Der Bundesrat hat in seiner 813. Sitzung am 8. Juli 2005 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass mit der Vorlage des Grünbuchs "Angesichts des demografischen Wandels - eine neue Solidarität zwischen den Generationen" das Thema, welches die politischen Herausforderungen der kommenden Jahre bestimmen wird, auch auf europäischer Ebene erörtert wird, und dass die Kommission damit zusätzliche Impulse für die Diskussion über die Bewältigung des europaweiten demografischen Wandels gibt.
Von der Gestaltung des demografischen Wandels und seinen Folgen auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene hängt die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ab.
- 2. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Kommission, dass angesichts der steigenden Lebenserwartung der Menschen sowie gleichzeitig stagnierender Geburtenraten mit einer zunehmenden Alterung der Gesellschaft zu rechnen ist.
- 3. Gleichzeitig unterstreicht der Bundesrat die Feststellung der Kommission, dass zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit den demografischen Veränderungen der Gesellschaft in die alleinige Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen. Der Bundesrat weist jedoch darüber hinausgehend darauf hin, dass aus seiner Sicht in diesem Bereich generell keine Gemeinschaftskompetenz besteht. Insbesondere betrifft dies auch Aspekte zur Sicherstellung der Solidarität zwischen den Generationen in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Der Bundesrat sieht keine Notwendigkeit, dass die Kommission "die Familien in den Mitgliedstaaten besser kennen" muss. Denn die EU hat keinerlei Kompetenzen z.B. bezogen auf das Angebot von Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Entsprechendes gilt auch für Pflegemöglichkeiten für ältere Menschen und die hierzu aufgeworfenen Fragen der gerechten Aufteilung zwischen Familien, Sozialdiensten und Institutionen oder gar die Unterstützung von Netzen von Nachbarschaftspflege. Diese Aufgaben sind ausschließlich im Rahmen der jeweiligen sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten dezentral zu organisieren.
- 4. Soweit die Kommission die Frage aufwirft, ob eine stärkere Zuwanderung eine Antwort auf die demografische Entwicklung sein kann, verweist der Bundesrat auf seine Stellungnahme zum Grünbuch der Kommission über ein EU-Konzept zur Verwaltung der Wirtschaftsmigration (BR-Drucksache 037/05(B) vom 18. März 2005).
Der Bundesrat betont auch hier nochmals die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Integrationspolitik für Zuwanderer. Er weist ferner darauf hin, dass Zuwanderung aus Drittstaaten in einem Umfang, der die Bevölkerungsalterung maßgebend abschwächen könnte, bereits wegen der dafür notwendigen Größenordnung und der daraus resultierenden Integrationsprobleme ausscheidet. Zudem ist auch die Auffassung der Kommission, die Zuwanderung aus Drittstaaten könnte einen Rückgang der Bevölkerungszahl bis 2025 ausgleichen, ebenso wenig belegt wie die Behauptung, Einwanderung habe in jüngster Zeit das Geburtendefizit in vielen Ländern abgemildert. Weiter wird nicht im Ansatz die Frage aufgeworfen, ob ein etwaiger demografischer Effekt aufgrund der Anpassung der Lebensweise der Zuwanderer an die der Einheimischen wieder aufgehoben wird. Oberflächlich ist auch die Analyse des Bevölkerungspotentials der soeben beigetretenen oder in den nächsten Jahren beitretenden Staaten; die Möglichkeiten der Mobilisierung des EU-heimischen Arbeitskräftepotentials werden vernachlässigt. Die mit der angestrebten verstärkten Zuwanderung verbundenen Probleme werden mit dem lapidaren Hinweis auf die Erforderlichkeit "aktiver Maßnahmen zugunsten von Integration und Chancengleichheit" nur ungenügend aufgegriffen.
