Der Bundesrat hat in seiner 8 8 1. Sitzung am 18. März 2011 gemäß § § 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt im Grundsatz den vorliegenden Verordnungsvorschlag. Er begrüßt, dass das Exequaturverfahren nicht für solche Entscheidungen abgeschafft werden soll, die sich mit Verleumdungs- und kollektiven Schadenersatzklagen befassen.
- 2. Der Bundesrat begrüßt das Ziel einer Vereinfachung und Beschleunigung des Exequaturverfahrens für alle anderen Fälle und steht der Abschaffung des formalen Zwischenverfahrens offen gegenüber. Gleichwohl sind die vorgeschlagenen Regelungen zum Teil kritisch zu hinterfragen, insbesondere die Ausgestaltung des Schuldnerschutzniveaus im Rahmen der vorgesehenen Rechtsbehelfsmöglichkeiten und die Zuständigkeitsregelungen in den Artikeln 45 und 46, die Raum für mögliche Abgrenzungsprobleme lassen.
- 3. Der Bundesrat hält insbesondere den Wegfall der Ordrepublic-Kontrolle für bedenklich. Zwar gewährt Artikel 46 des Verordnungsvorschlags einer Partei "das Recht, die Verweigerung der Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung zu beantragen, wenn der Anerkennung oder Vollstreckung wesentliche Grundsätze entgegenstehen, die dem Recht auf ein faires Verfahren zugrunde liegen". Damit erlangen aber lediglich bestimmte verfahrensrechtliche Grundsätze Relevanz, während jedenfalls ein materiellrechtlicher Ordrepublic-Verstoß, das heißt ein untragbarer Verstoß gegen das materielle Recht eines Vollstreckungsstaates, nicht gerügt werden kann.
- 4. Die Abschaffung des Vollstreckbarerklärungsverfahrens würde dazu führen, dass ein Vollstreckungstitel im Vollstreckungsstaat nicht mehr von der nach der Verordnung für die Vollstreckbarerklärung zuständigen Stelle das heißt vielfach einem Gericht - überprüft würde, sondern von nach dem jeweiligen nationalen Vollstreckungsrecht vorgesehenen Vollstreckungsorganen. Dies sind in Deutschland z.B. die Gerichtsvollzieher. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass die Überprüfung des Vollstreckungstitels und die Klärung der Frage, ob der Titel tatsächlich vollstreckt werden kann, die dafür gegebenenfalls nicht hinreichend ausgebildeten Vollstreckungsorgane vor Probleme stellt, die letztlich zu einer erheblichen Verzögerung der Vollstreckung führen können. Dies gilt vor allem für eine eventuell erforderliche Präzisierung bzw. Anpassung eines Titels an das deutsche Vollstreckungsrecht. Hier wäre zu prüfen, ob den Vollstreckungsorganen für entsprechende Konstellationen noch geeignete Instrumente zur Verfügung gestellt werden können, die ihnen eine hinreichende Hilfestellung bieten.
- 5. Der Bundesrat begrüßt die Fortentwicklung standardisierter Formblätter. Insbesondere wird befürwortet, dass mit Blick auf das Erfordernis einer hinreichenden Bestimmtheit eines Titels das Formblatt nach Anhang I entwickelt wurde, welches bei Titeln über Geldforderungen eine Konkretisierung des Zinsanspruchs vorsieht sowie bei Feststellungsentscheidungen, einstweiligen Maßnahmen und sonstigen Entscheidungsarten eine Kurzdarstellung des Streitgegenstandes und der Entscheidung des Gerichts verlangt. Sofern die Rubriken ordnungsgemäß ausgefüllt werden, ermöglicht dies den Vollstreckungsorganen im Zweifelsfall die Auslegung des Titels.
- 6. Der Bundesrat hält jedoch zwei Ergänzungen des Formblatts nach Anhang I für wünschenswert.
Zum einen sollte das Formblatt in Bezug auf die Angaben zur Zinsentscheidung die Möglichkeit bieten, eine Verurteilung zur Zahlung variabler Zinsen (z.B. in Höhe bestimmter Prozentpunkte über dem Basiszinssatz) anzugeben, wobei dann zusätzlich Angaben zur Berechnung des variablen Zinssatzes im konkreten Fall erforderlich wären. Dasselbe würde für das Formblatt nach Anhang VII betreffende öffentliche Urkunden und Vergleiche gelten.
Zum anderen wäre es sinnvoll, dass das Formblatt nach Anhang I auch bei Titeln über Geldforderungen eine Kurzdarstellung des Sachverhaltes verlangt, wenn die Geldforderung von einer Gegenforderung abhängig ist.
