879. Sitzung des Bundesrates am 11. Februar 2011
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union empfiehlt dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat nimmt das Arbeitsprogramm der Kommission für 2011 zur Kenntnis. Er unterstützt die von der Kommission angekündigte Konzentration auf vier Aktionsbereiche: Wachstumsbelebung zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch beschleunigte Umsetzung der Strategie Europa 2020, Fortsetzung der Agenda für Bürgernähe, Verstärkung der Präsenz Europas auf der internationalen Bühne sowie optimale Nutzung der EU-Politik. Er begrüßt insbesondere, dass die Kommission den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten weiterhin auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit für mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa entlang der Strategie Europa 2020, insbesondere auf die Konjunkturbelebung, legen wird und dabei das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft ins Zentrum stellt.
- 2. Wie bereits beim Arbeitsprogramm 2010 (vgl. Stellungnahme des Bundesrates vom 7. Mai 2010; BR-Drucksache 188/10(B) ) kritisiert der Bundesrat erneut, dass die Anhänge des Arbeitsprogramms, in denen die Vorhaben im Einzelnen aufgelistet sind, erst verspätet in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. Gerade die Anhänge sind angesichts der detaillierten Auflistung der geplanten Vorhaben von besonderem Interesse bei der Erörterung der Kommissionspläne. In diesem Zusammenhang ruft er die Kommission, die bereits Anfang 2010 gegenüber der Bundesregierung eine Überarbeitung der Übersetzungsstrategie in Aussicht gestellt hat, auf, ihre Zusagen im Interesse der effektiven Mitwirkung der nationalen Parlamente im Kontext des Lissabon-Vertrags endlich einzulösen.
- 3. Der Bundesrat wird zu den einzelnen im Arbeitsprogramm angekündigten Vorhaben jeweils gesondert und umfassend Stellung nehmen. Zu einigen der angekündigten und teilweise schon vorgelegten Vorhaben ist dies bereits erfolgt. Der Bundesrat sieht in der Erörterung des Arbeitsprogramms der Kommission einen wichtigen Bestandteil des politischen Dialogs und der Zusammenarbeit mit den nationalen Parlamenten. So eröffnet es die Möglichkeit, sich frühzeitig zur Gesamtstrategie der Kommission in ihrer Arbeitsplanung und zu ausgewählten prioritären Einzelvorhaben zu positionieren.
Zu 2. Wachstumsbelebung zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch beschleunigte Umsetzung der Strategie Europa 2020
Zu 2.1. Verbesserung der wirtschaftspolitischen Steuerung und Beginn des ersten Europäischen Semesters
- 4. Der Bundesrat begrüßt die Vorschläge zur Stärkung der Instrumente für die haushaltspolitische Überwachung und für eine Ausweitung der Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik im Rahmen der Strategie Europa 2020. Er lehnt jedoch alle politischen Einflussnahmen insbesondere in der Euro-Zone ab, welche die Unabhängigkeit der EZB gefährden. Weiterhin muss gewährleistet sein, dass die Budgethoheit der Mitgliedstaaten gewahrt bleibt.
- 5. Der Bundesrat begrüßt die mit dem ersten Jahreswachstumsbericht, der das Europäische Semester einleitet, stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung sowie die Betonung eines strikten Pfades der haushaltspolitischen Konsolidierung. Er hält den angekündigten Legislativvorschlag zur besseren makroökonomischen Koordinierung für erforderlich, weist aber darauf hin, dass bislang nicht geklärt ist, welche Parameter mit welcher Gewichtung als Indikatoren zur Identifizierung makroökonomischer Ungleichgewichte eingehen sollen.
- 6. Der Bundesrat lehnt die von der Kommission vorgeschlagene Schaffung sanktionsbewehrter Empfehlungen zur Erreichung der Wettbewerbsfähigkeit ab, wenn diese durch Indikatoren bestimmt werden, die in einer Marktwirtschaft nicht oder nicht ausreichend durch nationale Politikfelder gesteuert werden können. Es darf nicht dazu kommen, dass die Koordination durch Märkte durch zentrale staatliche Koordination verdrängt wird.
