Der Bundesrat hat in seiner 990. Sitzung am 5. Juni 2020 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat betont, dass die COVID-19-Pandemie die Weltwirtschaft gleichzeitig zum Stillstand gebracht hat. Allen Prognosen zufolge werden die dadurch ausgelösten Auswirkungen ein in Friedenszeiten unbekanntes Ausmaß annehmen.
Zu erwarten ist eine weltweite Rezession, deren Umfang gegenwärtig nicht eingeschätzt werden kann.
- 2. Der Bundesrat hebt hervor, dass die Kommission und die EU-Mitgliedstaaten als unmittelbare Reaktion auf die COVID-19-Pandemie umfangreiche und unterschiedliche Maßnahmen ergriffen haben, um die schwerwiegendsten wirtschaftlichen Verwerfungen abzufedern. Darüber hinaus hat die Kommission angekündigt, Vorschläge vorzulegen, wie die europäische Wirtschaft wiederaufgebaut werden kann.
- 3. Vor diesem Hintergrund ist er der Auffassung, dass die europäische Industrie- und Wettbewerbspolitik neu bewertet werden muss. Als Orientierungsrahmen für die Wirtschaft und Gestaltungsrahmen für die Politik bleibt eine europäische Industriepolitik wichtig. Sie gibt Investoren, Innovatoren und der Industrie gleichermaßen die nötige Sicherheit.
- 4. Der Bundesrat unterstützt, dass die EU-Industriestrategie einen unternehmerischen Denk- und Handlungsansatz verfolgt und daher gemeinsam mit der Industrie, den Sozialpartnern und allen anderen Interessenträgern Lösungen entwerfen und gestalten will.
- 5. Die Kommission schlägt den Übergang zur Klimaneutralität, die digitale Transformation und den Erhalt der globalen Wettbewerbsfähigkeit als Ziele vor, bei deren Erreichung sie die europäische Industrie unterstützen will. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass an diesen industriepolitischen Zielen festgehalten werden soll und dass diese integrale Bestandteile des angekündigten Wiederaufbauplans werden sollen.
- 6. Er ist der Meinung, dass diese Ziele nur durch einen partnerschaftlichen Governance-Ansatz erreicht werden können. Er begrüßt deshalb, dass die Kommission in einem inklusiven und offenen Industrieforum mit Vertretern der Industrie, der Sozialpartner, der Wissenschaft sowie der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen zusammenarbeiten will. Der Bundesrat betont, dass dabei auch die deutschen Länder vertreten sein müssen. Er begrüßt, dass die Kommission den industriepolitischen Fokus auf industrielle Ökosysteme legen will, wobei sämtliche Akteure einer Wertschöpfungskette berücksichtigt werden sollen. Daher bittet der Bundesrat darauf hinzuwirken, dass die spezifischen Bedarfe der Industrieunternehmen und insbesondere die Notwendigkeiten der Wertschöpfungsketten bei dem Aufbau und der Förderung der seitens der EU geplanten industriellen Ökosysteme berücksichtigt werden. Daran müssen sich auch die Modalitäten der Finanzierung orientieren. Hierbei sind ebenfalls die Interessen und Besonderheiten von mittelständischen Unternehmen und von Startups unbedingt mit einzubeziehen. Die industriellen Ökosysteme sollten nach "Open Innovation"-Prinzipien etabliert werden.
- 7. Der Bundesrat begrüßt die Arbeiten und Ankündigungen von Kommission und Mitgliedstaaten zur Förderung von wichtigen Projekten von gemeinsamem europäischen Interesse (IPCEI) und sieht durch die Förderung der Mikroelektronik und der Batteriezellenfertigung als erste IPCEI vielversprechende Signale. Durch derartige Projekte werden die vorhandenen Stärken Europas in besonderer Weise hervorgehoben und die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert. Es ist daher erfreulich, dass die Kommission verschiedene Industrieallianzen auf den Weg bringen möchte, die ebenso wie bei Batterien und Mikroelektronik in IPCEI münden könnten. Da im Fall von Marktversagen weitere Industriebereiche für derartige Projekte in Betracht kommen können, sollten die Kommission und die Mitgliedstaaten die Entwicklungen stetig im Blick behalten und bei der für 2021 angekündigten Überarbeitung der IPCEI-Vorgaben berücksichtigen. Der Bundesrat erinnert daher auch an den Bericht des Forums für IPCEI vom November 2019, der eine Betrachtung von strategischen Wertschöpfungsketten über den Aspekt der staatlichen Beihilfen hinaus adressiert.
