im Vergleich zur ambulanten Pflege sinkt. Dieser Effekt wird zudem weiter verstärkt werden, wenn die mit dem Pflegestärkungsgesetz II getroffenen Besitzstandsregelungen im Zeitverlauf an Bedeutung verlieren.
Vor dem Hintergrund der dringend zu bewältigenden Herausforderungen in der Pflege fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf:
- 1. Der von der Bundesregierung vorgesehene Weg zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Bezahlung in der Altenpflege ist konsequent weiterzuverfolgen. Die Länder unterstützen im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten die Bundesregierung insbesondere bei dem Ziel, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen.
- 2. Die Personalbemessung in stationären Pflegeeinrichtungen ist zügig auf eine bundeseinheitliche Grundlage zu stellen, damit der Wettbewerb unter den Einrichtungen wieder über die Qualität der gebotenen Leistungen und nicht über die Anzahl des eingesetzten Personals stattfindet.
- 3. Pflegebedürftigen ist als Verbraucherinnen und Verbrauchern eine bessere unabhängige Beratung und Unterstützung in vertragsrechtlichen Fragen zur Verfügung zu stellen, damit die Auswirkungen von Pflegesatz- und Vergütungsverhandlungen sowie Tarifvertragsabschlüssen für sie und ihre Angehörigen transparenter werden und die zivilrechtliche Position in den verschiedenen Betreuungskonstellationen gewahrt werden kann.
- 4. Der Bundesrat anerkennt die Maßnahmen der Bundesregierung, den pflegeergänzenden und präventiven Bereich z.B. durch alltagsunterstützende Angebote zu stärken, damit der Bedarf an professioneller Pflege so lange wie möglich hinausgezögert wird. Weitere Investitionen in diesem Bereich sind unerlässlich.
- 5. Das Finanzierungssystem in der Pflege ist an die zunehmenden Herausforderungen der demografischen Entwicklung anzupassen.
- a. Hierzu ist in einem ersten Schritt die Prüfung der Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung gemäß § 30 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) auf das Jahr 2018 vorzuziehen, damit das Ergebnis der Prüfung spätestens im Jahr 2019 rechtlich verankert werden kann.
- b. Das Vorhaben der Bundesregierung, die Sachleistungen der Pflegeversicherung kontinuierlich an die Personalentwicklung anzupassen, ist kurzfristig umzusetzen. Eine Dynamisierung der Leistungen allein anhand der allgemeinen Preis- und Bruttolohnentwicklung vorzunehmen wird den aktuellen Gegebenheiten sowie den Handlungserfordernissen in der Pflege nicht gerecht. Vielmehr braucht es konkreter Maßnahmen, damit Kostensteigerungen aufgrund von notwendigen Maßnahmen der Fachkräftesicherung nicht allein die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen respektive die Träger der Sozialhilfe treffen, sondern sich hieran auch die Sozialversicherung solidarisch beteiligt.
- c. Die bisherige Prüfpflicht nach § 30 SGB XI ist zu einer rechtlich verbindlichen regelhaften Dynamisierung anhand der Kriterien des Verbraucherpreisindexes, der konkreten Lohnentwicklung in der Pflege und der Entwicklung der Personalschlüssel in den Pflegeeinrichtungen weiterzuentwickeln. Dabei ist zu prüfen, ob etwa eine nachgewiesene Tarifbindung durch höhere Zuschüsse aus der Pflegeversicherung leistungsrechtlich gesondert gewürdigt werden kann.
- d. Es ist sicherzustellen, dass die Finanzierung von Pflege für die Menschen und ihre Angehörigen bezifferbar und planbar wird. Nur wenn das Kostenrisiko bezüglich des zu tragenden Eigenanteils kalkulierbar ist, kann auch eine sachgerechte private Vorsorge durch Ansparen oder den Abschluss einer Versicherung erfolgen. Hierfür ist zu prüfen, ob das Modell der Initiative Pro-Pflegereform, wonach die Pflegebedürftigen zunächst einen Eigenanteil als Sockelbetrag zahlen, der dann durch die Pflegeversicherung bis zum individuell benötigten Leistungsumfang aufgestockt wird, eine tragfähige Grundlage für ein künftiges Finanzierungssystem in der stationären Pflege bietet und wie ein Modell für die ambulante Pflege gestaltet werden kann.
- e. Der Bund beteiligt sich an den Ausbildungskosten in der Pflege analog zu den finanziellen Unterstützungen des Bundes im Bereich der dualen Ausbildung.