Zu 2.2. Finanzmarktregulierung: Abschluss des Reformprozesses
- 7. Der Bundesrat begrüßt die Planungen der Kommission zur Fortführung der bereits begonnenen Reformen des Finanzmarktes und erhofft sich eine baldige Einigung über das gesamte Reformpaket.
- 8. Eine Änderung der Verordnung über Ratingagenturen ist aus Sicht des Bundesrates als sinnvolle Ergänzung zu den bereits vorgenommenen Anpassungen zu begrüßen und insbesondere im Hinblick auf die Festlegung von Kriterien und die vorgeschlagenen wettbewerbsfördernden Maßnahmen sinnvoll.
- 9. Nutzer von Ratings müssen das notwendige Risikobewusstsein und die nötige Expertise haben, um Einstufungen von Ratingagenturen im eigenen Interesse zu hinterfragen.
- 10. Der Bundesrat spricht sich für die in Aussicht gestellte Legislativmaßnahme zum Krisenmanagement aus. Dadurch kann sichergestellt werden, dass die Abwicklung von Banken in einer Weise ermöglicht wird, die das Ansteckungsrisiko auf ein Minimum begrenzt und die Kontinuität der Basisfinanzdienstleistungen ermöglicht. Sie ist Teil der Maßnahmen zur Beteiligung des Bankensektors und deckt sich mit analogen Überlegungen auf internationaler und nationaler Ebene.
- 11. Aus Sicht des Bundesrates sind die mit der Überarbeitung der Marktmissbrauchsrichtlinie angekündigten Maßnahmen zu begrüßen. Nachdem die Richtlinien jetzt einige Jahre in Kraft sind, haben sich in der Praxis verschiedene Ansatzpunkte für Anpassungsbedarf gezeigt. Ebenfalls zu begrüßen ist die Überarbeitung der Finanzmarktrichtlinie mit dem Ziel, das Vertrauen der Anleger in den Finanzmarkt zu stärken und ein einheitliches Regulierungsniveau für den Finanzmarkt zu schaffen. Seit Inkrafttreten der bis dato gültigen Richtlinie hat sich aufgrund von neuen Handelspraktiken, Ausführungssystemen usw. Anpassungsbedarf ergeben.
- 12. In Bezug auf die Verbesserung des Zugangs zu Bankdienstleistungen hatte sich die Kommission im Jahr 2009 nach einer Konsultation für verbesserte Zugangsmöglichkeiten über einen Verhaltenskodex ausgesprochen und dabei explizit auf den in Deutschland bestehenden Kodex verwiesen. Die nunmehr vorgesehene legislative Maßnahme wäre aus der Sicht des Bundesrates insbesondere dann kritisch zu beurteilen, wenn die Regelung über die in Deutschland bestehende Rechtslage deutlich hinausgehen sollte.
Zu 2.3. Intelligentes Wachstum
- 13. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die bei weitem den größten Anteil an Beschäftigung und Ausbildungsplätzen in Europa stellen, in ihrem Arbeitsprogramm 2011 mehr Beachtung schenkt, als dies im Arbeitsprogramm für 2010 noch der Fall war. So stellt die Erleichterung des Marktzugangs für KMU einen Arbeitsschwerpunkt des Kommissionshandelns 2011 und den Folgejahren dar. Insbesondere vor dem Hintergrund der exportorientierten Wirtschaft begrüßt der Bundesrat die Ankündigung eines Kommissionsvorschlags für eine verstärkte Unterstützung von europäischen KMU auf Märkten außerhalb der EU.
Zu 2.4. Nachhaltiges Wachstum
- 14. Der Bundesrat begrüßt die Aktivitäten der Kommission für ein nachhaltiges Wachstum, insbesondere die Schwerpunktsetzung auf Ressourceneffizienz, und befürwortet hierbei technologieoffene und marktorientierte Lösungen.
- 15. Aus Sicht des Bundesrates ist darauf zu achten, dass Rechtsvorschriften zur Einführung umweltschonender Produktionsweisen in einem ausgewogenen Verhältnis zu den dadurch entstehenden Kosten stehen und die europäische Industrie nicht im Hinblick auf ihre globale Wettbewerbsfähigkeit unangemessene Nachteile erleidet. Die von der Kommission vorgeschlagenen Fahrpläne und Strategien wie beispielsweise zur Umsetzung des Energiefahrplans 2050 müssen wegen der engen Verflechtung der Bereiche Energie, Verkehr und Förderung der emissionsarmen Wirtschaft untereinander konsistent und gut abgestimmt sein, und eng mit den Fahrplänen der Mitgliedstaaten verzahnt werden.
