Auswärtiges Amt Berlin, 6. September 2019 Staatsminister für Europa
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Daniel Günther
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Europäische Kommission empfiehlt in ihrer Mitteilung zur EU-Erweiterungsstrategie vom 29. Mai 2019, Beitrittsverhandlungen mit Albanien auf Basis der erzielten Fortschritte aufzunehmen. Sie würdigt damit die weiterhin stetigen Fortschritte der albanischen Regierung bei der Umsetzung von Reformen in Schlüsselbereichen von Verwaltung, Justiz, Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität sowie Menschenrechten.
Die Europäische Kommission unterstreicht, dass die derzeitige Reformdynamik im wichtigen Bereich der Rechtstaatlichkeit aufrechtzuerhalten und zu verstärken ist und weitere konkrete und greifbare Ergebnisse bei der Überprüfung der Richter und Staatsanwälte zu erzielen sind.
Die Europäische Kommission bestätigt Albanien Fortschritte bei der Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten. Albanien hat die Angleichung seiner Rechtsvorschriften an die Anforderungen der EU in einer Reihe von Bereichen fortgesetzt.
Die umfassende Analyse der Europäischen Kommission zur Reformbilanz, die dem strikten Prinzip der Beurteilung ausschließlich nach eigenen Leistungen folgt, entspricht der Einschätzung der Bundesregierung. In den letzten Jahren hat das Land tiefgreifende Reformen, insbesondere im Justizbereich, auf den Weg gebracht.
Aus Sicht der Bundesregierung spricht die Reformbilanz Albaniens insgesamt für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Wichtig bleibt, dass Albanien auch nach der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen dezidiert am Reformkurs festhält.
Um den Reformkurs gegen politischen Druck von innen und außen fokussiert durchzusetzen, müssen nach Auffassung der Bundesregierung vor den ersten Kapitelöffnungen zusätzliche Bedingungen erfüllt sein, namentlich die Umsetzung der Wahlrechtsreform; die Einleitung von Strafverfahren gegen Richter und Staatsanwälte, denen im sogenannten Vetting-Prozess strafbares Verhalten vorgeworfen wird; die Einsetzung der Spezialstruktur zur Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität (SPAK); verstärkte Anstrengungen zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts, des Obersten Gerichtshofes und SPAK durch Ausstattung mit einer angemessenen Anzahl überprüfter Richter und Staatsanwälte; solide Fortschritte zur Schaffung einer Erfolgsbilanz bei der Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität auf allen Ebenen; greifbare Fortschritte bei der Verwaltungsreform, einschließlich der Überprüfung der Einstellungen von hochrangigen Beamten und Direktoren, auch mit Blick auf Vorwürfe zu Unregelmäßigkeiten; verstärkte Fortsetzung der Bekämpfung des Drogenhandels und Drogenanbaus in Albanien durch geeignete Maßnahmen, die auf eine dauerhafte Unterbindung des Drogenanbaus abzielen.
Der Verhandlungsrahmen sollte vorsehen, dass der Rat die Erfüllung dieser Voraussetzungen jeweils feststellen muss.
Um die anhaltenden Herausforderungen vor allem im Bereich Rechtsstaatlichkeit zu bewältigen, ist es aus Sicht der Bundesregierung außerdem unerlässlich, die Verhandlungen mit den prioritären Kapiteln zu Rechtsstaatlichkeit (Kapitel 23 Justiz und Grundrechte sowie Kapitel 24 Justiz, Freiheit und Sicherheit) zu eröffnen, diese kontinuierlich abzuarbeiten und weitere Verhandlungsfortschritte von Fortschritten in diesen Kapiteln abhängig zu machen.
Albanien soll wie andere Beitrittskandidaten im Verhandlungsprozess auch verpflichtet werden, Aktionspläne für Reformen vorzulegen, deren Umsetzung die Europäische Kommission kontinuierlich prüfen und über die sie regelmäßig berichten wird. Die Bundesregierung wird ihrerseits den Bundestag regelmäßig über Fortschritte im Implementierungsprozess unterrichten.
Die große Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten hat bereits signalisiert, dass sie rasch eine positive Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen anstrebt.
Die finnische EU-Ratspräsidentschaft hat deutlich gemacht, dass sie rasch die Entscheidung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen herbeiführen will und strebt in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen des Rates für Allgemeine Angelegenheiten vom 18. Juni 2019 - "so bald wie möglich und spätestens im Oktober 2019 zu einer klaren Sachentscheidung zu gelangen" - die Befassung des Rates für Allgemeine Angelegenheiten am 15. Oktober 2019 und des Europäischen Rates am 17./18. Oktober 2019 an.
Das Auswärtige Amt steht den zuständigen Gremien des Bundesrats jederzeit für eine weitergehende Unterrichtung und Aussprache zur Verfügung. Die Bundesregierung wird im Rahmen ihrer fortlaufenden Unterrichtung den Bundesrat kontinuierlich über die weitere Entwicklung der Vorgänge informieren.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Roth