878. Sitzung des Bundesrates am 17. Dezember 2010
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU) und der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat würdigt die Bestrebungen der Kommission, auf Basis des Vertrags von Lissabon eine wirksamere Kombination der interagierenden Instrumente "Katastrophenschutz" und "Humanitäre Hilfe" herbeiführen zu wollen. Die Mitteilung nennt hierzu folgende Notwendigkeiten:
- - Aufbau einer europäischen Notfallabwehrkapazität auf der Grundlage im Voraus bereitgestellter Ressourcen der Mitgliedstaaten und im Voraus vereinbarter Notfallpläne, - Errichtung eines Europäischen Notfallabwehrzentrums als operative Schnittstelle zwischen Katastrophenhilfe und den Koordinierungsinstrumenten der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP),
- - eine gemeinsame, effektivere und kostenwirksamere Logistik unter Rückgriff auf die in jüngster Zeit aufgebauten Teams für technische Hilfe und Unterstützung - TAST,
- - ein koordinierter und kostenwirksamer Sachhilfetransport durch Zusammenlegung und Kofinanzierung durch die EU,
- - eine verbesserte Ermittlung des humanitären Bedarfs mit Blick auf das Bedarfsermittlungssystem der UN.
Zu Recht betont die Kommission mehrfach die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und hebt ihre koordinierende Rolle hervor. Dies ist zusammen mit der Betonung von Solidarität, Subsidiarität und Prävention ein deutlicher Fortschritt zu früheren Überlegungen.
Gleichwohl stellt der Bundesrat im Anschluss an seine Stellungnahmen vom 14. Mai 2004 - BR-Drucksache 280/04(B) -, 7. April 2006 - BR-Drucksache 101/06(B) -, vom 14. März 2008 - BR-Drucksache 134/08(B) - und vom 23. Mai 2008 - BR-Drucksache 185/08(B) und seinen Beschluss vom 16. Februar 2007 - BR-Drucksache 026/07(B) - grundsätzlich fest, dass Tendenzen und strategische Erwägungen der Kommission, die bereits im letztgenannten Beschluss Gegenstand kritischer Würdigung waren, in Teilen fortgeführt werden sollen.
Eine Darlegung möglicher Defizite des im Jahr 2007 etablierten neuen EU-Gemeinschaftsverfahrens für den Katastrophenschutz durch die Kommission ist nach wie vor nicht erfolgt, obwohl dies zuletzt im Rahmen der Anhörung zur Vorbereitung der Mitteilung von Seiten mehrerer Mitgliedstaaten gefordert worden ist. Stattdessen stützt sich die Kommission weiterhin in dogmatischer Weise auf Erkenntnisse des im Jahr 2007 erschienenen Barnier-Berichts, der seinerzeit im Kreise der Mitgliedstaaten auf Kritik gestoßen ist. Einige der darin geäußerten Kerngedanken scheinen in der Mitteilung - wenn auch in abgewandelter Form - abermals ihren Niederschlag gefunden zu haben.
- 2. Hinsichtlich der wesentlichen Planungen der Kommission stellt der Bundesrat im Einzelnen fest:
- - Aufbau einer europäischen Notfallabwehrkapazität auf der Grundlage im Voraus bereitgestellter Ressourcen der Mitgliedstaaten und im Voraus vereinbarter Notfallpläne.
Zu begrüßen sind grundsätzlich alle Maßnahmen, die die Katastrophenreaktion im Rahmen des Gemeinschaftsverfahrens effizienter und effektiver machen. Hierzu zählt die geplante Entwicklung von Referenzszenarien, die Ermittlung und Inventarisierung vorhandener nationaler Ressourcen auf Basis dieser Szenarien sowie die intensivierte Durchführung von Übungen. Darüber hinaus ist auch die Entwicklung entsprechender Notfallpläne sowie die Ermittlung und Förderung von Synergien zwischen der Sachhilfe der Mitgliedstaaten und der von der EU finanzierten humanitären Hilfe positiv zu bewerten.
Die Schaffung europäischer Notfallkapazitäten unter eigener operativer Befugnis und Verfügungsgewalt - selbst auf Grundlage mitgliedstaatlicher Ressourcen - läuft indes Artikel 196 AEUV zuwider und ist auch von Artikel 214 AEUV nicht gedeckt. Die in der Mitteilung entwickelten Vorstellungen lassen besorgen, dass die Kommission einem grundlegenden konzeptionellen Fehler unterliegt: Nicht die EU soll in der Lage sein, wirkungsvoll auf Katastrophen zu reagieren, sondern die Mitgliedstaaten. Eine selbständige Verfügungsgewalt der Kommission über Katastrophenschutzeinheiten und die damit einhergehende Übernahme operativer Funktionen verbieten sich somit von vornherein. Aber auch das Bereithalten von eigenen europäischen Notfallkapazitäten auf der Grundlage mitgliedstaatlicher Ressourcen lässt nach Auffassung des Bundesrates eine tragfähige rechtliche Grundlage vermissen und wäre auch mit Blick auf das geplante weltweite Einsatzgebiet mit Einheiten, die auf freiwilligen und für die nationale Krisenbewältigung ausgebildeten Kräften basieren, nicht leistbar.