- 7. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass durch die Regelung in Artikel 5 Absatz 3 des Verordnungsvorschlages, wonach bei dinglichen Rechten an beweglichen Sachen das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem sich die Sachen befinden, dem grundsätzlich unerwünschten "forum shopping" Vorschub geleistet werden könnte, da die Belegenheit einer beweglichen Sache ohne Weiteres verändert werden kann.
- 8. Entsprechend der Stellungnahme des Bundesrates zu dem entsprechenden Grünbuch, BR-Drucksache 440/09(B) , wird die Harmonisierung der Vorschriften über besondere Zuständigkeiten im Hinblick auf Rechtsstreitigkeiten, in denen der Beklagte in einem Drittstaat ansässig ist, grundsätzlich begrüßt, wenngleich die Auswirkungen der Neuregelung auf bilaterale Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten sowie auf die Chancen zur Aushandlung eines multilateralen Zuständigkeits-, Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommens auf Ebene der Haager Konferenz kritisch geprüft werden sollten.
- 9. Insoweit ist eine spezielle Rechtshängigkeitsklausel, wie in Artikel 34 des Verordnungsvorschlags für den Fall vorgesehen, dass ein Rechtsstreit in derselben Sache zwischen denselben Parteien vor einem Gericht eines Mitgliedstaats und einem Gericht in einem Drittstaat anhängig ist, aus Sicht des Bundesrates konsequent, da hiermit der Forderung Genüge getan wird, dass zunächst die Zuständigkeit des Gerichts im Drittstaat ausschlaggebend sein soll. Allerdings sollte die Regelung dahin überprüft werden, ob sie für die Parteien eines Rechtsstreits vor einem Gericht eines Mitgliedstaats ausreichende Rechtssicherheit bringt, ob sie die gemeinsame Zuständigkeitsordnung nicht durch Einführung einer dem "Forumnonconveniens"-Prinzip vergleichbaren richterlichen Ermessensbefugnis unangemessen beeinträchtigt und ob sie für die Gerichte in Deutschland praxisgerecht ist.
- 10. Der Bundesrat hält die Vervollständigung von Zuständigkeitsregelungen, die Neuregelungen zur subsidiären Zuständigkeit sowie zur Notzuständigkeit betreffend Beklagte, die ihren Wohnsitz außerhalb der EU haben, im Hinblick auf die beabsichtigte Ausdehnung des Anwendungsbereichs der vorgeschlagenen Verordnung ebenfalls für konsequent. Insoweit wird aber zu bedenken gegeben, dass die in Artikel 25 vorgesehene Möglichkeit, Angehörige aus Drittstaaten in dem Mitgliedstaat zu verklagen, in dem sich Vermögen des Beklagten befindet, auf unbestimmte, sehr konturlose Rechtsbegriffe gestützt ist ("[ ... ] nicht in einem unangemessenen Verhältnis [ ... ] "; " [ ... ] ausreichenden Bezug [ ... ]"), die dazu führen könnten, dass bis zu einer eventuellen Klärung durch den EuGH unterschiedliche Interpretationen durch die nationalen Gerichte erfolgen. Diese Bedenken gelten in mindestens gleicher Weise für die in Artikel 26 beschriebene Notzuständigkeit. Darin wird allgemein eine negative Bewertung des gerichtlichen Verfahrens in einem Drittstaat ebenso wie der drittstaatlichen Entscheidung selbst als zuständigkeitsbegründend verankert. Solche Bewertungen können regelmäßig dazu führen, dass die in dieser Notzuständigkeit ergangene mitgliedstaatliche Entscheidung zumindest in dem betroffenen Drittstaat nicht anerkannt wird. Zudem dürften die Voraussetzungen der Notzuständigkeit nur schwer, allenfalls mittels eines aufwändigen Sachverständigengutachtens, nachzuweisen sein.
- 11. Der Vorschlag der Kommission sieht für den Fall einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung vor, dass zunächst das vereinbarte Gericht die Möglichkeit haben soll, sich für zuständig zu erklären, gleich, ob es zuerst oder später angerufen worden ist. Jedes andere angerufene Gericht muss das Verfahren aussetzen, bis das Gericht am vereinbarten Gerichtsstand sich für zuständig bzw. unzuständig erklärt hat. Der Bundesrat hält diese zur Verbesserung der Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen vorgeschlagenen Regelungen für begrüßenswert. Allerdings sollte in Artikel 23 des Verordnungsvorschlags klargestellt werden, ob bei der Frage der Nichtigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung nur das Sachrecht oder auch das Internationale Privatrecht des Mitgliedstaats einschlägig sein soll.