Ebenso bittet er darum, sich dafür einzusetzen, dass die Etablierung und finanzielle Anschubfinanzierung weiterer Industrieallianzen angeregt wird, unter Einbindung der Mitgliedstaaten und des geplanten Industrieforums.
- 8. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission den derzeitigen EU-Wettbewerbsrahmen überprüft. Die Regeln zu kartellrechtlichen Abhilfemaßnahmen, die Vorschriften zu horizontalen und vertikalen Vereinbarungen und die Bekanntmachung zur Marktabgrenzung müssen möglicherweise den aktuellen Entwicklungen entsprechend angepasst werden. Dabei sollte der Kommission bewusst sein, dass europäische Unternehmen einem Wettbewerb großer Konkurrenten, insbesondere aus Asien, ausgesetzt sind.
- 9. Er begrüßt ferner die steten Bemühungen der Kommission um die Herstellung von fairen Wettbewerbsbedingungen, auf die gerade in Krisenzeiten besonders zu achten ist. Hierauf ist sowohl im Austausch mit den weltweiten Handelspartnern als auch in erforderlichem Maße durch unilaterale Maßnahmen, wie die Nutzung der Handelsschutzinstrumente, hinzuwirken. Einem Systemwettbewerb der Wirtschaftsordnungen muss Europa entschieden entgegentreten, soweit unfaire Wettbewerbsbedingungen zu befürchten sind. Vor diesem Hintergrund begrüßt er die Ankündigung der Kommission über die Vorlage eines Weißbuches zu einem Instrument gegen ausländische Subventionen mit Vorschlägen, wie den wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen von Drittstaatsubventionen im Binnenmarkt begegnet werden soll.
- 10. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die in Form des Konzepts des europäischen Grünen Deals vorgelegte Wachstumsstrategie bei dem Wiederaufbau der europäischen Industrie handlungsleitend bleiben soll. Für die Industrie ist hierbei vor allem Planungssicherheit wichtig, weshalb bei der Umsetzung darauf zu achten ist, dass bereits kommunizierte Fristen und Zielkorridore eingehalten werden. Er unterstreicht, dass das Ziel der Treibhausgasneutralität bis zum Jahr 2050 zum Maßstab für Wirtschaftshilfen gemacht werden soll.
- 11. Der Bundesrat begrüßt die geplante Unterstützung der Industrie seitens der Kommission für den raschen Übergang zu einer klimaneutralen Produktion. Er begrüßt vor allem, dass die Kommission die Industrie bei dem raschen Übergang zu einer klimaneutralen Produktion finanziell unterstützt. Er bittet, insbesondere darauf hinzuwirken, dass der Übergang durch entsprechende finanzielle Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen und Industriebranchen erleichtert wird. Wichtig ist die Schaffung von europäischen und globalen Märkten für CO₂-arme Produkte und Verfahren.
- 12. Er sieht in der Entwicklung einer grünen Wasserstoffwirtschaft einen wichtigen Pfeiler der vom europäischen Grünen Deal angestrebten nachhaltigen Industriepolitik. Er fordert die Kommission auf, Leitmärkte für grüne Wasserstofftechnologien und -systeme in Europa zu schaffen und den Einsatz von Wasserstoff für die klimaneutrale Produktion - vor allem in der Stahl-, Zement- und Chemieindustrie - zu fördern. Der Bundesrat begrüßt daher die Arbeiten der Kommission im Bereich Sektorintegration und Wasserstoff. Die angekündigte EU-Strategie für sauberen Stahl sollte zügig verabschiedet werden und einen Fokus auf den Einsatz von grünem Wasserstoff legen.
