Der Bundesrat hat in seiner 854. Sitzung am 13. Februar 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat erkennt an, dass die Regelung der Pflichten der Mitgliedstaaten untereinander zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zuständig ist, auf europäischer Ebene erfolgen sollte und dazu beitragen kann, die Sekundärmigration dieses Personenkreises zu verringern. Der Bundesrat ist - in Übereinstimmung mit dem Bewertungsbericht der Kommission vom 6. Juni 2007 und den Ausführungen in der Vorschlagsbegründung - der Auffassung, dass sich das Dublin-System zur Bestimmung des für Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaats grundsätzlich bewährt und auch zum Rückgang der Asylbewerberzahlen beigetragen hat. Der Bundesrat begrüßt, dass die allgemeinen Grundsätze des Dublin-Systems beibehalten werden sollen, insbesondere das Prinzip, wonach für die Prüfung eines Antrags in erster Linie der Mitgliedstaat zuständig ist, der bei der Einreise des Antragstellers und dessen Aufenthalt maßgeblich beteiligt war.
- 2. Der Bundesrat weist aber darauf hin, dass die Harmonisierung des Asylrechts und damit auch die Neufassung der Dublin-Verordnung unter Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten und des - auch im Europäischen Pakt für Einwanderung und Asyl vom 16. Oktober 2008 - erklärten Ziels, die illegale Zuwanderung in die EU zu bekämpfen, auf das erforderliche Maß zu beschränken sind. Administrative Maßnahmen zur Statusverbesserung von Asylbewerbern und Schutzsuchenden dürfen nicht kontraproduktiv zu den gleichzeitig eingeleiteten Maßnahmen zur Sicherung der EU-Außengrenzen und zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität wirken.
- 3. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verordnung auf Personen, die subsidiären Schutz beantragt haben, weder erforderlich noch angezeigt ist. Die bisherige Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und Antragstellern auf subsidiären Schutz ist schon wegen der oftmals unterschiedlichen Zeitdauer des Schutzbedürfnisses sachlich begründet.
Darüber hinaus dürfte die Integration von Verfahren zur isolierten Entscheidung über die Gewährung subsidiären Schutzes wegen geltend gemachter zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote, ohne dass ein Asylantrag vorliegt, in das Dublin-System Probleme bereiten. Nach geltender Rechtslage entscheiden über diese Anträge die Ausländerbehörden der Länder nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ( § 72 Absatz 2 AufenthG). Im Übrigen erfordert die von der Kommission zur Begründung einzig angeführte Kohärenz mit den geltenden EU-Rechtsvorschriften, insbesondere der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes), keine Erweiterung des von der Verordnung begünstigten Personenkreises.
Zudem stellt der von der Kommission angeführte Artikel 63 Absatz 1 Buchstabe a EGV vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon keine ausreichende Rechtsgrundlage zur Erweiterung des Anwendungsbereiches der Dublin-Verordnung auf den Personenkreis der Antragsteller auf subsidiären Schutz dar. Die weiter in Betracht kommende Rechtsgrundlage des Artikels 63 Absatz 2 Buchstabe a EGV ermöglicht dem Rat jedoch nur, Mindestnormen hinsichtlich der subsidiär Geschützten zu beschließen. Der Begriff Mindestnormen zeigt, dass die Kompetenz der Gemeinschaft in diesem Bereich beschränkt ist. Eine umfassende Einbeziehung der subsidiär Geschützten begegnet auch deshalb durchgreifenden Bedenken.
Schließlich ist zu bedenken, dass ein höheres Schutzniveau einen zusätzlichen Anreiz für die Beantragung internationalen Schutzes mit sich bringt.
- 4. Ebenfalls abgelehnt werden die vorgeschlagenen Neuregelungen zur Stärkung der Rechte der Familien und unbegleiteten Minderjährigen. Diese Regelungen gehen deutlich über die nationalen Bestimmungen zum Schutz von Ehe und Familie sowie Minderjährigen hinaus. Die "Nachzugsmöglichkeiten" würden deutlich ausgeweitet. Auch dürfte mit den Neuregelungen eine Veränderung der Verteilungsquote zu Lasten der Mitgliedstaaten einhergehen, die sich am Ende der Reisewege der Asylsuchenden befinden; eine stärkere Belastung der Bundesrepublik Deutschland ist zu befürchten.