- 12. Der Bundesrat hält in Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit die Regelung im Grundsatz für sachgerecht, dass das Gericht, welches in einem Rechtsstreit im Zusammenhang mit einer geltenden Schiedsgerichtsvereinbarung angerufen wurde, das Verfahren aussetzen muss, wenn ein Schiedsgericht oder ein Gericht am vereinbarten Schiedsort angerufen wird. Die Wirksamkeit von Schiedsgerichtsvereinbarungen wäre damit sichergestellt, da das Risiko paralleler Verfahren ausgeräumt und die potenzielle Nutzung missbräuchlicher Prozesstaktiken eingeschränkt würde. Die konkrete Ausgestaltung und Wirkung des Kommissionsvorschlags bleibt jedoch genauer zu prüfen.
- 13. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die Regelungen zur besseren Koordinierung von Verfahren, da bislang zuverlässige Erkenntnisse zu Parallelverfahren in anderen Mitgliedstaaten fehlen. Die Verpflichtung zum Informationsaustausch insbesondere auch hinsichtlich der Koordination von Hauptsacheverfahren und der Anordnung einer einstweiligen Maßnahme ist daher sinnvoll. Die Regelung muss aber für die beteiligten deutschen Gerichte praktikabel ausgestaltet sein (Sprachregelung, Kostenregelung). Hier könnte ein mehrsprachiges Formular für die Anfrage an die Gerichte eines anderen Staates weiterhelfen, in welches möglichst wenige Angaben wie Parteibezeichnung und Verfahrensgegenstand aufgenommen werden sollten. Es sollte sichergestellt werden, dass die Koordinierungspflicht nicht mit dem in diesen Fällen besonders wichtigen Interesse an einem beschleunigten Verfahren kollidiert. Im Rahmen einer eventuellen Abstimmung sind auch in jedem Fall die verfassungsrechtlich verbürgte richterliche Unabhängigkeit und das Recht auf den gesetzlichen Richter zu berücksichtigen.
- 14. Der Bundesrat hält die im Verordnungsvorschlag vorgesehenen festen Fristen für gerichtliche Entscheidungen (Artikel 29 Absatz 2, Artikel 45 Absatz 5, Artikel 46 Absatz 4) vor dem Hintergrund des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit nicht für unbedenklich. Dem deutschen Recht sind derartige Fristen fremd. Abgesehen davon wird darauf hingewiesen, dass es hinsichtlich der vorgenannten Fristen an einer Regelung zu den Konsequenzen einer Fristüberschreitung mangelt. Es könnte daher sinnvoller sein, die entsprechenden Regelungen als Soll-Vorschriften auszugestalten. Im Fall von Artikel 29 Absatz 2 muss eine Regelung für den Fall getroffen werden, dass das zuerst angerufene Gericht ohne sachlichen Grund nicht innerhalb der vorgesehenen Frist oder sonst angemessener Zeit entscheidet.
- 15. Der Bundesrat befürwortet die grundsätzliche Beibehaltung der Regelungen zur Zuständigkeit in Bezug auf einstweilige Maßnahmen sowie die getroffenen Klarstellungen (Artikel 35). Es muss aber eine klare begriffliche Abgrenzung von einstweiligen Maßnahmen nach der Brüssel-I-Verordnung und Anordnungen zur Sicherung geben, die im Weg der grenzüberschreitenden Beweisaufnahme nach der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen - ABl. L 174 vom 27. Juni 2001, S. 1 - durchgeführt werden, um in der gerichtlichen Praxis keine Anwendungsprobleme zu verursachen. Diesbezüglich erscheint eine Prüfung der Definition in Artikel 2 Buchstabe b angezeigt. Ferner begrüßt der Bundesrat die Regelung, wonach eine einstweilige Maßnahme nur dann in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden kann, wenn unter Verwendung eines Formblattes bescheinigt wird, dass das Gericht auch in der Hauptsache zuständig ist. Die Gefahr, dass sich eine Partei außerhalb eines in der Hauptsache zuständigen Mitgliedstaates ein Forum für eine einstweilige Maßnahme aussucht, um sich eine ihr günstige Ausgangsposition zu verschaffen, besteht damit kaum noch, da die Maßnahme nur Sinn macht, wenn in dem entsprechenden Mitgliedstaat auch eine Zugriffsmöglichkeit eröffnet ist.
- 16. Kritisch zu hinterfragen ist, dass in Artikel 2 Buchstabe a in Verbindung mit den Artikeln 37 ff. des Verordnungsvorschlags vorgesehen wird, künftig ohne Exequaturverfahren auch einseitige einstweilige Maßnahmen zur Vollstreckung zuzulassen, die ohne Vorladung des Schuldners angeordnet wurden. Dies erscheint aus Gründen des Schuldnerschutzes bedenklich und könnte die Bedeutung von Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, die europaweit auch sogenannte "Erfüllungsverfügungen" erfassen, gegenüber dem regulären Klageverfahren unangemessen verstärken.