Der Bundesrat hat in seiner 966. Sitzung am 23. März 2018 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat erkennt die Digitalisierung als ein für alle Mitgliedstaaten der EU relevantes Thema an, das somit auch auf EU-Ebene eine große Rolle spielt. Die Digitalisierung verändert das individuelle und gesellschaftliche Leben fortgesetzt und tiefgreifend. Er betont, dass hierbei nicht die Technik, sondern der Mensch im Mittelpunkt des Prozesses stehen muss, damit er weiterhin als souveräne, freie und verantwortungsbewusste Person seine Persönlichkeit und Fähigkeiten entfalten kann. Damit dies gelingen kann, kommt der Bildung eine entscheidende Rolle zu.
- 2. Der Bundesrat erkennt an, dass der Bewältigung der "Konnektivitätskluft" auf nationaler und regionaler Ebene ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Es erschließt sich ihm jedoch nicht, was die Kommission mit ihren Plänen zur Bewältigung der "Konnektivitätskluft" verfolgt und wie sie diese realisieren will. So bleibt offen, wie die Vergabe von Gutscheinen für benachteiligte Gegenden EU-rechtskompatibel ausgestaltet und mit welchen Mitteln sie finanziert werden soll.
- 3. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Förderung der Bereitschaft allgemeinbildender und berufsbildender Schulen für den digitalen Wandel grundsätzlich zu begrüßen ist. Er hegt jedoch Zweifel, dass gerade die Etablierung eines Instruments zur Selbsteinschätzung der digitalen Fähigkeiten (SELFIE) durch die EU zu dieser Bereitschaft wesentlich beiträgt. Der Bundesrat vertritt die Auffassung, dass neue Instrumente auf EU-Ebene mit einem erheblichen Mehrwert verknüpft sein müssen und keinen Selbstzweck darstellen. Er weist darauf hin, dass entsprechende Selbstbewertungsinstrumente in den Mitgliedstaaten zum Teil bereits zur Verfügung stehen oder aktuell entwickelt werden. Überdies sieht der Bundesrat die mit dem sogenannten SELFIE-Instrument verknüpfte Sammlung von Daten kritisch. Er hinterfragt, welchem Ziel die Datensammlung dienen soll, und fordert die Einhaltung datenschutzrechtlicher Bestimmungen. Zudem ist sicherzustellen, dass keine Kosten bei den Mitgliedstaaten anfallen.
- 4. Darüber hinaus bleibt unklar, was die Kommission mit dem in der Mitteilung in Aussicht gestellten Mentoring-Programm, das von einer EU-weiten Plattform für die Sensibilisierung unterstützt wird, bezweckt und wer dies in fachlicher Hinsicht betreuen soll.
- 5. Die Kommission kündigt zudem die Bereitstellung eines Rahmens zur Ausstellung digital zertifizierter Qualifikationen und zur Validierung digital erworbener Kompetenzen an. Diese sollen zuverlässig und mehrsprachig sein und in Berufsprofilen/Lebensläufen wie dem Europass gespeichert werden können. Der Rahmen wird laut der Mitteilung in Übereinstimmung mit dem europäischen Qualifikationsrahmen und der europäischen Klassifikation der Fähigkeiten, Kompetenzen, Qualifikationen und Berufe (ESCO) erarbeitet.
- - Der Bundesrat erinnert daran, dass er eine Verknüpfung von ESCO mit dem Europass und die endgültige Etablierung von ESCO ablehnt (vergleiche BR-Drucksache 569/16(B) , Ziffer 4). Er weist abermals darauf hin, dass ESCO sich noch im Projektstadium befindet und die Funktionsfähigkeit sowie der Mehrwert des Instruments nicht abzusehen sind (siehe auch Ziffer 8 der BR-Drucksache 317/16(B) ). ESCO stellt darüber hinaus ein Kommissionsprojekt dar, das von den Mitgliedstaaten bislang noch nicht gebilligt worden ist. Zudem kann eine verpflichtende Verwendung der ESCO-Terminologie zu Eingriffen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der Hochschulen führen, was der Bundesrat ablehnt. Ferner weist er darauf hin, dass die kleinteilige Struktur von ESCO mit einem nicht modularisierten System, wie es in Deutschland mit dem ganzheitlichen Bildungskonzept in der allgemeinen und beruflichen Bildung zu finden ist, schwer vereinbar erscheint (vergleiche BR-Drucksache 569/16(B) , Ziffer 4). - Der Bundesrat erinnert daran, dass die Ausstellung von Qualifikationen und die Validierung von Kompetenzen ausschließlich in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen.
- - Er fordert zudem eine weitere Konkretisierung der Pläne der Kommission. So bleibt offen, welche Akteure an der Entwicklung des Rahmens beteiligt werden sollen und welcher Mehrwert mit diesem verknüpft sein soll. Er ist der Ansicht, dass - unabhängig von der Frage der rechtlichen Zulässigkeit - vor der Initiierung eines derartigen Vorhabens die Zustimmung der Mitgliedstaaten einzuholen ist und auch die etwaige Umsetzung eng mit diesen abzustimmen ist.