- 13. Der Bundesrat begrüßt die angekündigte Gründung einer europäischen Allianz für sauberen Wasserstoff. Diese sollte zügig eingerichtet werden, auf grünen Wasserstoff fokussiert sein und der EU zu einer Vorreiterrolle in dieser Schlüsseltechnologie verhelfen, indem sie zur Koordination sowie zum Wissens- und Erfahrungsaustausch beiträgt. Regionen müssen dabei mit eingebunden werden. Die norddeutsche Wasserstoffallianz kann dafür beispielgebend sein. Sie ist darauf ausgerichtet, regionale Akteure in konkrete Aktivitäten einzubinden.
- 14. Der Bundesrat unterstützt ausdrücklich die Hervorhebung der wichtigen Rolle von KMU.
Er nimmt die COVID-19-Krise zum Anlass, auf die Verwundbarkeit der technologisch orientierten KMU und der Unternehmen des Mittelstands hinzuweisen. Die ganz überwiegende Anzahl von Unternehmen in Europa sind KMU. Unternehmen des Mittelstands bestimmen in Deutschland die industrielle Struktur und stellen regional hochattraktive Arbeitsplätze zur Verfügung. Ziel europäischer Industriepolitik muss es sein, dass diese Unternehmen weiterhin attraktive Rahmenbedingungen vorfinden. Dazu gehören insbesondere der unbürokratische Zugang zu Kapital und ein - auch internationales - "level playing field".
- 15. Er teilt die Auffassung der Kommission, dass etablierte Industrieunternehmen von einer Zusammenarbeit mit jungen, technologisch versierten KMU (auch Startups) profitieren können. Soweit es die Plattformwirtschaft betrifft, ist angesichts der für Plattformen besonderen Dynamiken ("the winner takes it all") besonders darauf zu achten, dass auch kleinere Akteure oder Konsortien unter Beteiligung von KMU und Startups die Möglichkeit haben, wesentliche Marktanteile für sich zu gewinnen. Dies gilt insbesondere in Marktsegmenten, die noch nicht durch die Plattformwirtschaft erschlossen sind, wie etwa in sektorspezifischen B2B-Märkten.
- 16. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission die Digitalisierung, wie sie in der Mitteilung "Gestaltung der digitalen Zukunft Europas" (BR-Drucksache 097/20 (PDF) ) vom 19. Februar 2020 beschrieben ist, zum Bestandteil der europäischen Industriepolitik gemacht hat.
Er begrüßt damit insbesondere, dass dem Thema "Daten" in der vorgelegten Industriestrategie eine wichtige Rolle zugesprochen wird. Der Kommission ist zuzustimmen, wenn sie die Notwendigkeit für einen entsprechenden Rahmen hervorhebt, der es Unternehmen ermöglicht, Daten zu produzieren, zusammenzuführen und zu nutzen.
- 17. Der Bundesrat ersucht die Bundesregierung, sich für bestehende Initiativen in den Mitgliedstaaten wie "International Data Spaces Association" oder die Initiative GAIA-X und gegen den Aufbau von Parallelstrukturen einzusetzen.
- 18. Er teilt die Auffassung der Kommission, dass es erforderlich ist, in die Technologien künstliche Intelligenz, 5G-Netze sowie Daten- und Metadatenanalytik zu investieren. Er begrüßt, dass die Kommission ihre Vorstellungen in diesen Bereichen in einem Weißbuch zur künstlichen Intelligenz, durch verschiedene Ideen zur Beschleunigung der Gigabit-Anbindung in Europa und durch eine europäische Datenstrategie verfeinert hat bzw. verfeinern will.
- 19. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, in den kommenden Monaten die Kommission stetig - das heißt auch bei der Vorbereitung von Gesetzesvorschlägen oder Erwägungen zu Anpassungen bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts - an diese besonderen Herausforderungen zu erinnern.
- 20. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.