Die vorgeschlagene zwingende Vertretung unbegleiteter Minderjähriger im Dublin-Verfahren widerspricht der geltenden Rechtslage, wonach Asylbewerber ab dem 16. Lebensjahr handlungsfähig sind ( § 12 AsylVfG). Die Regelungen des Jugendhilferechts, wonach die Jugendämter unbegleitete Minderjährige in Obhut zu nehmen und unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers veranlassen müssen (§ 42 SGB VIII), gewährleisten den erforderlichen Schutz. Darüber hinausgehende Ausnahmeregelungen zu asyl- und ausländerrechtlichen Vorschriften über die Handlungsfähigkeit sind weder erforderlich noch angezeigt.
- 5. Der Bundesrat äußert Bedenken zu der vorgesehenen vorübergehenden Aussetzung des bewährten Dublin-Systems für den Fall, dass die Aufnahmekapazitäten in einem Mitgliedstaat erschöpft sind (vgl. Stellungnahme des Bundesrates vom 19. September 2008 - BR-Drucksache 452/08(B) ), und verweist ergänzend auf seine Stellungnahme vom 21. September 2007 zum Grünbuch der Kommission über das künftige gemeinsame Asylsystem (BR-Drucksache 414/07(B) ), wonach nachhaltige ungleiche Belastungen zwischen den Mitgliedstaaten nicht durch die Ergänzung des Dublin-Verfahrens, sondern durch die Anwendung der Instrumentarien einschlägiger EU-Hilfsfonds auszugleichen sind. In jedem Fall ist zu verhindern, dass Mitgliedstaaten für den mangelhaften Vollzug von EU-Recht belohnt werden.
Des Weiteren weist der Bundesrat darauf hin, dass die weiter vorgesehene Möglichkeit der vorübergehenden Aussetzung des Dublin-Systems auch für die Fälle, in denen die Kommission der Auffassung ist, in einem bestimmten Mitgliedstaat werde kein angemessenes Schutzniveau geboten, schon im Ansatz dem Ziel einer europäischen Asylharmonisierung, nämlich in den Mitgliedstaaten ein einheitliches Verfahren und einheitliches Schutzniveau zu realisieren, widerspricht. Außerdem erhielte die Kommission dadurch ein Auslegungsmonopol, das sie auch zu einer weiteren Erhöhung des Schutzniveaus auf administrativem Wege nutzen könnte. Die Entscheidung über die Aussetzung des Dublin-Systems gegenüber einzelnen Mitgliedstaaten hat eine hohe politische Signalwirkung, so dass eine entsprechende Befugnis allenfalls für den Rat vorgesehen werden kann.
- 6. Die Aufnahme eines neuen Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine Überstellung wird abgelehnt. Sie widerspricht der Zielsetzung, bei einer weiteren Angleichung der Verfahrensregelungen Überlegungen zu Gunsten eines effizienteren, schnelleren und kostengünstigeren Asylverfahrens in den Vordergrund und nicht im Gegenteil bewährte Regelungen zur Verfahrensvereinfachung in Frage zu stellen. Bisher kommt einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellung keine aufschiebende Wirkung zu. Die verfassungskonforme Bestimmung in § 34a Absatz 2 AsylVfG, die verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz u. a. im Dublin-Verfahren ausschließt, muss aufrecht erhalten bleiben. Lediglich hilfsweise weist der Bundesrat darauf hin, dass die zur Verfahrensbeschleunigung statuierte Entscheidungsfrist von sieben Arbeitstagen nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung, sondern den Eingang der Akten - ohne die eine richterliche Prüfung nicht möglich ist - zu beziehen wäre.