- 16. Das für 2011 von der Kommission angekündigte Weißbuch zur Zukunft der Verkehrspolitik, das laut Kommission eines der maßgeblichen Instrumente zur Beseitigung von Engpässen und Versorgungslücken sein soll, wird aus Sicht des Bundesrates die Schwerpunkte der Verkehrspolitik für die nächsten zehn Jahre festlegen. Der Bundesrat misst der Frage der Intermodalität der verschiedenen Verkehrsträger große Bedeutung zu.
Zu 2.5. Integratives Wachstum
- 17. Aus Sicht des Bundesrates ist bezüglich der von der Kommission im Zusammenhang mit ihren Vorhaben für ein integratives Wachstum angekündigten Revision der Arbeitszeitrichtlinie eine umfassende Überarbeitung nicht erforderlich. Sinnvoll ist ggf. vielmehr eine lediglich punktuelle Überarbeitung der Richtlinie. Hierbei sollte darauf geachtet werden, dass einerseits den Arbeitgebern Flexibilität ermöglicht wird, andererseits aber auch der Schutz der Arbeitnehmer nicht zu kurz kommt. Der Bundesrat erachtet es insbesondere für wichtig, dass die Möglichkeit einer Opt-out-Regelung für zulässige Höchstarbeitszeiten bestehen bleibt.
- 18. In Bezug auf die angekündigte Revision der Entsenderichtlinie müssen aus Sicht des Bundesrates die bestehenden Entsendestandards, insbesondere die Kontrollbefugnisse der nationalen Behörden des Aufnahmestaats beibehalten werden.
- 19. Der Bundesrat begrüßt das Vorhaben einer Revision der Beihilferegeln für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Die Definition solcher Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse muss dabei wie bisher stets den Mitgliedstaaten vorbehalten sein. Generell gilt es zu beachten, dass ein mögliches Qualitätskonzept für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse schon aus kompetenzrechtlichen Gründen stets freiwillig bleiben muss. Im Übrigen verweist der Bundesrat auf seine Stellungnahme zur Mitteilung der Kommission "Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte" (BR-Drucksache 698/10(B) ).
- 20. Der Bundesrat begrüßt das mit dem Grünbuch "Rente" eingeleitete Vorhaben der Kommission, vor dem Hintergrund der Folgen der demographischen Entwicklung und der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen eine Debatte über angemessene, nachhaltige und sichere europäische Pensions- und Rentensysteme anzustoßen. Er gibt im Zusammenhang mit dem angekündigten Weißbuch allerdings zu bedenken, dass die Verantwortung für die national unterschiedlich ausgestalteten Vorsorgesysteme allein bei den Mitgliedstaaten liegt und die Eigenständigkeit und die Vielfalt der bestehenden Alterssicherungssysteme der Mitgliedstaaten gewahrt bleiben müssen.
Zu 2.6. Das Wachstumspotenzial des Binnenmarkts erschließen
- 21. Der Bundesrat betrachtet das von der Kommission angekündigte Flughafenpaket kritisch, zumal teilweise nicht ersichtlich ist, welche Ziele die Kommission verfolgt. Der Bundesrat hat Zweifel daran, dass eine weitere Öffnung des Marktes positive Auswirkungen auf den Markt der Bodenabfertigungsdienste hat. Bei der Revision wären aus Sicht des Bundesrates vorrangig noch fehlende oder unzureichende Regelungsinhalte der Richtlinie aufzugreifen, wie etwa die Festlegung von konkreten Zuschlagskriterien, die Schaffung von Übergangsregelungen bei ausscheidenden Dienstleistern oder von Regelungen zum Entzug von Gestattungen.
Zu 3. Fortsetzung der Agenda für Bürgernähe: Freiheit, Sicherheit und Recht
- 22. Der Bundesrat begrüßt die Zielsetzung der Kommission, die Qualität und Kohärenz der Rechtsetzung auf dem Gebiet des Vertragsrechts zu verbessern. In dem Grünbuch "Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmer" werden verschiedene Optionen zur Verbesserung der Vertragsgestaltung diskutiert, die ohne Schaffung eines eigenen Rechtsakts realisierbar sind. Zum Thema "Europäisches Vertragsrecht" hält der Bundesrat eine Vorgehensweise für geboten, die eine offene und transparente Meinungsbildung unter maßgeblicher Einbindung der Mitgliedstaaten gewährleistet und die Vorfestlegung auf bestimmte Ergebnisse vermeidet.