- 5. Der Bundesrat bekräftigt, dass auch in den Bereichen Städte- und Wohnungsbau generell keine Gemeinschaftskompetenzen der EU bestehen und sich dies auch bei In-Kraft-Treten des Vertrags über eine Verfassung für Europa nicht ändern würde. Mögliche Auswirkungen des demografischen Wandels auf die städtische Dimension und entsprechende Maßnahmen fallen in die alleinige Kompetenz der Mitgliedstaaten.
- 6. Sofern in einzelnen Bereichen Gemeinschaftskompetenzen berührt sein sollten, ist nach Auffassung des Bundesrates eine Rechtfertigung für Maßnahmen im Rahmen eines eigenen Ansatzes zur Demografie auf Gemeinschaftsebene nicht erkennbar.
Die Aspekte des demografischen Wandels und seine Auswirkungen nehmen im Rahmen der Beschäftigungspolitik und in den bereits laufenden Prozessen der Offenen Methode der Koordinierung in den Bereichen Rentenversicherung sowie Gesundheit und Langzeitpflege und dem Nationalen Aktionsplan Soziale Ausgrenzung (NAP inklusive) bereits einen breiten Raum ein und sind als Querschnittsaspekte in der gemeinsamen EU-Politik durchgängig thematisiert.
Der Bundesrat sieht daher keinen Bedarf für einen zusätzlichen Erfahrungsaustausch oder eine Koordinierung über die bereits vorhandenen Koordinierungsprozesse hinaus. Gerade auch im Hinblick auf die derzeit verfolgten Bemühungen um Deregulierung und Bürokratieabbau wäre die Eröffnung eines neuen Prozesses kontraproduktiv. Einen weiteren Erkenntnisgewinn durch Eröffnung eines neuen Koordinierungsprozesses kann der Bundesrat nicht feststellen. Hier wäre nach Auffassung des Bundesrates die Kommission gefordert, den tatsächlichen europäischen Mehrwert eines zusätzlichen Erfahrungsaustausches darzulegen. Das Grünbuch zeigt einen derartigen Mehrwert nach Auffassung des Bundesrates jedoch nicht auf.
- 7. Unabhängig davon nimmt der Bundesrat zu einigen Punkten wie folgt inhaltlich Stellung:
- - Die Kommission geht in ihrem Grünbuch zum Teil von Prämissen aus, die der Bundesrat so nicht nachvollziehen kann. So wird festgestellt, dass die Wohlstandsentwicklung ohne Bevölkerungswachstum limitiert ist. Der Bundesrat ist jedoch der Auffassung, dass das tatsächliche Wirtschaftswachstum und damit auch die Wohlstandsentwicklung von sehr vielen Faktoren abhängt, wobei die demografische Entwicklung allein keinen limitierenden Faktor darstellt. So könnte die Zahl der Erwerbstätigen neben dem auch von der Kommission verfolgten Ziel einer Steigerung der Erwerbsquote auch durch eine verstärkte Eingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt erheblich gesteigert werden.
- - Entsprechendes gilt für die Aussage der Kommission, dass es noch nie Wirtschaftswachstum ohne Bevölkerungswachstum gegeben hat. Die ökonomischen Analysen der gesamtwirtschaftlichen Folgewirkungen von Altersstruktur und Bevölkerungsgrößenveränderungen stehen großteils noch am Anfang; die bestehenden Analysen sind zudem teilweise widersprüchlich. So kann trotz Schrumpfung und Alterung einer Gesellschaft steigender Wohlstand möglich sein, insbesondere wenn die Arbeitsproduktivität weiterhin ähnlich zunimmt wie bisher.
- - Darüber hinaus ist festzustellen, dass eine Steigerung der Geburtenrate - so wünschenswert diese sein mag - nur sehr langfristige Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung hat, d.h., selbst wenn es im nächsten Jahrzehnt zu einem merklichen Anstieg der Geburtenrate käme, würde dies die Bevölkerungsentwicklung bis 2050 nur in sehr geringem Umfang beeinflussen.