- 6. Für die entstehenden Mehrkosten ist die Pflegeversicherung finanziell auszustatten.
- a. Die Länder sehen eine Bereitschaft der Solidargemeinschaft, höhere Versicherungsbeiträge zu akzeptieren, sofern diese tatsächlich den Beschäftigten in der Pflege durch bessere Arbeitsbedingungen und gerechterer Bezahlung zu Gute kommen.
- b. Langfristig ist eine generelle Verbreiterung der Finanzierungsbasis im Sinne einer solidarischen Pflegeversicherung anzustreben, in der alle Einkommensarten herangezogen werden. In einem ersten Schritt ist hierfür die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben, um die Besserstellung höherer Einkommen bei der Beitragsbemessung zu verringern.
- c. Der Bundesrat begrüßt das Vorhaben der Bundesregierung, in einem Sofortprogramm 13.000 zusätzliche Fachkraftstellen vollfinanziert aus Mitteln der Gesetzlichen Krankenversicherung zu schaffen. Er sieht darin einen wichtigen ersten Schritt, um einen gleichberechtigten Zugang der stationär versorgten Menschen zu den Leistungen der medizinischen Behandlungspflege herzustellen.
- d. Im Rahmen der angekündigten weiteren Schritte ist die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege so weiterzuentwickeln, dass Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen für diese Leistungen trotz bestehender Krankenversicherung wegen des Teilleistungsprinzips der Pflegeversicherung keine eigenen Mittel einsetzen müssen. Dabei ist entweder die Finanzierung dieser Leistungen vollständig auf die Krankenversicherung zu übertragen oder über einen Zuschuss aus der Krankenversicherung an die Pflegeversicherung abzudecken.
Begründung:
Die aktuelle Situation in der Pflege erfordert es, sich zum einen zügig auf ein Paket kurzfristiger Maßnahmen zu verständigen, zum anderen längerfristige Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung und der pflegerischen Versorgung in Deutschland kraftvoll auf den Weg zu bringen.
Die Herausforderungen der demografischen Entwicklung treffen die professionelle Pflege in doppelter Hinsicht: Wie in anderen Berufszweigen stehen auch für die Pflege insgesamt immer weniger Erwerbspersonen zur Verfügung. Mit der Alterung der Bevölkerung steigt zusätzlich auch die Anzahl der Menschen, die pflegebedürftig und auf diese Hilfen angewiesen sind. In den letzten Jahren konnte diese Entwicklung noch aufgefangen werden: Die Anzahl der Pflegeeinrichtungen, der Beschäftigten und der Auszubildenden in der Pflege stieg kontinuierlich an. So hat es die Pflege geschafft, seit 2005 knapp 43 % mehr Menschen für diese Tätigkeit zu gewinnen. Heute sind bundesweit mehr als eine Million Menschen in der Pflege tätig. Dieser Aufwuchs ist auch im Vergleich zu anderen Branchen beachtlich.
Allerdings verschärft sich die Situation immer weiter. Es häufen sich die Hinweise und Beschwerden aus der Bevölkerung, dass es zunehmend schwieriger wird, einen Pflegedienst oder einen Platz in einer Pflegeeinrichtung zu finden. Dienste und Einrichtungen berichten vermehrt, dass offene Stellen nicht besetzt werden können, weil es an Pflegekräften fehlt. Gleichzeitig stehen alle Zeichen dafür, dass diese Entwicklung weiter an Fahrt aufnimmt. Für Teile der Bundesrepublik gibt es Prognosen, wonach bei gleichbleibenden Bedingungen in den nächsten 20 Jahren doppelt so viele Personen für die Altenpflege gewonnen werden müssten, wie aktuell in der Pflege tätig sind. Und das bei einer signifikanten Abnahme des Erwerbspersonenpotentials.
Es braucht daher verstärkter Anstrengungen um einem drohenden Pflegenotstand entgegenzuwirken. Ein wichtiges Mittel ist dabei die spürbare Verbesserung der Ausbildungs- und Beschäftigungsbedingungen in der Pflege.
Dabei besteht bereits jetzt vielfach die Sorge in der Bevölkerung, ob sie sich die Pflege leisten können. Es braucht daher konkreter Maßnahmen, die eine Anpassung der Pflegeversicherung an die tiefgreifenden demografischen Veränderungen in der Gesellschaft abbildet.