- 23. Der Bundesrat begrüßt den Legislativvorschlag zur elektronischen Datenerfassung der Ein- und Ausreise von Drittstaatsangehörigen über die EU-Außengrenzen, der eine bessere Bekämpfung des illegalen Aufenthalts und der organisierten Kriminalität innerhalb der EU ermöglicht. Die Erhebung der personenbezogenen Daten sollte dabei nach den allgemein anerkannten Grundsätzen des Datenschutzes und der Datensicherheit erfolgen.
- 24. Der Bundesrat begrüßt das Vorhaben der Kommission, durch einen Legislativvorschlag den Rechtsrahmen der staatenübergreifenden Katastrophenhilfe im Rahmen des Gemeinschaftsverfahrens zu überarbeiten, um die Reaktionsfähigkeit der Mitgliedstaaten im gemeinschaftlichen Katastrophenschutz zu stärken. Der Bundesrat begrüßt ebenfalls, dass die Kommission die Prävention verstärkt als Mittel der Katastrophenvermeidung und somit des effektiven Katastrophenschutzes erkennt, sowie den seitens der Kommission geplanten Rechtsakt zur Modernisierung der Mechanismen zur humanitären Hilfe. Die legislative Stärkung der Krisenpräventions- und Reaktionsmechanismen muss jedoch die Achtung des Subsidiaritätsprinzips sowie die Wahrung mitgliedstaatlicher, insbesondere regionaler Kompetenzen gewährleisten. Ferner weist der Bundesrat darauf hin, dass eine Vermengung von humanitären Hilfsmaßnahmen und Katastrophenschutzmaßnahmen durch den geplanten Rechtsakt zur humanitären Hilfe vermieden werden muss, um die Gefahr einer Aushöhlung nationaler sowie regionaler Kompetenzen - über den Umweg der humanitären Hilfe auszuschließen.
Zu 5.2. Förderung der intelligenten Rechtsetzung
- 25. Der Bundesrat unterstützt die Kommission bei ihren Bemühungen zur Förderung einer intelligenten Rechtsetzung in der EU. Eine endgültige Beurteilung der sogenannten Expost-Evaluationen von Rechtsetzungsakten und Eignungstests in bestimmten Rechtsbereichen kann allerdings erst nach Vorlage erster Ergebnisse vorgenommen werden. Er ruft zudem in Erinnerung, dass eine intelligente Regulierung sich nicht nur auf die Ausgestaltung von Regelungen beschränken darf, sondern auch immer kritisch zu prüfen hat, ob es überhaupt einer Regelung auf EU-Ebene bedarf.
- 26. Der Bundesrat unterstreicht die Notwendigkeit, das Abbauziel von 25 Prozent der Verwaltungslasten aufgrund von Informationspflichten für Unternehmer in der EU tatsächlich bis 2012 zu erreichen. Da die bislang tatsächlich erreichten Einsparpotentiale hinter den Prognosen der Kommission zurückbleiben, ruft er die Kommission dazu auf, ihre bisherigen Bemühungen weiter fortzusetzen und auch im Jahr 2011 ambitionierte Abbauvorschläge vorzulegen. Auch der Gemeinschaftsgesetzgeber ist aufgefordert, die bereits vorgelegten Entwürfe der Kommission zügig zu beschließen.
- 27. Der Bundesrat begrüßt die zunehmend wichtigere Rolle des Ausschusses für Folgenabschätzung bei der Verabschiedung von Vorschlägen der Kommission. Allerdings bedauert er erneut, dass sich die Kommission einem objektiven und außerhalb der Kommission angesiedelten Element bei der Qualitätsprüfung von Folgenabschätzungen weiterhin verschließt. Er ruft die Kommission auf, die "Stoiber-Gruppe" auf Grundlage ihres erweiterten Mandats stärker als bislang in den Prozess der intelligenten Regulierung einzubinden.
- 28. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.