- 8. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die langfristige Sicherung des Wirtschaftswachstums zu den zentralen Herausforderungen des demografischen Wandels zählt. Die Einschätzung der Hochrangigen Gruppe unter Vorsitz von Wim Kok, wonach das jährliche "potenzielle Wachstum" des BIP in Europa von heute 2 bis 2,25 % auf 1,25 % im Jahr 2040 zurückgehen könnte, muss von den Mitgliedstaaten als Warnsignal begriffen werden. Gerade Deutschland als größte Volkswirtschaft der EU und als diejenige mit einer der niedrigsten Geburtenraten in der EU muss größte Anstrengungen unternehmen, um mit geeigneten Wirtschaftsreformen bessere Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum zu schaffen.
- 9. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass der demografische Wandel und die Bevölkerungsalterung das Problem der Arbeitslosigkeit nicht automatisch lösen werden. Dies zeigt sich auch daran, dass sich in denjenigen europäischen Regionen, in denen ein Bevölkerungsrückgang bereits eingesetzt hat, keineswegs ein automatischer Rückgang der Arbeitslosigkeit ergeben hat. Daher darf der absehbare demografische Wandel unter keinen Umständen zur Rechtfertigung für das Unterlassen notwendiger Arbeitsmarktreformen zur Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, etwa im Arbeits- und Tarifrecht, herangezogen werden. Vielmehr müssen auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels alle politischen Anstrengungen unternommen werden, das in Deutschland vorhandene Erwerbspersonenpotenzial bestmöglich auszuschöpfen.
- 10. Der Bundesrat weist darauf hin, dass der demografische Wandel im Hinblick auf das Existenzgründungsgeschehen sowie die Unternehmensnachfolge und damit auf die allgemeine Wirtschaftsdynamik erhebliche Konsequenzen haben kann. So wird die Zahl der "jungen Erwachsenen" im Alter von 25 bis 39 Jahren, die bisher eine besonders hohe Gründungsneigung aufweisen, zwischen 2010 und 2030 EU-weit um 16 % zurückgehen. Außerdem wird erwartet, dass in den nächsten zehn Jahren europaweit rund ein Drittel aller Unternehmer einen Nachfolger suchen. Diese Entwicklungen stellen nicht nur eine Gefahr für bestehende und die Schaffung neuer Arbeitsplätze dar, sondern könnten auch die kontinuierliche Modernisierung der Wirtschaft und das Hervorbringen von Innovationen negativ beeinflussen, da grundlegende Neuentwicklungen häufig von neuen Unternehmen angestoßen werden. In Anbetracht dessen müssen die Gründungspotenziale anderer Gruppen der Erwerbsbevölkerung, etwa der Frauen, der Älteren und der Migranten, in Zukunft sehr viel stärker ausgeschöpft werden, um einen Einbruch bei den Unternehmensgründungen zu verhindern und die Nachfolge bestehender Unternehmen zu sichern.
- 11. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass gerade auch in Deutschland weitere Reformschritte, wie sie mit der Lissabon-Strategie für eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung vorgesehen wurden, dringend notwendig sind. Die von der Bundesregierung bisher vorgesehenen Maßnahmen sind nicht hinreichend, um die von der Bundesregierung auf europäischer Ebene mitbeschlossenen Lissabon-Ziele zu erreichen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Ziel einer Steigerung der Erwerbsquote Älterer auf 50 % bis 2010. Nach Auffassung des Bundesrates stehen Maßnahmen, wie die von der Bundesregierung geplante Verlängerung des § 428 SGB III, in krassem Widerspruch zu den Lissabon-Zielen.