- 7. Der Bundesrat weist darauf hin, dass der Verordnungsvorschlag dazu führen würde, dass in Verfahren zur Überprüfung von Rückführungsbeschlüssen nach Artikel 25 und Gewahrsamsanordnungen nach Artikel 27 Beratung und Vertretung schon dann unentgeltlich zu gewähren sind, wenn der Antragsteller die Kosten des Überprüfungsverfahrens nicht selbst tragen kann (Artikel 26 Absatz 6 und Artikel 27 Absatz 9). Anders als die bestehenden Vorschriften des nationalen Rechts zur Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe (§ 2 Absatz 2 Nummer 2 BerHG und § 114 Satz 1 ZPO) fordert der Verordnungsvorschlag weder gewisse Erfolgsaussichten noch einen Ausschluss der Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung. Der Verzicht auf diese die Gewährung von Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe begrenzenden Voraussetzungen würde zu einer erheblichen Erhöhung der von den Ländern zu tragenden Kosten in diesen Bereichen führen.
- 8. Die unentgeltliche Gewährleistung der Inanspruchnahme rechtlicher Beratung und Vertretung für den Fall, dass der Antragsteller die damit verbundenen Kosten nicht selbst tragen kann, hätte weitreichende Folgen für die Prozesskostenhilfe. Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt darf nicht unabhängig von der ansonsten zu prüfenden Voraussetzung der hinreichenden Erfolgsaussichten gewährt werden. Der damit verbundene Anstieg der staatlichen Ausgaben für Prozesskostenhilfe würde derzeit verfolgte Gesetzesinitiativen konterkarieren, die gerade eine Kostenreduzierung bezwecken (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung der Aufwendungen für Prozesskostenhilfe, Stellungnahme des Bundesrates vom 19. Mai 2006 (BR-Drucksache 250/06(Beschluss) ). Das Erfordernis der hinreichenden Erfolgsaussichten muss deshalb in die Verordnung aufgenommen werden, um mutwillige oder aussichtslose Gerichtsverfahren nicht mit staatlichen Mitteln zu unterstützen.
- 9. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, auf europäischer Ebene dafür Sorge zu tragen, dass die Gewährung von unentgeltlicher Beratung und Vertretung nach Artikel 26 Absatz 6 und Artikel 27 Absatz 9 auch erfordert, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
- 10. Der Vorschlag, dass die Entscheidung des Mitgliedstaats, den eingereichten Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, dem Antragsteller vorab schriftlich mitzuteilen sind, begegnet ebenfalls Bedenken. Der Vorschlag kann - ebenso wie die oben genannten Vorschläge zum gerichtlichen Verfahren - zu einer erheblichen Verzögerung der Asylverfahren führen.
- 11. Bedenken bestehen auch in Bezug auf die vorgesehene Einschränkung der Souveränitätsklausel (Artikel 3 Absatz 2 der Dublin-Verordnung). Das in der derzeit geltenden Fassung vorgesehene Selbsteintrittsrecht würde durch die Einschränkung auf eine Wahrnehmung dieses Rechts aus humanitären Gründen oder in Härtefällen und durch das Erfordernis der Zustimmung des Asylbewerbers erheblich entwertet.
- 12. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die weitreichenden Einschränkungen zum Gewahrsam bis hin zum vollständigen Ausschluss für unbegleitete Minderjährige Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung bereiten dürften.
- 13. Der Bundesrat hält es grundsätzlich für begrüßenswert, ein Schlichtungsverfahren bei Meinungsverschiedenheiten der Mitgliedstaaten über die Anwendung der Verordnung vorzusehen. Damit kann die effektive Anwendung der Verordnung bei Auslegungsproblemen beschleunigt werden. Er hält jedoch die im Verordnungsvorschlag vorgesehene Ausgestaltung des Streitschlichtungsverfahrens für unzureichend, da sein Ergebnis endgültig ist und nicht angefochten werden kann. Der Bundesrat hält es stattdessen unter Verweis auf Artikel 68 Absatz 3 EGV für erforderlich, in der vorgeschlagenen Verordnung die Möglichkeit vorzusehen, dass die Mitgliedstaaten bei Auslegungsfragen weiterhin den EuGH anrufen können, um die einheitliche Anwendung sicherzustellen.