- - Der Bundesrat weist auch darauf hin, dass auf der Ebene des Europäischen Hochschulraums mit dem "ECTS Users" Guide" bereits ein europaweiter Rahmen zur Beschreibung von Kompetenzen existiert. An diesen wäre anzuknüpfen, um Doppelungen zu vermeiden.
- 6. Bezüglich der Pläne der Kommission, die Relevanz und Machbarkeit eines Vorschlags zu neuen Benchmarks für digitale Kompetenzen und Unternehmertum prüfen zu wollen, erinnert der Bundesrat daran, dass alle Vorschläge für Durchschnittsbezugswerte einer äußerst sorgfältigen Prüfung im Hinblick auf den jeweils zu erwartenden europäischen Mehrwert und einer damit einhergehenden Kosten-Nutzen-Analyse unter besonderer Berücksichtigung des damit verbundenen Verwaltungsaufwands zu unterziehen sind (vergleiche bereits BR-Drucksache 386/15(B) , Ziffer 15, BR-Drucksache 026/09(B) , Ziffer 12 und BR-Drucksache 713/17(B) , Ziffer 8) und somit nicht nach einem Top-Down-Ansatz ohne fachliche Prüfung festgelegt werden dürfen. Zudem dürfen keine Indikatoren und Durchschnittsbezugswerte definiert werden, die dem Harmonisierungsverbot im Bildungsbereich zuwiderlaufen (vergleiche BR-Drucksache 386/15(B) , Ziffer 15, BR-Drucksache 786/10(B) , Ziffer 3 und BR-Drucksache 713/17(B) , Ziffer 8). Darüber hinaus sind Veränderungen im Bereich der Durchschnittsbezugswerte zwingend mit den für Bildung zuständigen Gremien des Rates abzustimmen (vergleiche BR-Drucksache 386/15(B) , Ziffer 15 und BR-Drucksache 713/17(B) , Ziffer 8).
- 7. Bezüglich eines Benchmarks für unternehmerische Kompetenz merkt der Bundesrat an, dass ihre Messbarkeit relativ schwierig scheint, da die unternehmerische Kompetenz ein komplexes Bündel an Kenntnissen, Fertigkeiten und Einstellungen voraussetzt. Zudem stellen sich auch grundsätzliche Fragen der Vergleichbarkeit insbesondere hinsichtlich qualitativer Aspekte, wie der tatsächlichen Entwicklung von Kompetenzen.
- 8. Als einen der nächsten Schritte zur Umsetzung der Mitteilung kündigt die Kommission die Einführung von Programmierunterricht an allen Schulen in Europa an. Der Bundesrat verweist in diesem Zusammenhang auf Artikel 165 und 166 AEUV, die für ein derartiges Vorhaben keine Rechtsgrundlage bieten, und lehnt Bestrebungen der Kommission, Curricula und Bildungssysteme zu gestalten, als klar kompetenzwidrig ab. Darüber hinaus muss zwar der technologischen Perspektive der Digitalisierung Rechnung getragen werden, jedoch nicht über die plakative Forderung nach Programmierunterricht an allen Schulen. Vielmehr ist eine umfassende informatische Bildung, wie sie der Informatikunterricht, in dem auch das Programmieren vermittelt wird, bietet, von Relevanz.
- 9. Bezüglich der EU-weiten Sensibilisierungskampagne für Lehrkräfte, Eltern und Lernende zur Förderung von Internetsicherheit, Cyber-Hygiene und Medienkompetenz und des Starts einer Initiative zur Cybersicherheit ist es dem Bundesrat ein Anliegen, dass eine Bestandsanalyse bestehender Initiativen und Programme im Vorfeld erfolgt, damit Redundanzen vermieden werden.
- 10. Er konstatiert, dass neben den von der EU erhobenen Daten in der Mitteilung auch auf Daten verwiesen wird, die im Rahmen der PISA- und PIAAC-Studien der OECD erhoben werden. Diese sind nutzbar, soweit es sich um veröffentlichte Daten handelt. Der Bundesrat verwahrt sich jedoch dagegen, dass Daten aus den Studien ohne Wissen und Zustimmung der teilnehmenden Staaten, bei denen die "Ownership" für diese Daten liegt, für umfangreichere Systeme der Datenerfassung der EU genutzt werden. Darüber hinaus hinterfragt er die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit weiterer Datenanalysen und Prognosen.