- 12. Der Bundesrat ist weiter der Auffassung, dass im Rahmen der Grünbuch-Diskussion auch die durch Erwerbslosigkeit entstehenden Armutsrisiken älterer arbeitsloser Erwerbsfähiger (55 bis 64 Jahre) gesehen werden müssen. Arbeitslosigkeit ist gerade für ältere Erwerbsfähige auf Grund der bisher unzureichenden Wiedereinstellungschancen ein hohes Risiko für sozialen Abstieg und das Abgleiten in Armut. Aus diesem Grund sind entschlossene Schritte zur Beseitigung von Beschäftigungshemmnissen für Ältere notwendig, um deren bessere Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Dazu gehören neben der Senkung der Lohnzusatzkosten und dem Abbau kostenträchtiger Senioritätsvorteile vor allem die Abschaffung der Frühverrentung und die Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung ist sowohl unter demografischen Gesichtspunkten als auch mit Blick auf die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme unabdingbar.
- 13. Angesichts der zentralen Bedeutung einer steigenden Erwerbsbeteiligung Älterer im Lissabon-Prozess fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, bis Ende 2005 einen Strategieplan "Ältere am Arbeitsmarkt" vorzulegen. Darin soll dargelegt werden, mit welchen Instrumenten die Bundesregierung die Erhöhung der Erwerbsquote Älterer auf 50 % bis zum Jahr 2010 erreichen will. Dabei soll die Bundesregierung auch Stellung nehmen, in welcher Höhe derzeit öffentliche Mittel (Steuerbefreiungen bei der Einkommensteuer, Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung für Frührentnerinnen und -rentner unter 65 Jahren, Zuschüsse der Bundesagentur für Arbeit für Frühverrentungsmodelle aus Beitragsmitteln, Zuwendungen aus Mitteln öffentlicher Haushalte usw.) für einen Rückzug Älterer vom Arbeitsmarkt aufgewendet werden und wie sich diese Aufwendungen in den nächsten Jahren entwickeln werden.
- 14. Der Bundesrat begrüßt es, dass mit dem Grünbuch auch eine Diskussion über ergänzende Erwerbseinkommen von Seniorinnen und Senioren als mögliche vierte Säule der Alterssicherung, neben gesetzlichen Renten, betrieblichen Renten und privaten Altersvorsorgeprodukten, angestoßen werden soll. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigungsquote der Altersgruppe zwischen 65 und 74 Jahren EU-weit mit 5,6 % deutlich unter der entsprechenden Quote in den USA mit 18,5 % bzw. in Japan mit deutlich über 20 % liegt.
- 15. Zur Sicherung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung hält der Bundesrat eine grundlegende Reform der Sozialversicherungssysteme für notwendig. Auf Grund der altersabhängigen Sozialversicherungsrisiken wird der Finanzierungsbedarf in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung infolge der demografischen Entwicklung dramatisch ansteigen. Soweit die Finanzierbarkeit der Sozialversicherungssysteme durch erhebliche Beitragssteigerungen gesichert werden sollte, würde dies zu einer weiteren erheblichen Erhöhung der Arbeitskosten und damit zu einer Verschlechterung der Beschäftigungschancen führen. Gleiches gilt, darauf weist der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Gutachten nachdrücklich hin, für die Einführung einer Bürgerversicherung insbesondere in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die gesetzliche Rentenversicherung gerät jenseits der heute bereits bestehenden Finanzierungsprobleme durch die annähernde Verdopplung des Alterslastquotienten zusätzlich unter Druck.
- 16. Aus den bis in das Jahr 2050 prognostizierten und damit notwendigerweise unsicheren demografischen Annahmen können jedoch keine Vorgaben für die Mitgliedstaaten zur Reform ihrer Sozialschutz- und Alterssicherungssysteme, insbesondere keine inhaltlichen Vorgaben für die Reform der Systeme, abgeleitet werden.
- 17. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die demografischen Veränderungen in Europa auch neue Chancen für die Wirtschaft bringen können. Dazu zählen insbesondere auch innovative, generationengerechte Produkte und Dienstleistungen. Darüber hinaus bietet der außerhalb Europas prognostizierte weitere Anstieg der Weltbevölkerung um rund 40 % in den nächsten Jahrzehnten auf Grund des erwartbaren Wachstums der Märkte auch neue Chancen für die Wirtschaft der EU und ihrer Mitgliedstaaten.