Der Bundesrat stellt weiter fest, dass auch EU-finanzierte Materialressourcen, die sich an eine Lückenanalyse anschließen könnten, in die falsche Richtung führen. Denn die EU ersetzt hier präventive mitgliedstaatliche Bemühungen, anstatt diese zu fördern. Eigene Ressourcen der Gemeinschaft stellen mithin stets die Grundlage eines Einstiegs in operative Kompetenzen dar, da nur die EU über den Einsatz dieser Ressourcen entscheiden könnte. Der Bundesrat betont in diesem Zusammenhang, dass das vom Europäischen Parlament initiierte Pilotprojekt "Effizientere Unterstützung für von erheblichen Waldbränden betroffene Mitgliedstaaten durch Schaffung von Luft-Reserveeinheiten für die Waldbrandbekämpfung während der Waldbrandsaison" keinesfalls einen geeigneten Lösungsansatz darstellen kann, denn derartige Maßnahmen lassen befürchten, dass hierdurch mittelfristig die Anschaffung EU-eigener Ausrüstung vorbereitet werden könnte. Gegen eine derartige Ressourcenanschaffung durch die EU wurden zuletzt mit Stellungnahme des Bundesrates vom 23. Mai 2008 - BR-Drucksache 185/08(B) - grundlegende Einwände erhoben, die hiermit noch einmal bekräftigt werden.
Der Bundesrat unterstreicht in diesem Zusammenhang seine Auffassung, dass das Modulkontingent der Mitgliedstaaten die adäquate Reservekomponente darstellt und sich zunächst einmal bewähren muss.
- - Errichtung eines Europäischen Notfallabwehrzentrums als operative Schnittstelle zwischen Katastrophenhilfe und den Koordinierungsinstrumenten der GSVP
Die Kommission verfügt derzeit über das Beobachtungs- und Informationszentrum (MIC), welches bei Hilfseinsätzen im Rahmen des EU-Gemeinschaftsverfahrens die Funktion einer Koordinierungszentrale übernimmt und somit den Einsatz der Katastrophenschutzkräfte aus den Mitgliedstaaten erleichtern kann. Diese Einrichtung hat sich in der Vergangenheit in zahlreichen Fällen bewährt und wurde bereits bedarfsgerecht ausgebaut. Es ist nachvollziehbar, dass das MIC in die neu geschaffenen organisatorischen Strukturen der Kommission implementiert werden muss. Die Mitteilung sieht hierzu die Zusammenlegung der Krisenstellen für humanitäre Hilfe (ECHO) und Katastrophenschutz (MIC) zu einem Europäischen Notfallabwehrzentrum vor. Dieses Zentrum soll rund um die Uhr einsatzfähig sein und vor allem dazu dienen, Erfahrungen auszutauschen und Informationen aus beiden Bereichen in Echtzeit zu erfassen. Zu seinen zentralen Aufgaben sollen die Gefahrenüberwachung und Frühwarnung, aber auch die Koordinierung der zivilen Katastrophenabwehr der EU gehören.
Der Mitteilung zufolge setzt dies "einen inhaltlichen Übergang vom reinen Informationsaustausch und der Reaktion auf Katastrophen hin zu einer proaktiveren Rolle bei Planung, Überwachung, Vorbereitung, operativer Koordinierung und Logistikunterstützung voraus." Darüber hinaus wird der Ausbau zu einer Plattform, die andere an der Bewältigung von Großkatastrophen beteiligte Dienste unterstützen soll, in Aussicht gestellt. Dies lässt bei zusammenfassender Bewertung die Möglichkeit einer Übernahme und Bündelung nationaler Kompetenzen aufscheinen, die nicht zielführend wäre. Der Bundesrat setzt sich deshalb auch weiterhin für eine Stärkung der Funktionsfähigkeit des MIC ein. Es ist das geeignete Instrument, um die Mitgliedstaaten bei der Koordinierung der Einsätze sowohl innerhalb der EU als auch in Drittstaaten zu unterstützen. Eine Umwandlung des MIC in Richtung operativer Einsatzzentrale wird aber auch künftig seitens des Bundesrates nicht mitgetragen werden können.
