963. Sitzung des Bundesrates am 15. Dezember 2017
Der Bundesrat möge ergänzend Drucksache zu543/1/17 zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung nehmen:
- 1. Der Bundesrat unterstützt das Ziel der Kommission, gemäß dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft die soziale Dimension der EU sichtbarer zu machen und zu stärken. Das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft wird im EU-Vertrag explizit genannt. Er begrüßt darüber hinaus die mit der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) angestrebte soziale Aufwärtskonvergenz.
- 2. Der Bundesrat weist darauf hin, dass bei einem Ausbau der sozialen Dimension die bestehende Kompetenzordnung, die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten und Leistungsfähigkeiten berücksichtigt werden müssen.
- 3. Der Bundesrat hebt hervor, dass die Zukunft der EU entscheidend von den Entwicklungen und Reformschritten in den nächsten Jahren abhängen wird. Dabei spielen soziale Fragen bei den Bürgerinnen und Bürgern für die Einstellung gegenüber der EU eine maßgebliche Rolle. Der Bundesrat begrüßt daher, dass in der EU aktuell ein strukturierter Reflexionsprozess stattfindet und eine breite Debatte über die künftige Ausgestaltung der EU, ihre Zukunftsfähigkeit und die Notwendigkeit von Reformschritten im Gange ist. Es ist zudem positiv, dass in der aktuellen Diskussion die soziale Dimension prioritär neben anderen Zukunftsfragen behandelt wird. Um den Zusammenhalt der EU zu sichern, muss den sozialen Belangen der Bürgerinnen und Bürger der EU deutlicher Rechnung getragen werden.
- 4. Der Bundesrat begrüßt eine offene Debatte zum aktuellen Reflexionsprozess der EU in Gestalt des "Weißbuchs zur Zukunft Europas" (Weißbuch) und des "Reflexionspapiers zur sozialen Dimension Europas" (Reflexionspapier). Er findet es jedoch bedauerlich, dass nicht konsistent jedes der im Weißbuch aufgezeigten Szenarien auch im Reflexionspapier näher beleuchtet ist. Es ist weiterhin positiv, dass durch die Vorlage in allen EU-Sprachen die Voraussetzung für eine breite Beteiligung geschaffen wurde.
- 5. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission darin überein, dass die im Weißbuch und im Reflexionspapier skizzierten Szenarien und Optionen sowie die in diesem Zusammenhang zu Illustrationszwecken angeführten Beispiele nicht zwingend die passenden bzw. zutreffend sind. Da alle Szenarien Schnittmengen und Optionen aufweisen, wäre ihre Umsetzung auch in Mischformen denkbar.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass nach Darstellung der Kommission die Option "Begrenzung der sozialen Dimension auf den freien Personenverkehr" eine Teilrücknahme bereits erfolgter Integrationsschritte bedeutet und demzufolge mit einer Aufgabe bereits erzielter Errungenschaften verbunden wäre. Dies würde unter anderem Mindestanforderungen zur Gewährleistung von Sicherheit und Gesundheitsschutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie zu zulässigen Arbeits- und Mindestruhezeiten, Mindestansprüche auf bezahlten Urlaub und die Gleichbehandlung bei Teilzeitkräften betreffen. Der Bundesrat fordert daher die Kommission auf, bei allen Szenarien und Optionen zur Zukunft Europas nachdrücklich dafür einzutreten, dass die bereits erzielten sozialpolitischen Errungenschaften gewahrt bleiben. Es ist wenig wahrscheinlich, dass dieses Szenario geeignet ist, den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Insbesondere bei Themen, die nicht den Binnenmarkt betreffen und die zum Teil von gesamteuropäischer und globaler Bedeutung sind, wie beispielsweise Migration, würde dieses Szenario einer Rechtszersplitterung Vorschub leisten. Die bei einem Rückzug der EU aus der Regulierung weiterer Bereiche, etwa des Arbeitsschutzrechts, entstehenden Unterschiede könnten in einem "Deregulierungswettlauf nach unten" eine Absenkung der Sozialstandards in einzelnen Mitgliedstaaten und damit auch Wettbewerbsverzerrungen nach sich ziehen.
- 7. Der Bundesrat sieht in der Option "Wer mehr im sozialen Bereich tun will, tut mehr" ein Europa der differenzierten Integration. Er ist der Auffassung, dass diese Option den teilnehmenden Mitgliedstaaten grundsätzlich Gestaltungsräume eröffnet und zumindest eine teilweise voranschreitende Integration ermöglicht. Der Bundesrat erkennt aber auch die Risiken eines Auseinanderdriftens der EU-Mitgliedstaaten sowie einer zunehmenden Komplexität und Intransparenz der europäischen Strukturen. Der Bundesrat regt an, diesen Auswirkungen auf europäischer Ebene rechtzeitig und in angemessener Weise zu begegnen.
- 8. Der Bundesrat macht deutlich, dass es sich bei dem Szenario "Die EU-27 vertiefen die soziale Dimension Europas gemeinsam" um das weitestgehende Integrationsszenario handelt. Nach seiner Einschätzung ist allerdings nicht in allen Mitgliedstaaten die Bereitschaft für ein Voranschreiten der EU auf der Grundlage dieses Szenarios ersichtlich. Gleichwohl muss die EU auch durch rechtliche Anpassungen in der Lage sein, auf sozialpolitische Entwicklungen und Herausforderungen, denen am besten gemeinschaftlich begegnet werden kann, angemessen reagieren zu können. Zu prüfen wäre in diesem Zusammenhang, wieweit eine gemeinsame Vertiefung der sozialen Dimension gehen soll. Der Sozialstaat gehört zum Kernbereich der nationalen Souveränität. Daher sollte auch weiterhin die Kompetenz der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Grundprinzipien ihrer sozialen Sicherungssysteme nicht angetastet werden. Dennoch könnte beispielsweise die verstärkte Festlegung ambitionierter sozialer Mindeststandards ein geeignetes Instrument sein, um zur sozialen Aufwärtskonvergenz beizutragen, ohne in die Grundprinzipien der nationalen sozialen Sicherungssysteme einzugreifen.
- 9. Der Bundesrat würde es daher begrüßen, wenn die Kommission im Rahmen der Umsetzung der ESSR ihre Rolle insbesondere darin sehen würde, Impulse für eine gemeinsame soziale europäische Agenda mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung der Lebenssituation der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger in den einzelnen Mitgliedstaaten zu setzen. Die Vertiefung der sozialen Dimensiondarf jedoch nicht zur Etablierung dauerhafter Finanztransfers zwischen den Mitgliedstaaten führen. Mit der wachsenden Bedeutung einer sozialen Dimension sollte zudem eine angemessene finanzielle Ausstattung, insbesondere sowohl der Strukturfonds als auch der Förderprogramme, einhergehen.