- 18. Kein Mitgliedstaat der EU ist so exportorientiert und damit auf internationale Wettbewerbsfähigkeit angewiesen wie Deutschland. Dabei ist das Knowhow der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das wichtigste Kapital der deutschen Wirtschaft. Jedoch gibt es Hinweise dafür, dass qualifizierte Arbeitskräfte bereits heute trotz erheblicher Arbeitslosigkeit auf dem heimischen Arbeitsmarkt in verschiedenen Bereichen nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind. Der bereits heute feststellbare Fachkräftemangel könnte sich durch die demografische Entwicklung ohne eine zukunftsorientierte Beschäftigungspolitik in den nächsten Jahrzehnten dramatisch verschärfen. Zu den Bausteinen einer zukunftsorientierten Beschäftigungspolitik zählt neben der Verkürzung der Ausbildungs- und Studienzeiten sowie der Erhöhung der Erwerbstätigenquote von Frauen u. a. auch die Zuwanderung ausländischer Spitzen- bzw. hochqualifizierter Arbeitskräfte. Dabei hat der internationale Wettbewerb um die besten Fachleute längst begonnen. Auch in Deutschland müssen die Rahmenbedingungen weiter verbessert werden, damit Deutschland im internationalen Wettbewerb um die "besten Köpfe" bestehen kann.
- 19. Nach Auffassung des Bundesrates muss verhindert werden, dass der drohende Fachkräftemangel durch eine zunehmende Abwanderung von qualifizierten Nachwuchskräften ("brain drain") verschärft wird. Alarmierend ist in diesem Zusammenhang eine Untersuchung von McKinsey "Generation 05" in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut "Psephos". Die Untersuchung hat ergeben, dass es mehr als die Hälfte der befragten Hochschulabsolventen für möglich hielt, dass zur Sicherung ihrer Existenz eine Auswanderung notwendig sein könnte. Lediglich 40 % der Befragten erwarten für sich selbst in Deutschland noch eine gesicherte Zukunft. Gerade auch vor diesem Hintergrund muss der Aspekt der Generationengerechtigkeit und der finanziellen Tragbarkeit zusätzlicher demografiebedingter Belastungen durch die erwerbstätige Generation künftig bei der Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der sozialen Sicherungssysteme stärkere Berücksichtigung finden.
- 20. Um das Wirtschaftswachstum vor dem Hintergrund einer schrumpfenden und alternden Erwerbsbevölkerung langfristig zu sichern, muss nach Ansicht des Bundesrates eine Bildungsoffensive gestartet werden. Die negativen Wachstumsimpulse der demografischen Entwicklung lassen sich abmildern, wenn die Arbeitsproduktivität gesteigert und ein Fachkräftemangel weitestgehend vermieden wird. Daher ist es erforderlich, die vorhandenen Bildungspotenziale aller Bevölkerungs- und Altersgruppen besser als bisher zu nutzen. Im gesamten Bildungsbereich - von der frühkindlichen Bildung über die Allgemeinbildung bis zur beruflichen Aus- und Weiterbildung - müssen die Begabungen und Stärken gezielter und effektiver entwickelt werden. Der Förderung des Lebenslangen Lernens kommt in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung zu.
- 21. Nach Auffassung des Bundesrates weisen die Überlegungen der Kommission zur Steigerung der Geburtenrate durch Verbesserungen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, einschließlich der Pflegemöglichkeiten für ältere Menschen, in die richtige Richtung. Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung weist aus, dass in Deutschland das Armutsrisiko von Haushalten mit Kindern von 12,6 % im Jahr 1998 auf 13,9 % im Jahr 2003 deutlich gestiegen ist. Daran lässt sich ablesen, dass eine Steigerung insbesondere der Beschäftigung von Frauen nicht nur angesichts des drohenden Fachkräftemangels, sondern auch zur Sicherung und Steigerung des Einkommens von Familien mit Kindern erforderlich ist.