- 11. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die geplante europaweite Plattform für die digitale Hochschulbildung als Forum für einen Informationsaustausch, die auch Peer-Learning-Aktivitäten zu den dort genannten Feldern ermöglicht, einen besonderen Mehrwert erzielen kann. Er weist jedoch darauf hin, dass die Plattform keine Vorgabe von Inhalten und konkreten Projekten vorsehen darf. Der Bundesrat hinterfragt vor diesem Hintergrund, welche Online-Lernangebote auf dieser Plattform zur Verfügung gestellt werden sollen sowie wer für die Qualitätssicherung dieser Angebote verantwortlich zeichnen soll, und erinnert in diesem Zusammenhang an die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bzw. der Hochschulen für die konkreten Lerninhalte. Zudem darf die Förderung der Plattform zu keinem Mittelabfluss aus anderen Förderlinien des Programms "Erasmus+" führen. Der Bundesrat ist zudem der Auffassung, dass Mitgliedstaaten und Hochschulen an der Gestaltung der Plattform unmittelbar beteiligt werden müssen, wenn die Plattform einen echten Mehrwert in der Praxis aufweisen soll.
- 12. Gemäß der Mitteilung sollen mittels eines elektronischen europäischen Studierendenausweises bis 2025 die nationale Identität und der Studierendenstatus aller Studierenden, die an einer Mobilität im Rahmen von "Erasmus+" teilnehmen, in allen EU-Mitgliedstaaten automatisch anerkannt werden, sodass sie bei der Ankunft im Ausland Zugang zu allen Campus-Dienstleistungen haben. Der Bundesrat bekräftigt, dass im Rahmen von "Erasmus+" eine Nutzung dieses Ausweises erstrebenswert erscheint und zu einer Verbesserung der Mobilität der Studierenden in Europa führen kann. Er weist jedoch darauf hin, dass der Ausweis keine zwingende Voraussetzung für den Erhalt von Fördermitteln sein darf, da vielfältige technische, datenschutzrechtliche und finanzielle Punkte zu klären sind, die nicht erwarten lassen, dass eine flächendeckende Nutzung dieses Instruments bis 2025 realisiert werden kann. Dies gilt insbesondere für den Zugang zu Campusdienstleistungen, die etwa in Deutschland nicht ausschließlich von den Hochschulen, sondern auch von Dritten, wie Studentenwerken oder dem öffentlichen Personennahverkehr, bereitgestellt werden. Eine Ausdehnung von Angeboten Dritter zugunsten von Studierenden, die keinen Solidarbeitrag leisten, sieht sich somit besonderen Herausforderungen gegenüber. Zudem sind die nationalen Besonderheiten zu beachten; dies gilt insbesondere für föderal organisierte Staaten wie Deutschland.
- 13. Der Bundesrat konstatiert, dass die Pläne der Kommission zur Stärkung der "offenen Wissenschaft" und der Bürgerwissenschaft in Europa durch neue, eigene Schulungen und Fortbildungen zum Thema "offene Wissenschaft" an Hochschuleinrichtungen auf allen Ebenen unklar bleiben. Er erinnert in diesem Zusammenhang an die Freiheit der Forschung und Lehre und betont, dass diese Aktionen keinesfalls zu einer Vorgabe konkreter inhaltlicher Konzepte für die Hochschulen durch die EU führen dürfen.
- 14. Die Kommission kündigt in ihrer Mitteilung einen Dialog mit relevanten Interessenträgern zur Frage an, wie die vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt werden können. Der Bundesrat fordert hier auch eine aktive Einbeziehung der relevanten Gremien des Rates und somit der Mitgliedstaaten.
- 15. Er nimmt zur Kenntnis, dass Pilotprojekte zu künstlicher Intelligenz und Lernanalytik im Bildungsbereich in Aussicht gestellt werden, um die inzwischen verfügbaren riesigen Datenmengen besser zu nutzen und dadurch einen Beitrag zur Lösung spezifischer Probleme zu leisten sowie die Durchführung und Überwachung neuer bildungspolitischer Maßnahmen zu verbessern. Zudem sollen relevante Instrumentarien und Leitlinien für die Mitgliedstaaten entwickelt werden. Unabhängig von der offenen Frage, wie diese Projekte durchgeführt werden sollen und wer dafür fachlich verantwortlich zeichnet, betont der Bundesrat mit Nachdruck seine grundsätzliche Ablehnung einer Überwachungskompetenz oder der Vorgabe von Leitlinien durch die EU im Bildungsbereich (vergleiche BR-Drucksache 428/17(B) , Ziffer 3, BR-Drucksache 714/05(B) , Ziffer 3 und BR-Drucksache 249/08(B) , Ziffer 5). Zudem fordert er, bei den Pilotprojekten eine Technikfolgenabschätzung durchzuführen. Er regt darüber hinaus an, anstelle der Entwicklung neuer Instrumentarien auf EU-Ebene die Aktivitäten der Mitgliedstaaten bei der Entwicklung rechtskonformer Instrumentarien zu fördern, um damit an bereits bestehende Initiativen anknüpfen zu können.
- 16. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.