Schließlich kann die Fusion der Bereiche Katastrophenschutz und Humanitäre Hilfe nur insoweit akzeptiert werden, als dies auf Gemeinschaftsebene praktiziert wird. Ob ein entsprechender Schritt auf nationaler Ebene angezeigt ist, liegt im Entscheidungsbereich der Mitgliedstaaten. Daher stellen auch die geplanten Vorgaben über die Verbindung von nationalen Kontaktstellen für Katastrophenschutz mit nationalen Stellen für humanitäre Hilfe einen Eingriff in die Organisationshoheit der Mitgliedstaaten dar.
- - Gemeinsame, effektivere und kostenwirksamere Logistik unter Rückgriff auf die Teams für technische Hilfe und Unterstützung - TAST
Die Teams für technische Hilfe und Unterstützung (Technical Assistance Support Teams - TAST) sollen die Einsatzteams vor Ort begleiten. Ihre primäre Aufgabe liegt dabei in der Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit im administrativen, technischen und logistischen Bereich. Dazu gehört auch die Gewährleistung der Teammobilität. Diese aus dem Modulkonzept der EU resultierenden Einheiten können im Verbund mit den Einsatzteams etwaige Defizite in den vorgenannten Bereichen ausgleichen und die Einsatzkräfte dazu befähigen, sich ausschließlich auf den Hilfseinsatz zu konzentrieren. Der Bundesrat trägt diesen Ansatz - wie bereits in der Stellungnahme vom 23. Mai 2008 - BR-Drucksache 185/08(B) - zum Ausdruck gebracht - mit, soweit die TASTs in nationaler Verantwortung stehen.
- - Koordinierter und kostenwirksamer Sachhilfetransport durch Zusammenlegung und Kofinanzierung durch die EU
Das Finanzierungsinstrument für den Katastrophenschutz sieht bei Hilfstransporten innerhalb wie außerhalb der EU im Einzelfall eine Gemeinschaftsfinanzierung von bis zu 50 Prozent der entstandenen Transportkosten vor. Der finanzielle Rahmen für die Transportfinanzierung wurde auf 50 Prozent des Gesamtansatzes für das Finanzierungsinstrument begrenzt. Die Mitteilung sieht nun hinsichtlich des Transportes eine Verstärkung der Kofinanzierung vor. Diese soll u.a. durch eine Inanspruchnahme kommerzieller Transportmittel und Logistikleistungen realisiert werden.
Der Bundesrat erkennt an, dass auf der Grundlage der bisher gewonnenen Erfahrungen die Thematik des Transports und seiner Finanzierung stärker flexibilisiert werden muss. Die bisherigen Überlegungen hierzu befinden sich noch in der Anfangsphase und bedürfen gründlicher Prüfung.
- 3. Bei zusammenfassender Bewertung aller in der Mitteilung dargestellten Planungen erkennt der Bundesrat zwar deutliche Fortschritte im Vergleich zu früher erhobenen Forderungen der Kommission, sieht sich aber gleichwohl noch in seiner - zuletzt in den Beschlüssen vom 16. Februar 2007 - BR-Drucksache 026/07(B) - und vom 23. Mai 2008 - BR-Drucksache 185/08(B) - zum Ausdruck gebrachten - Haltung bestätigt, operativen Ausdehnungstendenzen der EU im Bereich des Katastrophenschutzes frühzeitig entgegenzutreten.
Moderne europäische Entwicklungstendenzen gebieten möglichst dezentralisierte Aufgabenerledigung und Deregulierung, wo immer dies sachgerecht erscheint. Eine Verlagerung zwingender nationaler Verantwortlichkeiten auf die europäische Ebene würde falsche politische Signale setzen. Vielmehr muss verdeutlicht werden, dass die EU bei einem staatenübergreifenden Einsatz nationaler Ressourcen im Katastrophenfall wichtige Vermittlungs- und Koordinierungsaufgaben übernehmen kann. Der Bundesrat hält vor diesem Hintergrund eine eingehende Erörterung der Mitteilung - zunächst und zuvörderst in den fachlich zuständigen Arbeitsgruppen - auf europäischer Ebene für angezeigt.
- 4. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, diese Stellungnahme bei der Festlegung der Verhandlungsposition gemäß § 5 Absatz 2 Satz 1 EUZBLG maßgeblich zu berücksichtigen und die Haltung der Länder auf der Grundlage vorstehender Erwägungen nachdrücklich voranzutreiben.
[Begründung:
Das Vorhaben betrifft im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder. Der Bund hat kein Recht zur Gesetzgebung. Der Katastrophenschutz fällt gemäß Artikel 70 GG in die Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder.]