- 22. Hinsichtlich der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollten nach Auffassung des Bundesrates auf EU-Ebene und auf nationaler Ebene auch die privatwirtschaftlichen Möglichkeiten in den Bereichen Kinderbetreuung und Pflege stärker als bisher in die notwendigen Überlegungen einbezogen werden.
- 23. Der Bundesrat weist nachdrücklich auf die Wirkung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere der Bedingungen des Arbeitsmarkts, für die individuelle Familienplanung hin. Langfristig ist eine Steigerung der Geburtenrate nur bei gesichertem Wohlstand für breite Bevölkerungskreise und einer ausreichend vorhandenen Unterstützungsstruktur von Betreuungseinrichtungen erwartbar. Letztlich sind dafür die aus einer Erwerbstätigkeit erzielbaren Markteinkommen entscheidend. Staatliche Umverteilung kann nur korrigieren und unterstützen, wirtschaftliche Schwächen aber nicht langfristig ausgleichen.
- 24. Der Bundesrat weist darauf hin, dass - soweit die Kommission einen Zusammenhang zwischen der niedrigen Geburtenrate und einem unzureichenden Angebot an preisgünstigem Wohnraum herstellt und entsprechenden Handlungsbedarf sieht - die Versorgung von Haushalten, die sich am Markt nicht angemessen mit preisgünstigem Wohnraum versorgen können, ausschließlich Angelegenheit des Bundes bzw. der Länder ist.
- 25. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die demografische Entwicklung bereits heute teilweise zur Verschärfung der Probleme in städtischen Räumen beiträgt und dabei die bereits vorhandenen Auswirkungen des wirtschaftlichen Strukturwandels überlagert. Er spricht sich dafür aus, dass die Auswirkungen der demografischen Entwicklung verstärkt in der EU-Förderpolitik, insbesondere auch bei der Ausgestaltung der Strukturfonds, berücksichtigt werden müssen.
- 26. Die Bundesregierung wird gebeten, in den weiteren Verhandlungen darauf hinzuwirken, dass den konkreten Auswirkungen des demografischen Wandels im Bereich städtischer Gebiete zukünftig mit EU-Strukturfondsmitteln begegnet werden kann. Notwendige Aufwendungen für die Anpassung der technischen und sozialen städtischen Infrastruktur müssen hierbei ebenfalls Berücksichtigung finden.
- 27. Die strategischen Leitlinien der EU-Strukturpolitik müssen den Mitgliedstaaten und Regionen im Rahmen der Operationellen Programme entsprechend ihrer unterschiedlichen Betroffenheit vom demografischen Wandel flexible Antworten und regional angepasste Lösungen der damit verbundenen Herausforderungen ermöglichen.
- 28. Der Bundesrat weist darauf hin, dass - soweit die Kommission in der Ausdehnung von Antidiskriminierungsvorschriften einen Beitrag zugunsten von Integration und Chancengleichheit von Zuwanderern sieht - eine weitere Ausdehnung der Antidiskriminierungsvorschriften, gerade auch für den Bereich der Vermietung, zu unnötigen, die Investitionsbereitschaft hemmenden Restriktionen führt und die Gefahr birgt, dass die Antidiskriminierungsregelungen sich in der Praxis gegen die betroffenen Personengruppen wenden und der beabsichtigte Schutz dadurch in sein Gegenteil verkehrt wird.
- 29. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, im Grünbuch auch die Folgen des demografischen Wandels auf die Raumentwicklung anzusprechen. Wachstum in Teilräumen wird Schrumpfung in anderen Teilräumen gegenüberstehen. Auch wenn im Bereich der Raumentwicklung ebenfalls generell keine Gemeinschaftskompetenz der EU besteht, weist der Bundesrat darauf hin, dass sich Folgerungen für EU-Fachpolitiken auch aus einschlägigen mitgliedstaatlichen Zielsetzungen der Raumentwicklung ergeben können.